Berlin:
Textilindustrie und Gewerkschaft Textil und Bekleidung (GTB)

Materialien zur Analyse von Opposition

Von Jürgen Schröder, Berlin, 7.1.2013

Aus dem Bereich der Gewerkschaft Textil und Bekleidung (GTB) bzw. der Textilindustrie in Berlin können hier bisher nur wenige Hinweise erschlossen werden. Separate Beiträge liegen bisher vor für die ARWA Strumpffabrik in Berlin-Tempelhof und die Bandweberei Brüder Homberg in Berlin-Spandau.

Einleitend für diese wie immer unvollständige Darstellung wird die Textilindustrie vom SDS Berlin in als relevant für die Agitation ausländischer Arbeiter erachtet, was bis dahin allein bei der ARWA Strumpffabrik geschehen war.

In der Jugendgruppe der GTB Berlin ist offenbar die trotzkistische Spartacus-Gruppe aktiv (vgl. 2.11.1969), weitere Berichte über Verschärfung des Arbeitstempos durch MTM sowie eine Stillegung kommen von der KPD (vgl. Apr. 1971, Juni 1971, Apr. 1973, 14.5.1975), die aber vermutlich in der Textilindustrie - jenseits des Konflikts bei der Bandweberei Brüder Homberg nicht direkt aktiv wurde, sondern nur innerhalb ihrer Stadtteilarbeit.

Auszug aus der Datenbank „Materialien zur Analyse von Opposition“ (MAO)

Juli 1969:
In Berlin erscheint vermutlich im Juli die Broschüre "Berichte der Kommission 'Produktion' SS 69" mit dem Abschnitt "2. Bereich 'ausländische Arbeiter'", wobei auch berichtet wird aus von ARWA und aus der Textilindustrie, auf die man sich neben der Elektrobranche konzentrieren wolle.
Quelle: Berichte der Kommission 'Produktion' SS 69, O. O. (Berlin) 1969, S. 10

Berlin_Basisgruppen061


02.11.1969:
In Berlin findet das 13.Plenum von Spartacus - IAfeKJO (vgl. 21.12.1969) statt.

In einem dazu verfaßten Bericht des Lehrlings- und Jungarbeiterarbeitskreises (LJAK) 'Rest', wird angegeben, daß von dessen 21 Mitgliedern 8 Arbeiter und Lehrlinge, 2 Beamte, 1 Unternehmer und 8 Schüler und Studenten seien. Man arbeite u.a. in der Jugendgruppe der GTB.
Q: Spartacus - IAfeKJO-LJAK Rest: LJAK, Berlin o. J. (1969)

April 1971:
Die KPD (vgl. 22.10.1971) berichtet aus einer Berliner Hosenfabrik (vgl. Juni 1971) zur "Ausbeutung der Frauenarbeit" mit Hilfe der folgenden, u.a. den April behandelnden:"
KORRESPONDENZ EINER NÄHERIN
MTM - 'MÖRDER TÖTEN MENSCHEN'

Ich arbeite in einer Westberliner Hosenfabrik als Näherin. Unsere Hosen werden in der Hauptsache von einer großen Kaufhauskette verkauft.

Gelernt habe ich Schneiderin. Ich hatte mich darauf gefreut, nach meiner dreijährigen Lehrzeit Kleider schneidern zu können. Trotz meiner abgeschlossenen Lehre war mein Stundenlohn in der Schneiderei so niedrig, daß ich mich nach einer Akkordarbeit umsehen mußte. Den meisten unverheirateten Schneiderinnen geht das so. Was nützt mir meine Lehre, wenn ich meinen Beruf wegen dem geringen Lohn nicht ausüben kann?

Ich ging in die Hosenfabrik als Näherin, diese Arbeit hat nicht mehr viel mit meinem Beruf zu tun, für diese einfachen Handgriffe brauchte ich keine Ausbildung.

Zuerst hatten wir noch das einfache Akkordsystem, es war schon schwer genug für uns, doch den Kapitalisten reichte der Profit noch nicht, sie wollten noch mehr, deshalb führten sie im April 1971 das MTM-System bei uns ein.

Durch das MTM-System wurde die Arbeitshetze noch weiter gesteigert. Jeder Handgriff ist durch Bewegungsstudien genau festgelegt, jede Arbeitsbewegung wird uns genau vorgeschrieben, jede Bewegung hat ihre genau errechnete Zeit, die in hundertstel Sekunden gemessen wird.

Wenn ich jetzt den pausenlos zu wiederholenden Arbeitsvorgang beschreiben will, merke ich, daß ich den schon völlig automatisch durchführe. Wenn ich aufschreibe: Hose vom Hängewagen nehmen, Reißverschlußnaht durchsteppen, Hosen rausnehmen, anders einlegen, Hosentasche einnähen, Hosentasche auf die andere Seite wenden, Taschennaht auf Naht legen, Taschenpaspel festnähen - dann ist das nur die Aufzählung der 500 mal täglich wiederholten Arbeitsgänge. Was mir viel deutlicher im Gedächtnis ist, sind bestimmte kleine Handgriffe, bei denen ich weiß, daß ich jedesmal Zeit verliere: z.B. der Wechsel vom Reißverschluß zur Hosentasche, da ich an dieser Stelle immer ein paar mal nachfassen muß, verliere ich da immer Zeit, das bedeutet, daß ich mich regelmäßig vor solchen Zehntelsekunden verkrampfe. Wenn ich einmal zehn solcher kritischer Punkte in jedem der sieben aufgezählten Arbeitsgänge rechne, dann heißt das bei 500 Hosen: 500 mal 7 mal 10, dann heißt das 35 000 mal Verkrampfung, 35 000 mal die gleiche nervliche Belastung!

Dieses Arbeitssystem ist unmenschlich, es macht Menschen zu Maschinen. Die notwendigen Ausgleichsbewegungen, die der menschliche Organismus dringend braucht, können wir nicht mehr ausführen, wenn wir unseren Akkord schaffen wollen.

Oft müssen wir noch zusätzliche Handgriffe machen, z.B. einen Schlitz weiter einschneiden, den die Kollegin beim Zuschneiden nicht geschafft hat. Dafür geht uns dann Akkordzeit verloren, machen wir die zusätzliche Arbeit nicht, so schimpft der Bandaufseher. Jede Hosensorte ist anders, doch unser Akkordsatz ist immer der gleiche.

Mit der Einführung des MTM-Systems wurden die Akkordsätze erhöht, die alten Akkordsätze entsprechen etwa 70% des heute geforderten Solls. Wenn wir diese 70% schaffen, so bekommen wir unseren Stundenlohn (von 5,25 DM), schaffen wir mehr als 70% so bekommen wir nach Leistung gestaffelte Prämien (Erfüllen wir das Soll mit 100%, so bekommen wir einen Stundenlohn von 6,50 DM). Doch um die 70% zu schaffen, müssen wir schon auf unsere drei Minuten Toilettenzeit, die uns zu pro Stunde zustehen, verzichten, die Prämie schafft kaum einer, dazu ist der Akkordsatz viel zu hoch angesetzt. Will ich 70% meines Solls schaffen, so muß ich pro Tag an 500 Hosen den Reißverschluß und die Tascheneinlage absteppen.

Doch Menschen sind keine Roboter, deshalb bekommen wir entzündete Handgelenke, alle Frauen sind nervös, ihr Familienleben leidet darunter, viele haben schon Kreislaufstörungen. Lange kann diese Arbeit keine durchhalten, nach ein paar Jahren hat man sich kaputt gearbeitet, man kann den Akkord nicht mehr schaffen und wird entlassen. Der Kapitalist stellt dann neue Arbeiterinnen ein, die sich noch nicht so verausgabt haben wie wir, doch nach ein paar Jahren werden auch sie den Akkord nicht mehr schaffen und entlassen werden.

Wir sagen deshalb, die Abkürzung MTM bedeutet Mörder töten Menschen.

Jeden Tag geht der Meister mehrmals durch die Abteilungen und fragt jeden von uns ob wir die 70% des Arbeitssolls erfüllt haben; wenn wir es nicht geschafft haben, fängt er an zu schimpfen, er schreit dann immer: 'Schneller arbeiten, die Hosen müssen raus!' Jeden Tag wird das Soll am schwarzen Brett angeschlagen, es erhöht sich ständig.

Für den Betrag von 0,80 DM pro Tag, der uns gleich vom Lohn abgezogen wird, bekommen wir einen Fraß serviert, der von der Geschäftsleitung als Mittagessen bezeichnet wird. Meist ist es Eintopf, Fleisch gibt es selten, und wenn es schon Fleisch gibt, so ist es so unappetitlich, daß man es kaum herunterwürgen kann. Von diesen kleinen Portionen wird bei der schweren Arbeit keiner satt. Von den Herren der Geschäftsleitung hat noch keiner diesen Fraß gegessen.

Am Monatsanfang müssen wir uns entscheiden, ob wir das Mittagessen haben wollen. Wenn wir in der Kantine 'Mittagessen' haben wollen, so müssen wir den ganzen Monat an jedem Arbeitstag das Essen nehmen, d.h. bezahlen, egal was da 'serviert' wird, ob wir das essen wollen oder nicht."
Q: Rote Fahne Nr. 28, Berlin 22.10.1971, S. 9

Juni 1971:
Die KPD (vgl. 22.10.1971) berichtet aus einer Berliner Hosenfabrik (vgl. Apr. 1971):"
Im Juni dieses Jahres hatten wir eine Betriebsversammlung (BV,d.Vf.). Ein Gewerkschaftsfunktionär trat auf und prangerte das MTM-System an, er sagte, daß diese Arbeitshetze unmenschlich sei. Doch der Vertreter der Geschäftsleitung ließ sich nicht beeindrucken. Es genügt nicht, dieses verfluchte Akkordsystem nur mit Worten anzugreifen, wir müssen uns zusammenschließen und dafür kämpfen, daß es wieder abgeschafft wird. Wir dürfen uns nicht weiter auf unseren Betriebsrat verlassen, denn der arbeitet eng mit der Geschäftsleitung zusammen. Er hat nie unsere Interessen, sondern immer die der Geschäftsleitung vertreten. Was ist denn das für ein Betriebsrat, der seine Hauptaufgabe darin sieht, im Auftrag der Geschäftsleitung alte Stühle und fehlerhafte Männerhosen zum halben Preis an die Kolleginnen zu verkaufen. Bei dieser schweren Arbeit brauchen wir einen Betriebsrat, der sich für unsere Interessen einsetzt, der der Geschäftsleitung die Zähne zeigt - und keine Hosenverkäufer. Wir, die Kolleginnen, müssen dem Betriebsrat auf die Finger sehen, von ihm Rechenschaft fordern, ihn wissen lassen, daß er nur Betriebsrat bis zur nächsten Wahl ist.

Kolleginnen, wir alle sind auf einen Arbeitsplatz in der Nähe der Wohnung angewiesen, weil wir nach Feierabend noch Kinder und Haushalt versorgen müssen und durch lange Fahrerei nicht unseren kurzen Feierabend verkürzen wollen. Aber wir selbst sind es, die für unsere Interessen kämpfen müssen: Sorgen wir dafür, daß unser Betriebsrat nur bis zur nächsten Wahl (BRW,d.Vf.) Betriebsrat bleibt!"
Q: Rote Fahne Nr. 28, Berlin 22.10.1971, S. 9

April 1973:
In Berlin wird, laut KPD, bei dem Damenoberbekleidungsbetrieb Kausch und Co (Bereich der Gewerkschaft Textil und Bekleidung - GTB) Mitte April die Zentrale auf dem Kurfürstendamm geschlossen und in das Werk in der Schlesischen Straße in Kreuzberg überführt, wo u.a. Ausländer, u.a. Türkinnen arbeiten.
Q: Rote Fahne Nr. 24, Dortmund 13.6.1973

14.05.1975:
In der Nr.19 ihrer 'Roten Fahne' (RF - vgl. 7.5.1975, 21.5.1975) berichtet die KPD u.a. aus Berlin über das Handwerk, u.a. das Textilhandwerk (GTB-Bereich).
Q: Rote Fahne Nr. 19, Köln 14.5.1975

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