Vesper - Schülerzeitung, Jg. 2, Nr. 10, o. J. (1970)

29.06.1970:
In Groß Gerau erscheint spätestens heute die Nr. 10 der Schülerzeitung 'Vesper' (vgl. 4.5.1970) mit einem Umfang von 20 Seiten u.a. am Prälat Diehl Gymnasium (PDG) und der Kreisberufsschule (KBS). Dies ist die letzte uns bisher bekanntgewordene Ausgabe. Die Auflage beträgt 700 Exemplare.

Vom Redaktionskollektiv werden nicht mehr die Mitglieder aufgeführt, sondern es wird nur bekanntgegeben:"
Das Redaktionskollektiv setzt sich aus Berufsschülern, Gymnasiasten und freien Mitarbeitern zusammen.

In eigener Sache heißt es:"
Die Vesper wird so gut, wie die Schüler sie machen! Unser Redaktionskollektiv ist von Euren Informationen abhängig! Nur Ihr könnt die Vesper zu einer Zeitung machen, die allen Leser aktuelle Informationen bietet. Ihr wißt selbst, daß viele miese Pauker nur deswegen so überheblich und autoritär auftreten können, weil ihnen die Noten die Möglichkeit bieten, sich immer durchzusetzen, selbst wenn sie im Unrecht sind. Jetzt könnt Ihr Euch endlich durch die Vesper gegen solche Typen zur Wehr setzen. Schreibt sofort Protokolle, wenn Eure Lehrer Euch ungerecht behandeln oder autoritäre und faschistische Äußerungen von sich geben. Dies ist die einzige Möglichkeit um den Druck dieser Lehrer zu brechen!"

Genau solche Berichte finden sich denn auch mehrere vom PDG, einer von der Johannes Angelus Schule und auch ein Artikel "Mißstände an der KBS" beginnt:"
In der Kreisberufsschule gibt es einige sehr autoritäre Lehrer."

Eine Anzeige wirbt für den Arbeitskreis Kriegsdienstverweigerung (AK KDV) Groß Gerau, der Beratungen zur KDV durchführt. Dem selben Thema widmet sich auch ein Artikel "Praktisches über Kriegsdienstverweigerung".

In "Berufsschüler dürfen keine Sexualität haben" wird auf die Strafen für unerlaubte Körperlichkeit während der Pausen und Freistunden eingegangen und gefolgert:"
Die Lehrer versuchen uns zu nicht kontaktfähigen seelischen Krüppeln zu erziehen, im Geiste der Großväter und das nur, weil es ein paar Leuten nicht in den Kram paßt, daß es ihre antiquierte Welt nicht mehr gibt, sie in unsere, in die neue Welt nicht mehr hineinpassen!"

Weiter befaßt man sich satirisch mit der Kirche und mit dem örtlichen Freibad. Die Serie zur "Aufklärung" wird fortgesetzt.

Über den Verkauf der 'Vesper' am PDG berichtet die Projektgruppe Schule der Roten Zelle Groß Gerau (ROTZEGG) in ihrem 'Info' (vgl. Juli 1970):"
Die Tatsache, daß der stellvertretende Direktor Jung am Montag, den 29.6.1970 16 Exemplare der Vesper Nr. 10 mit den Worten: 'Ich beschlagnahme diese Zeitungen, Herr Adamiak, sie sind mein Zeuge!' sicherstellte und offiziell ein Verkaufsverbot aussprach, zeigt deutlich, daß der mit allen Mitteln verschleierte Konflikt zwischen dem reaktionären Teil der Lehrerschaft und den Schülern, der Masse der Schülerschaft nicht durch differenzierte politische Argumentation, sondern nur durch relativ unsachliche Angriffe auf die autoritären Methoden einzelner Lehrer bewußt gemacht werden kann. Nachdem dieser Konflikt nun offen ausgebrochen ist, ergibt sich für den bewußten Teil der Schülerschaft die Aufgabe, die bisherigen Ereignisse kritisch zu verarbeiten und Konsequenzen für die Praxis zu ziehen. Dazu ist es nötig, die Ereignisse der letzten Tage kurz darzustellen, um den Schülern ein selbständiges Urteil zu ermöglichen.

Am Montag den 29.6.1970 waren bereits 250 der 700 Exemplare verkauft, als der Vertrieb auf dem Schulgelände untersagt wurde. Das Verbot begründete der Direktor dem Vesperkollektiv gegenüber in einem ersten Gespräch mit dem Fehlen der Namen der verantwortlichen Redakteure im Impressum. Weiter stellte der Direktor fest, daß die Vesper seit mindestens zwei Ausgaben keine Schülerzeitung mehr sei, da, wie er behauptete, der Verkauf der Vesper nicht mehr offiziell auf dem Schulgelände stattgefunden habe. Er führte weiterhin als Rechtfertigung für seine Behauptung an, daß im Redaktionskollektiv auch freie Mitarbeiter tätig sind. In einem zweiten Gespräch vor einem Teil der Schülerschaft wiederholte er diese 'Argumentation'. Es stellt sich jetzt die Aufgabe, durch eine Analyse des Vesperstils bzw. Inhaltes, sowie seine Änderung in den letzten beiden Ausgaben, im einzelnen aufzuzeigen, durch welche Methoden die Reaktion gezwungen werden kann, ihre Verschleierungstaktik aufzugeben und ihr wahres Gesicht zu zeigen. Die Schülerzeitung Vesper begriff sich lange Zeit als rein politische Zeitung und brachte dementsprechend im wesentlichen nur rein politische Artikel. Diese Artikel hatten zwar oft einen der Meinung von vielen Lehrern nicht entsprechenden Inhalt, doch wurden sie von dem Inhalt nicht viel berührt, da sich auch die Masse der Schülerschaft nicht weiter um den Inhalt der Zeitung kümmerte. Als nun in der vorletzten Vesper fast nur die Schule betreffende Artikel standen, gab es unter den Lehrern große Aufregung, denn nun sahen sich viele persönlich, in ihrem Unterrichtsstil und ihrem allgemeinen Verhalten angegriffen. Diese Tendenz verstärkte sich in der letzten Ausgabe der Vesper noch erheblich. Die Artikel griffen oft in Form von Polemik einzelne Lehrkräfte scharf an, und zeigten anhand von bestimmten Ereignissen klar deren autoritäres bzw. deren völlig unpädagogisches Verhalten auf. Die Reaktion dieser Lehrkräfte konnte nur sein, den sich anbahnenden Konflikt, der ihre fragwürdigen Unterrichtsmethoden entlarvt hätte, dadurch zu beenden, daß sie den weiteren Verkauf der Vesper untersagten. Man zog sich zunächst auf rein formale Rechtfertigungen für das Verbot zurück, um sich bei einer Argumentation gegen den Inhalt nicht in Widersprüche zu verstricken. Die Absicht, die hinter dem Verkaufsverbot stand, ist also klar: Einige Lehrer sehen sich in ihrer ohnehin fragwürdigen Autorität angegriffen, und mußten feststellen, daß die Vesper sehr wesentlich am Abbau ihrer Autorität beteiligt war, in dem sie ihre Fragwürdigkeit anhand von Beispielen für jeden klar erkennbar darlegte. Um weiterhin auf ihrem Unterrichtsstil und ihren Methoden beharren zu können, war es für diese Lehrer notwendig, den Zerfall ihrer Autorität zu stoppen; um dies wirkungsvoll erreichen zu können, mußte als erstes etwas gegen die Vesper unternommen werden. Daraus folgt auch, daß alle offiziell gegen die Vesper ergriffenen Maßnahmen nur zur Verschleierung des wahren Sachverhalts dienen. Das Versehen der Redaktion, nämlich im Impressum keine Namen zu nennen, kam daher der Schulbürokratie nur gelegen, sie hatte so einen billigen Vorwand, um gegen die Zeitung vorgehen zu können. Die Einschaltung des Regierungspräsidiums in Darmstadt, mit dem Ziel, die Vesper zumindest auf Zeit zu verbieten, dient offensichtlich dazu, den innerschulischen Konflikt aus der Schule hinaus den Bürokraten zu übertragen und so eine Grundsatzdiskussion über Pädagogik zu verhindern. Denn den reaktionären Lehrern ist an der Vermeidung dieser Diskussion, in die dann selbstverständlich auch die Schüler miteinbezogen würden (bzw. sich einschalten würden) sehr viel gelegen, da sie in keiner Weise daran interessiert sind ihren Unterrichtsstil aufzugeben, wozu sie im Laufe einer solchen Diskussion vielleicht gezwungen werden könnten. … Es geht jetzt hauptsächlich darum, den Konflikt nicht in schlichtender Weise beizulegen, sondern in seiner vollen Breite auszutragen. Bei geschicktem Vorgehen dürfte dann durch die Diskussion eine Aktivierung und Politisierung von zumindest einem Teil der Schülerschaft möglich sein."
Q: Vesper Nr. 10, Groß Gerau o.J. (29.6.1970); ROTZEGG-PG Schule: Info Nr. 1, Groß Gerau 1970, S. 3ff

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