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Zur Geschichte der KPD/ML-Zentralbüro

Kapitel 1 bis 7

Von Dietmar Kesten, Gelsenkirchen


Kapitel

  1. Einleitung
  2. „Roter Morgen“ - „Revolutionärer Weg“
  3. Das Gerangel um die Bochumer Betriebsgruppe (B I)
  4. Die Berliner Ruhrkampagne
  5. Die Bochumer Vietnamdemonstration
  6. Die Zeitung „Proletarische Linie“
  7. Hauptseite Theorie - Hauptseite Praxis

1. Einleitung

Als sich im März 1973 die KPD/ML-Zentralbüro (1) auflöste, war damit auch der alte Streit in der Intellektuellenfrage, der Frage nach einer „Hauptseite Theorie - Hauptseite Praxis“, die Frage ob Bund oder Partei beim Parteiaufbau in gewisser Weise gestorben, der teilweise die alten Grabenkämpfe zwischen den verfeindeten Organisationen KPD/ML-ZK, KPD/ML-Zentralbüro und KPD/ML-Revolutionärer Weg, bestimmte, von dem aber auch fast alle nachfolgenden Mao Gruppen (2) in der damaligen BRD mehr oder weniger betroffen waren, Plakat: Rote Fahne. Die Stimme der Arbeiterklasse und der sich selbst noch zu Beginn der 80er Jahre in diversen ideologischen Streitigkeiten etwa zwischen der Alten Hauptseite Theorie (Bochum) und der Gelsenkirchener und Frankfurter Neuen Hauptseite Theorie (3) widerspiegelte. Mit dieser Frontstellung waren auch andere Fragen, die die Organisationsvorstellungen, den Parteiaufbau (demokratischer Zentralismus), die Frage des revolutionären Subjekts, und wie der Weg zum Sozialismus führt, betrafen, geboren, die den märchenhaften Aufstieg der westdeutschen marxistisch-leninistischen Gruppen, eingebettet in die westdeutsche Arbeiterbewegung, die mit den Septemberstreiks von 1969 (4) ihren eigenen Mythos bereits zu ihren Lebzeiten in die Trümmerlandschaften des globalisierenden Kapitalismus stellte, und dem Auseinanderbrechen der spontanen Studentenbewegung von 1968/69, begründeten.

Straff, nach leninistischem Vorbild und nach Kaderprinzipien des bulgarischen Kommunisten Georgi Dimitroff (5) organisiert, sollte sie sein, die revolutionäre Partei, um ein Zentralkomitee, ein Zentralbüro oder zentrale Leitung herum aufgebaut; mit einer revolutionären Theorie gewappnet, die mit einer revolutionären Praxis einhergehen sollte. Chinas Rote Garden und die Große Proletarische Kulturrevolution der KP Chinas unter ihrem Steuermann, Mao Tsetung, mögen für ein Avantgardekonzept Pate gestanden haben. Die Roten Garden mit ihrem autoritären Zentralismus und ihrer anarchistischen Ideologie waren unbestritten Vorbild, die in sich aber nur die abstrakte Form einer Wiederholung der chinesischen Parteibürokratie war, und außer der Schändung von Kulturgütern und einem überzogenen Terror gegen die Bourgeoisie in den eigenen Reihen nichts wesentliches zum chinesischen Weg in die Moderne beitrug.

Es waren eben diese Roten Garden, die in Westdeutschland (6) zum Ende der 60er Jahre für Furore sorgten, und die dann im Schlepptau der emsig um sie werbenden KPD/ML, wie „Pilze aus dem Boden schossen“. (7) An dieser mitunter radikalsten Bewegung der damaligen BRD, wenn von der späteren terroristischen RAF (8) einmal abgesehen wird, knüpfte die KPD/ML an, die sie als Rekrutierungsfeld ansah, und die mit dazu beitragen sollte, politische, ideologische und organisatorische Differenzierungen einzuleiten, um ihren Vorstellungen einer deutschen Revolution Nachdruck zu verleihen.

Aus welchen Gründen sich ab Mitte bis Ende 1969/Anfang 1970 in vielen Ruhrgebietsstädten, u. a. in Essen, Gelsenkirchen, Bochum, Wattenscheid, Herne, Recklinghausen, aber auch in Hamburg, Hannover und anderswo Rote Garden mit mehrheitlicher Lehrlings- und Schülerbeteiligung herausbildeten, mag letztlich nicht mehr zu klären sein. Eine schlüssige Beantwortung dieser Frage müsste den Nachweis erbringen können, weshalb die Maoisten auf den Trümmern der Studentenbewegung ihre Marxistisch-Leninistischen Organisationen stellten, und warum es die Jugendorganisation der KPD/ML war, die in den ersten Monaten 1970 das „Hauptquartier zu bombardieren“ gedachte? Zu einfach erscheint die Betrachtung, dass dies deshalb so war, weil die „deutschen Revolutionäre“ eine „marxistisch-leninistische Partei“ benötigten, die in der Tradition von „Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao Tsetung“ stand, die in sich „die bewusstesten revolutionären Kräfte der Arbeiterschaft und der Intelligenz“ vereinigte, sich entschieden vom „modernen Revisionismus abgegrenzt’ hätte“, und weil die „KPD/ML die Avantgarde des Proletariats“ ist. (9); oder weil die Spaltung ins „revisionistische oder antirevisionistische Lager“, wie es etwa in der RPK Grundsatzdebatte vom Dezember 1969 (10) zum Ausdruck kam, längst überfällig war. Ein Ansatz von vielen in dem weltweiten Aufbegehren von jugendlichen Rebellionsbewegungen mag indes gewesen sein, im individuellen Antiautoritarismus für sich zunächst eine Chance zu sehen, gesellschaftlich dominante und relevante Felder, die bisher von den Altvorderen besetzt waren, für sich zu reklamieren, und da mögen die chinesischen Roten Garden eines dieser Vorbilder gewesen sein, von denen man annahm, dass sie überkommene Vorstellungen kritisierten und über nennenswerten ideologischen und politischen Einfluss verfügten.

Die chinesische Kulturrevolution als Erneuerungsbewegung der kommunistischen Weltbewegung zu betrachten, die, was erst später bekannt werden sollte, allenfalls ein Hort der Machtkonzentration und der gewaltbereiten Diktatur der Parteibürokratie war, und in ihrer Tradition stehend, das Rote Buch, das in Westdeutschland u. a. vom Berliner SDS vertrieben wurde, das man schwenkte, und von der „Großen Polemik“ (11) profitierend - damit waren jene politischen und organisatorischen Fragen geboren, die in der theoretischen Abgrenzung vom sog. modernen Revisionismus, für den der XX. Parteitag der KPdSU (1956) stand, auf dem Chruschtschow in seinem Geheimbericht heftigste Angriffe gegen den von den Maoisten verehrten Stalin (12) richtete, und der als Ausgangspunkt für den Konflikt zwischen den russischen und den chinesischen/albanischen Kommunisten angesehen werden darf, gipfelten, und der von nun an eigenständig propagierten marxistisch-leninistischen Kaderpartei, die man der revisionistischen Entartung von den mit der KPdSU sympathisierenden Parteien wie etwa der DKP, entgegensetze, zum Ausdruck kam. Die Deklaration der Moskauer Beratungen vom November 1957 (13) trug ebenso wie die um formelle Zulassung bettelnde KPD (14) in Westdeutschland dazu bei, den Bruderzwist zu verschärfen, den die chinesischen Kommunisten u. a. mit ihrer ab September 1964 in deutscher Sprache herausgegebenen Zeitschrift „Peking Rundschau“ forcierten.

Die KPD/ML sollte sich somit zwangsläufig mit zwei großen Bollwerken der Ideengeschichte der modernen Entartung, wie sie meinte, auseinandersetzen: zum einen mit eben diesem „modernen Revisionismus“ (15), aber auch vom dem nicht weniger einflussreichen Antiautoritarismus der Jugend- und Studentenbewegung, (16) wenn sie als eigenständige Organisation überhaupt eine Überlebenschance für sich zu reklamieren gedachte. Ob das als „Ergebnis der bundesdeutschen Protestbewegung“ (17) festgeschrieben werden kann, ist zweifelhaft. Richtig daran ist, dass die Maoisten der ersten Stunde auf einen (erheblichen)Teil des studentischen Protestes, weniger aber auf Reste der alten KPD, die wohl ihre Heimat in DFU, ADF sahen, und sich mit der Gründung der DKP (18) auch mit ihr verbrüderten, Einfluss ausübten, und die Sichtweise, die KPD/ML als Studentenpartei der ersten Stunde zu bezeichnen, ist sicherlich nicht falsch. Zu Sylvester 1968 (19) konstituierte sich dann in Hamburg die KPD/ML, die sich als bewusster Gegenpol zur Deutschen Kommunistischen Partei verstand. Offensichtlich lag es in der Absicht der Gründer, in der Frage zu der Haltung der sozialistischen Länder die Differenz ihrer Partei zu anderen linken Gruppierungen deutlich zu markieren.

Der Gründungsakt unter der Federführung von Ernst Aust (20) hatte dann auch einen gewissen Modellcharakter, an den sich fast alle nachfolgenden Organisationen in der BRD orientierten. Zwar hielten die einen, die Gründung für verfrüht, andere, wie etwa Willi Dickhut, der aus der alten KPD kam, Leiter des Redaktionskollektivs „Revolutionärer Weg“ und später in der MLPD aktiv, meinten, dass erst die „ideologischen, politischen und organisatorischen Voraussetzungen“ geschaffen werden müssen (21) um dann die Kaderpartei zu konstituieren, wieder andere, wie etwa das spätere Neues Rotes Forum (22) einer der Vorläuferorganisationen des KBW, vertraten die Auffassung, dass erst die intensive Diskussion um eine Plattform und die praktische Zusammenarbeit der dem NRF nahestehenden Gruppen, den Gründungsprozess klären könne, der dann später den KBW (23) aus der Taufe heben sollte.

Selbst die Vorläufer der KPD (ehemals KPD/AO), die sich zu Anfang aus Resten des ehemaligen Westberliner SDS rekrutierte, und die unter der Führerschaft von Christian Semler, Jürgen Horlemann Peter Neitzke, Wilhelm Jaspers u. a. schnell marxistisch-leninistische Zirkel vor allem in Westberlin, aber auch in anderen Landesverbänden bildeten und Einfluss gewinnen konnten (obwohl sie im wesentlichen in Westberlin ihr Domizil in Westberlin hatte), erklärten schon auf der RPK Arbeitskonferenz vom 6./7. 12. 1969 in ihrem Papier „Die erste Etappe des Aufbaus der Kommunistischen Partei des Proletariats –Thesen“, dass die „Schaffung der bolschewistischen Partei um ein politisch führendes Zentralorgan“ herum zu beginnen habe. (24) Modellcharakter also insofern als dass es immer um irgendeine Zentrale ging, die sich von ihrem Selbstverständnis her mal als „proletarisch“, als „marxistisch-leninistisch“, mal als „klassenanalytisch“, „anarchosyndikalistisch“ oder „trotzkistisch“ begriff, in der Regel um eine Zeitung, oder einen „proletarischen Kern“ herum aufgebaut.

Das kommende Zentralbüro der KPD/ML interpretierte diese Sichtweise eigentlich wie alle anderen auch, streng zentralistisch, nur mit dem Unterschied, dass es von vornherein unter einem selbst auferlegten Legitimationszwang stand, mit dem es sich von anderen Gruppen aber kaum generell absetzte, ihn nur im Sinne Lenins „die unmittelbare praktische Führung de Bewegung aber kann nur in den Händen einer besonderen zentralen Gruppe liegen“ (25) entschiedener und selbstverständlicher interpretierte. Selbst der Tübinger Kommunistische Arbeiterbund/Marxisten-Leninisten, (24) die Revolutionäre Jugend/Marxisten-Leninisten (26) oder der Arbeiterbund für den Wiederaufbau der Kommunistischen Partei Deutschlands (27) machten da keine Ausnahme. Der KAB/ML, der für die ‘proletarische Fraktion’ bei der Spaltung der KPD/ML-Zentralbüro stand, und mit dem sich Willi Dickhut und andere, mangels Masse später anfreunden konnten, war nichts anderes als diese patentierte Lösung, in der Kontinuität der Kommunistischen Arbeiterbewegtheit zu stehen.

Für ein politisches Subjekt war im westdeutschen Kapitalismus wenig Platz. Eben sowenig für eine radikale Gesellschaftskritik. Die KPD/ML beharrte jedoch bereits bei ihrer Gründung auf jene bizarren Standpunkte, die auf oberflächliche und irrationalen Gesellschaftsanalysen gründeten. Im „Roten Morgen“ vom Oktober 1969 hieß es etwa: ... “ die Arbeiterklasse muss ihren ökonomischen Kampf in einen bewusst geführten Klassenkampf verwandeln.“ (28) Damit schob sie jede Verantwortung auf das System selbst zurück, das andere kontrolliert und ausbeutet. Und sie begriff die Lohnabhängigen in der Praxis als jene Masse, die an den systemspezifischen Dimensionen des Unwohlseins in der modernen Gesellschaft partizipieren könne, indem sie kurzerhand selbst mit den gesellschaftlichen Krisenlösungen betraut wurde. Eine theoretischen Untersuchung sozialer Bewegtheit firmierte nur unter dem Schlagwort ‘Reform oder Revolution’, und das konnte unter diesen Bedingungen nur heißen, dass selbst die Unterordnung unter den Leistungsdruck in den Betrieben, verschärfter Konkurrenzkampf auf dem Arbeitsmarkt etc. die Unterwerfung unter den Kapitalismus der Moderne einschloss. Das schien niemand begreifen zu wollen, und auch nicht, dass es das Subjekt der gesellschaftlichen Umgestaltung, so wie es die KPD/ML bereits kurz nach ihrer Gründung zum Ausdruck brachte, nicht geben sollte.

Die Maoisten stellten bereits spätestens hier die Weichen für ihre Selbstauflösung. Doch sie wollten der tödlichen Falle Kapitalismus entgehen, nicht nur durch die Propagierung von Krisenlösungen, die sie auf alles anwandten, sondern auch durch eine revolutionäre Dynamik, die sie entfalteten, um ihrer Perspektive der kollektiven, sozialen Emanzipation ein Stück näher zu kommen. In Wirklichkeit war ihr Weg der von selbsternannten Avantgarden, fragwürdigen Schulterschlüssen und Konzepten, wie sie etwa etwas später in den Marxisten-Leninisten Deutschlands (29) Entsprechung fand. Lebensstile des Arbeiterbewegungsmarxismus wurden kolportiert; individuell erfahrene Missstände zum Maßstab für politische Unverwundbarkeit genommen. Dies einmal zur Gewohnheit gemacht, war der Weg für linke Politik für alle Zeiten abgesegnet. Kaum jemand sah zu Beginn der 70er Jahre, dass breite Konfliktfelder in der Moderne aufgetaucht waren, etwa die Widersprüche zwischen Technik und Natur, Maschine und Mensch, Ökonomie und Ökologie, drohende Umweltkatastrophen etc., die sich nicht so einfach mit dem herkömmlichen Gegensatz zwischen ‘Kapital und Arbeit’ lösen ließen.

Als soziale Klasse hatte jene Arbeiterklasse, die man mit allen möglichen Etiketten umwarb bereits dermaßen abgewirtschaftet, dass sie die Konfrontation mit ihrer eigenen Geschichte schlicht ignorierte. Einen kollektiven, organisierten Widerstand gegen den Kapitalismus, gegen Staat und Wirtschaft gab es nicht. Es gab auch keine Gesellschaftsfähigkeit anderer Klassen. Die, die sich für solche hielten, machten keine nennenswerte Bewegung zu Anfang der 70er Jahre aus. Die KPD/ML setzte trotzdem auf sie und schrieb bereits sehr früh: „Verbündet euch mit den breiten Massen der Bevölkerung ... . diskutiert in den Betrieben, in der Gewerkschaft ... “. (30) Die Isolation war perfekt. Der eigentliche potentielle Partner für gute zwei Jahrzehnte war gefunden. Nun ging es nur noch darum, eine Strategie zu erarbeiten, nach der die Unumstößlichkeit der revolutionären Klasse, eingebettet in einer milderen Form des Kapitalismus eingefordert werden kann. Dieser hatte den Typus des modernen Industriearbeiters einst zu einer historischen Figur werden lassen, der sich mit der fortschreitenden Industrialisierung nicht mehr als Sklave begriff und Paria gegen die Gesellschaft stellte, sondern er fühlte sich als Konsument zu ihr gehörig.

Mit dem späteren Aufkommen der grünen Bewegung zum Ende der 70er Jahre, war die Abkehr vom gesellschaftlichen Subjekt mehr als nachhaltig untergraben. Das als extremes Stadium der Entfremdung zu begreifen zu wollen, oder einfach als Bruch mit der Tradition, ruft heute nicht mal mehr ein müdes Lächeln hervor. Tatsächlich brachte die Ökologiebewegung einen neuen gesellschaftlichen Konsens hervor, der mit den alten, von den Maoisten aufgeworfenen Fragen, überhaupt nichts mehr zu tun hatte. Der spätere Schulterschluss dieser Bewegung mit der SPD und führenden Vertretern der deutschen Wirtschaft stand ganz im Zeichen der Logik des Kapitals und hievte auch eine Fülle neuer Kapitalstrategien an die Oberfläche, in denen die Arbeiterbewegtheit keinerlei Rolle mehr spielen sollte. Die klassenübergreifende Sammlung radikaler Kräfte, die sich mit dem Terminus der allgemeinen menschlichen Werte und Ziele bestens anfreunden konnten, konnte zunächst in Stadt- und Bezirksparlamenten, später sogar auf Landesebene, und noch später, potentieller Partner einer rot-grünen Koalition werden, und dann sogar in Amt und Würden gelangen, wie man es etwa an Jürgen Trittin, dem heutigen Umweltminister, oder an dem ehemaligen Frankfurter Häuserkämpfer und heutigem deutschen Außenminister, Joschka Fischer ersehen kann. (31) Ein Beweis dafür, wie begrenzt das Anrennen gegen Kapital und Staat war, wie wenig eine (organisierte) politische Praxis zu Werk brachte, noch mehr: wie schnell die traditionellen sozialen Widersprüche im Kapitalismus aufgehoben und durch andere ersetzt werden.

  

2. „Roter Morgen“ - „Revolutionärer Weg“

Die KPD/ML gehörte ohne Einschränkungen zu den vielleicht wichtigsten Gruppen der alten Linken. Das aus mehreren Gründen: 1. Behielt sie im Streit mit anderen diversen Splittergruppen (32) die Oberhand. 2. War sie mit dem Flair umwoben, eine proletarische Führung zu haben, und im Proletariat verankert zu sein. 3. Erklärte sie sich als erste Organisation zur „Partei des Proletariats“ (33) und konnte infolgedessen andere Gruppen nur immer dazu auffordern, sich ihr anzuschließen. Das sollte im Streit mit dem späteren Zentralbüro von wichtiger Bedeutung sein. 4. Konnte sie auf ein Organ zurückgreifen, dass bereits seit 1961, zwar von der KPD verboten, aber trotzdem ‘legal’ erschien: dem Hamburger „Blinkfüer“, das von Ernst Aust nahtlos in den „Roten Morgen“ überführt wurde. 5. Verstand sie sich als der eigentliche Verfechter der revolutionären Traditionen der KPD in der Weimarer Republik, und versuchte deshalb von Anfang an, zu erreichen, dass die Altgenossen der KPD doch ihre Heimat im Hafen der KPD/ML finden mögen. Georg Fülberth hat in seinem Buch „KPD und DKP 1945-1990“ diesen Werdegang der KPD/ML kurz so zusammengefasst: „Ernst Aust beteiligte sich an der Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten (KPD/ML), die am 31. Dezember 1968 stattfand. Ihr schloss sich auch Willi Dickhut an. Dieser war während des Faschismus im Konzentrationslager gewesen und leitete in den 50er Jahren die Kaderabteilung der KPD. Als im Zusammenhang mit der behördlichen Kommunisten-Verfolgung jener Jahre bei ihm Personal-Unterlagen beschlagnahmt wurden, verlor er diese Funktion und war nur noch erster Kreissekretär in Solingen. Nach dem Verbot lehnte er es ab, sich in den illegalen Apparat einbauen zu lassen. Er trennte sich nach der CSSR-Intervention von der KPD, ging zur KPD/ML und beteiligte sich danach an der Gründung eines ‘Kommunistischen Arbeiterbundes.“ (34)

Der „Rote Morgen“ oder die Antirevisionisten, definierten sich durch folgende gemeinsame Grundlagen: Orientierung auf die Arbeiterklasse, dem eigentlichen revolutionären Subjekt; Aufbau einer wahrhaft marxistisch-leninistischen Kommunistischen Partei, bewaffneter Aufstand (sozialistische Revolution); Zerschlagung der kapitalistischen Staatsmaschinerie, Polemik gegen den Revisionismus in Gestalt der KPdSU und der KPD/DKP. Im „Roten Morgen“ vom Juli/August 1968 lesen sich diese Grundlagen wie folgt: „Doch wenn es gelingt, ausgehend von den bestehenden Verhältnissen, eine richtige marxistisch-leninistische Strategie zu entwickeln, uns eng mit den Volksmassen zu verbinden und dem bis ins kleinste durchorganisierten Unterdrückungsapparat der Herrschenden, die disziplinierte, organisierte Kraft der revolutionären Kräfte entgegenzusetzen, wird es uns gelingen, den Feind zu besiegen.“ (35) Das war eine von den vielen politischen Fehleinschätzungen der KPD/ML, die weder eine theoretische noch soziale Basis besaß, um ihre Unzulänglichkeiten, etwa einer ökonomischen Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse in Westdeutschlands angehen zu können. Ihre bisweilen sogar uninformierten und lebensfernen Ideen, verdeutlichten, wie begrenzt ihr politischer Horizont war. Die praktischen Resultate mussten demnach in einem Desaster nach dem anderen einmünden.

Schon relativ früh erschien vielleicht genau aus diesem Grunde das erste theoretische Organ der KPD/ML, der „Revolutionäre Weg“. (36) Ob er deshalb erschien, um die Scharte der relativen Theorielosigkeit wett zu machen, oder weil es opportun war, dass eine Kommunistische Partei, die zudem noch ‘Vorhut der Arbeiterklasse’ zu sein hat, ein solches Organ benötigt, darüber zu streiten, ist müßig. Einer der Herausgeber dieser Schrift, schrieb damals als Begründung: „Nun musste zügig die Aufgabe angepackt werden, die Partei auf den Marxismus-Leninismus und die Maotsetungideen auszurichten und sich entschieden vom Revisionismus - aber auch vom kleinbürgerlichen Antiautoritarismus und Trotzkismus - abzugrenzen.“ Aus diesem Grund „beschäftigte sich das theoretische Organ der KPD/ML, der „Revolutionäre Weg“ in seinen ersten beiden Nummern mit dem Nachweis der revisionistischen Entartung der KPD.“ (37) Die erste Ausgabe mit dem Titel „Drei Programme -Drei Dokumente des Revisionismus und Opportunismus“ erschien Ende April 1969, Nr. 2 mit dem Titel: „Der Weg zum Sozialismus“, wohl im Herbst des gleichen Jahres. Beide Ausgaben beschäftigen sich mit den Programmatiken der KPD, und drangen in ein kurioses Reich der Theorie vor, dass zum einen schlicht die geschichtliche Hypothek nicht einzulösen vermochte, zum anderen jeden Ansatz nach Fragen der Ursachen von Fehlern einer „revisionistischen Entartung“ unterminierte. Unter Theorie verstand man schlicht eine kastrierte Form des Geisteslebens. Dort, wo man sich mit in der neuen Wirklichkeit nicht zurechtfand, flüchtete sich der „Revolutionäre Weg“ einfach in die Geschichtslosigkeit

An der Herausgabe des „Revolutionären Weges“ war nichts bedeutsam, außer, dass er jene mythische Verbindung mit dem Proletariat entwickelte, die das kommende Zentralbüro dankbar aufnahm, und sein theoretisches Organ „Bolschewik“, im Untertitel „Ehemals Revolutionärer Weg“ nannte, wohl um die unauflösliche Verbindung mit dem Standpunkt der Arbeiterklasse zu verdeutlichen. Der „Revolutionäre Weg“ war mit jener intellektuellen Führungsschicht verbunden, die auch für die eigentlichen Zuträgerarbeiten verantwortlich waren. Man benötigte sie, da es sonst niemanden gab, der ihn hätte schreiben können. Das, was man so gerne verschweigen wollte, dass die kleinbürgerlichen Intellektuellen die eigentlichen Verfasser waren, setzte sich munter von Ausgabe zu Ausgabe fort. Eine proletarische Gegenkultur war wie vieles andere auch, eine reine Fiktion, wie auch jene Loslösung von den ‘kleinbürgerlichen Schlacken’ nichts anderes war, als ein falsch verallgemeinertes Menschenbild, das jene Ohnmacht hervorbrachte, die die überlieferten Bilder einer gerechten und sozialistischen Ordnung vorgaukelten.

Überdies waren die Anleihen an diese gesellschaftliche Schicht unübersehbar. Die kleinbürgerliche Intelligenz, die landauf, landab die selbstgestrickte Partei bevölkerte, tat diesen Schritt in dem Bewusstsein, sich selbst als führende Kraft in der proletarischen Bewegung festzusetzen. Unterschiede gab es mitnichten. Zumindest lässt sich das im Nachhinein für diese Periode feststellen. Der „Revolutionäre Weg“ ließ für abweichende Meinungen Tür und Tor offen; denn in dieser Zeit war die Dialektik der Unerkenntnis ein anerkannter Bestandteil der Mao-Bewegung, die einfach jene philosophischen Sichtweisen übernahm, die ihre Klassiker (Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao Tsetung) vorgebetet hatten. Philosophie, wenn sie überhaupt im Sprachgebrauch auftauchte, wurde exiliert und einfach liquidiert.

Sie stand in guter (schlechter) Tradition mit der Geschichte der KPD, einer unhistorischen Parteilichkeit und metaphysischer Einäugigkeit. Tatsächlich glaubte der „Revolutionäre Weg“, dass bereits ein einfacher Blick in das DKP-Parteiprogramm oder der „Grundsatzerklärung der DKP“ ausreiche, um ihr/ihnen Revisionismus nachweisen zu können, der zudem noch „reformistisch, opportunistisch und sozialdemokratisch“ sei. (38) Dialektik als geniale Verinnerlichung- so in etwa ließ sich die praktische Unmöglichkeit bezeichnen, mit der die revolutionäre Vergangenheit wiederbelebt werden sollte. Kautsky, Bernstein, später in der Ausgabe ‘Antiautoritarismus und Arbeiterbewegung’, Bakunin, Cohn-Bendit, die Neo-Bakunisten, mal Habermas, mal Marcuse erwähnt, um zu zeigen, dass man sich auskenne, das war die Ahnengalerie, die es zu schlagen galt. Dazu genügten jeweils 50 Seiten um die Marxschen Tradition aufrecht zu erhalten.

Die Verbindung mit dem Umdichtungsschema der eigenen Vergangenheit und der Versuch einer Neuinterpretation, die in einen reinen moralisierenden guten (proletarischen) Menschen einmünden sollte, war ein Charakteristikum dieses Organs. Es bestand im wesentlichen nur aus Unklarheiten in Gestalt der Stalinschen Definition des Marxismus-Leninismus, wie sie von ihm etwa in den „Grundlagen des Leninismus“ (39) zum Ausdruck gebracht wurden: die Reduktion der Marxschen Theorie der menschlichen Emanzipation auf die proletarische Betrachtung der Geschichte, vermittels einer Ontologisierung, die die Ziehväter als historische Lehren für die Welt hinterlassen haben. Wo sie dogmatisch rezipiert wurde, konnte sie nur simplizifiert dargestellt werden, entweder als Verabsolutierung oder als Subjektivismus. Beides brach über den ‘Revolutionären Weg’ herein, ohne dass er überhaupt diese Widersprüche entdeckte.

Der „Antiautoritarismus in der Arbeiterbewegung“ trieb den Kampf gegen den „kleinbürgerlichen Intellektualismus“, der sich in Gestalt des Antiautoritarismus zeigen würde, auf die Spitze. Bedeutsam war für ihn, dass eine „kleinbürgerliche Intelligenz“ stets der proletarischen Partei konträr gegenübersteht, und dass sie ihre Existenz der Bourgeoisie verdanke, schon deshalb an der Verewigung des modernen Kapitalismus interessiert sei. Wie naiv das Kapitel abgehandelt war, zeigten dann auch die einleitenden Worte: „Es geht uns darum, einige Grundprinzipien des Antiautoritarismus aufzuzeigen, die bei dem modernen Antiautoritarismus die gleiche Bedeutung haben wie bei dem alten des 19. Jahrhunderts und der Zeit zwischen den Weltkriegen ... Wir werden versuchen, die kleinbürgerlichen Wurzeln freizulegen, wobei das Wort ‘kleinbürgerlich’ keine Herabsetzung bedeutet, sondern als wissenschaftliche Kategorie angesehen werden soll. Wir werden untersuchen, was an der kleinbürgerlich-revolutionären Bewegung nützlich für die Arbeiterklasse sein kann und was ihr schadet.“ (40) Das konnte schlicht als mechanische Bedienungsanleitung für den Klassenkampf interpretiert werden: es gibt verfeindete Klassen des Proletariats, die aber doch irgendwie noch benötigt werden. Dass die Wortwahl „kleinbürgerlich“ später in der Auseinandersetzung um den Weg der KPD/ML dann tatsächlich mehr als eine „Herabsetzung“ wurde, war den damaligen Verfassern vielleicht in der Gänze noch nicht klar.

Es gab neben dem „Revolutionären Weg“ 4/1970 und 5/1970 (41) und der berüchtigten „Warnung - Das trojanisch-trotzkistische Pferd in den Mauern der KPD/ML“, die als Sondernummer 1/1971 vom KAB/ML und der KPD/ML (RW) herausgegeben wurde, kaum eine andere niveaulosere Schrift als „Antiautoritarismus und Arbeiterbewegung“. Die dort geführten Auseinandersetzungen waren jene Allgemeinplätze, die die Inkompetenz der Verfasser zeigten. Für die praktische Politik der KPD/ML hatte sie zudem keine Bedeutung. Besonders gelungen lasen sich die Sätze über Oskar Negt: „Oskar Negt fürchtet wahrscheinlich zu Recht, dass viele antiautoritäre Genossen, die ernsthaft die Revolution wollten, gerade durch diese Tatsache vom Antiautoritarismus zum Marxismus-Leninismus übergehen könnten; und eben das möchte er vermeiden; er sieht seinen Hauptfeind in der KPD/ML.“ (42)

Die These von den „Hauptfeinden der KPD/ML“ tauchte hier erstmals in programmatischer Form auf. Danach sollten sämtliche Strategien der KPD/ML entworfen werden, und diese These eignete sich bestens auch für nachfolgende Gruppen, die hier ihren Nährboden fanden, um alle möglichen politischen Hauptfeinde zu benennen. Der „Antiautoritarismus in der Arbeiterbewegung“ setzte sich zwar ab, leistete aber letztlich einen Beitrag zu einem wachsenden Gegensatz zwischen Leitung und Mitgliedschaft, die auch für diese Auseinandersetzung völlig unzureichend gewappnet war.

  

3. Das Gerangel um Die Bochumer Betriebsgruppe (B I)

Als Anfang September 1969 sogenannte wilde Streiks in der Eisen- und Stahlindustrie und einiger Zechenbelegschaften ausbrachen, nahmen sie viele sozialistische Gruppen zum Anlass, Arbeiter zu agitieren, sie für den ‘revolutionären Kampf’ zu gewinnen, ein Bündnis von Arbeitern und Studenten sollte geschmiedet werden. Besonders die Dortmunder Hoesch-Arbeiter, die am 2. September 1969 mit Protestaktionen und der Forderung nach 30 Pfennig mehr Lohn in einen unbefristeten Ausstand traten, und ihre Kollegen der Krupp-Betriebe in Bochum (u. a. Bochumer Verein), hatten es den Studenten angetan; die Streiks hatten ein dermaßen großes Interesse hervorgerufen, dass sie als „Rückkehr der Arbeiterklasse“ bezeichnet und gefeiert wurden, als „Linkswendung“, als „antikapitalistische Gegenöffentlichkeit“ usw. Die Rekonstruktion der Arbeiterbewegung war geboren. Man ging daran, ein „politische Bündnis“ mit der Arbeiterklasse zu schmieden. Dies zunächst in der Form der Agitation von außen, was bedeutete, das vor den sogenannten Zielbetrieben Flugblätter und Zeitungen verteilt wurden, und man dann darauf hoffte, dass die Arbeiter in Massen zu ihnen strömten. Erst später, zu Beginn der 70er Jahre, gab es die Koppelung von Betriebskadern, die in die Betriebe geschickt wurden (innerbetriebliche Strategie) und der Außenagitation.

Erfahrungen auf diesem Gebiet hatte seit Anfang 1969 das Komitee sozialistischer Arbeiter und Studenten in Bochum gesammelt, die sich auf die Betriebe Bochumer Verein, Opelwerke (Bochum) und Henrichshütte (Hattingen) konzentriert hatten. Die stärkste Gruppe (Bochumer Verein) wurde ‘Betriebsgruppe I ( B I) genannt. Wie die meisten Gruppen, vertrat auch sie die Konzeption einer sogenannten „Arbeiterkontrolle“ oder „Kontrolle der Produktion“. Das war zur damaligen Zeit nicht ungewöhnlich oder außergewöhnlich, sie diente an den Universitäten zur Rekrutierung linker Intellektueller, und vielleicht sogar als Ansporn, die Universitäten als Vorbereitungsfeld für die Aktionen ‘im Proletariat’ zu betrachten. Das war gängige Praxis; weder trotzkistisch, ökonomistisch oder kleinbürgerlich-intelligenzlerisch. Bedeutung hatte der Begriff der ‘Arbeiterkontrolle’ insofern, als mit ihm sogar eine gewisse Übertragung studentischer Aktionen (etwa Drittelparität als Selbstverwaltung) gelang, die sich in den verschiedenen Modellen über eine Räteherrschaft zeigten.

Insofern war die Losung der „Arbeiterkontrolle“ nichts anderes, als ein Versuch, die (räte-)demokratischen Strategien der Studentenbewegung auf die Basis der Produktion auszudehnen. Aber diese Forderung wurde wiederholt zum Anlass genommen, der Gruppe einen „Trotzkismus“ zu unterstellen, den es nicht gab, und der in dieser Form auch nicht vorhanden war. Eine direkte theoretische Verbindung zu Leo Trotzki und seiner Forderung der „Arbeiterkontrolle“, die er etwa 1917 als eine Form des ‘Übergangs zur Machtergreifung’ verstand, oder Ernest Mandel (43) und seiner in sich schon abgeschwächten Forderung „Arbeiterkontrolle der Produktion“, die er als Teil einer umfassenden gesellschaftlichen Kontrolle (und eben nicht nur der Produktion) verstand, ist unsinnig gewesen. Die bereits erwähnte „Warnung“ (44) schoss mit ihren Unterstellungen den größten Vogel ab, indem sie eine ganze Ausgabe einem Begriff widmete, den sie einfach aus dem Hut zauberte, und der fortan in der Bewertung der Gruppe eine außergewöhnliche Rolle bei der Konstituierung des Zentralbüros spielen sollte.

Diese Forderungen propagierte die B I u. a. in ihrer Zeitung „Bochumer Arbeiterzeitung“, die wohl seit Oktober 1969 erschien, und die eine der ersten Zeitungen im Raume Bochum war, die vor ausgewählten Betrieben verteilt wurde, an die sich auch viele andere sozialistische Gruppen aus dem Ruhrgebiet anlehnten, und die als Vorläufer der späteren Schrift der B I, „Proletarische Linie“ (45), bezeichnet werden kann. In ihr fand man Zugang zu vielen mögliche Theorien, praktischen Fragen des Klassenkampfes, Agitation gegen die Sozialdemokratie, die sich mit einer Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse beschäftigten. In der „Warnung“ wurde behauptet, dass diese Gruppe einen sogenannten „Entrismus“(46) propagieren würde, und mit „List und Tücke in die KPD/ML“ eingedrungen sei, um sie von innen zu zersetzen. (47) Diese Darstellung entsprach nicht den Tatsachen: es gab einfach keinen Trotzkismus in der KPD/ML. Das was darunter verstanden wurde, war nichts anderes als historische Legendenbildung. In der Regel wurde er in einem Atemzug mit der Zeitschrift „Was Tun?“ der Gruppe Internationaler Marxisten (48) genannt, die zu keiner Zeit die Geschicke der KPD/ML weder positiv noch negativ beeinflusste. Wie sie, so nahm auch jede damalige andere Zeitschrift/Gruppe für sich in Anspruch nach Gutdünken, biografischen Zufällen und geografischer Lage, in der sie sich als Linke definierten und zusammensetzten, andere zu agitieren, abzuwerben, zu gewinnen, oder ganz einfach, zu versuchen, sich mit ihnen bei Aktionen und Demonstrationen auf ein gemeinsames Vorgehen (etwa bei Vietnam-Demonstrationen) zu einigen.

Der Trotzkismus, der historisch ganz anders zu bewerten war, als es KPD/ML, später der KAB/ML versuchten, hatte zu Beginn der 70er Jahre im Ruhrgebiet nicht den Einfluss, den man ihm unterstellte. An der Ruhr-Universität Bochum hatte z. B. die Gruppe um „Was Tun?“ ihren Einflussbereich im AStA, in der Evangelischen Studentengemeinde, und im Kritischen Katholizismus, der sich in einigen Wahlerfolgen zum Studentenparlament niederschlug. Aber dieser trug nicht dazu bei, zu erreichen, „dass man möglichst unauffällig führende Positionen besetzte.“ (49) Deren praktische Vorgehensweisen waren sowohl legal wie auch nachvollziehbar. Wenn sich Vertreter von ihnen für Wahlen zu den Studentenparlamenten aufstellen ließen, und gewählt wurden, dann war das völlig legitim, und was sollte daran auch verwerflich gewesen sein? Überall Täuschung, Tricks, Unterwanderung, abenteuerliche Fehleinschätzungen, Spaltertätigkeit, Diversantentum, „echte trotzkistische Politik“, Opportunisten, Revisionisten usw. Willi Dickhut warf Peter Weinfurth eine Mitverantwortung in der Nichterkennung dieses „Trotzkismus“ vor; und unterstellte dem späteren Politbüromitglied des Zentralbüros, Gerd Genger, er sei deshalb ein Trotzkist, nur weil er, was viele andere vor ihm und nach ihm auch taten, „Briefe an die IV. Internationale“ geschrieben hatte, um Informationsmaterial zu bekommen. Daraus wurde eine Liaison „mit einer trotzkistischen Zentrale in England“ gemacht (50) die gesamte Ruhrgebietskonferenz, die sich nach der Vietnamdemonstration am 20. 12. 1969 in Bochum in ein ‘revisionistisches’ und ein ‘antirevisionistisches Lager’ teilte, war ein „Sammelsurium kleinbürgerlicher, antiautoritärer und trotzkistischer Gruppen“. (51) Merkwürdig war, dass dieses „Sammelsurium“ der Beginn der Entstehung der Roten Garde Bewegung in NRW war. Und wenn das tatsächlich alles Gruppen waren, die der KPD/ML nicht in ihren Kram passte, warum arbeitete sie dann von Anfang an mit ihnen zusammen, und warum entstand u.a. mit ihnen eine der interessantesten Organisationen der Maoisten?

Der „Revolutionäre Weg“ hatte diese Fragen nie beantworten können; er wollte das auch nicht, weil er dann vor seiner eigenen Tür hätte kehren müssen, und dann wäre ihm aufgefallen, dass z. B. der „Rote Pfeil“, (52) auf den Der Bolschewist sich heute noch die MLPD beruft, genau unter diesem Wust der Angriffe zusammengebrochen wäre; denn in Tübingen, dem Heimatort des KAB/ML war die politische Lage, wenn man denn von einer solchen sprechen sollte, nicht anders als im Ruhrgebiet. Das Menetekel, das an der Wand erschien, musste entlarvt werden. Es waren „ganze Blöcke“, die dem Unbill des trotzkistischen Zeitgeistes anheim fielen. Allen voran die Unione dei Communisti Italiani/Marxisti-Leninisti, (53) eine Gruppe, die sich von der italienischen PCI/ML (54) abspaltete, und die eine eigene Organisation mit dem für die damalige Zeit gar nicht so ungewöhnlichen straffen Zentralismus aufzubauen gedachte. Die Bildung der Gruppe vollzog sich über einen wahren Spaltungsrausch in Italien, was es auch heute noch äußerst schwierig macht, einzuschätzen, welche Vorstellungen im Detail vertreten wurden. Erschwert wird diese Sichtweise noch durch den Hinweis, dass es in Italien bis zum Sommer 1969 ca. 10 diverse untereinander wetteifernde Mao-Gruppen gab, und die berühmte Unione davon nur ein verschwind kleiner Teil war. Erinnert werden soll daran, dass ihre führenden Mitglieder Aldo Brandirali, Stame, Leldolesi, Caputo, Giuseppe Mai, die sich bereits seit dem Frühjahr 1966 in diversen Mao Splittergruppen tummelten, so u. a. in der Ferderatione dei Communisti Marxisti-Leninisti d’Italia, der Partito rivoluzionario marxista-leninista d’Italia (1968), der Lega della Gioventu Communista (m.l.) 1968, bis sie schließlich ab Oktober 1968 die Unione bildeten, die mit dem Organ „Servire il popolo“ bekannt wurde, und im April 1970 das Allein-Vertretungsrecht für Italien von Guozi Shudian (chinesischer fremdsprachiger Literaturvertrieb) bekam.

Diese Entwicklung wurde einfach unterschlagen. Die Unione war eben „trotzkistisch“, ohne, und das war bemerkenswert, sich mit diesen unterstellten Begrifflichkeiten inhaltlich auseinander zusetzen. Was sollte denn an der Unione ‘trotzkistisch’ gewesen sein? Die Schrift: „Die linkssektiererische Linie in der KPD/ML“, die von der KPD/ML/Neue Einheit, einer Abspaltung von der KPD/ML herausgegeben wurde, meinte zu der italienischen Entwicklung lapidar: „Die Vorhut all dieser Gruppen, war die sogenannte Unione dei Communisti Italiani (m.l.), jene berüchtigte trotzkistische Agentur unter den Marxisten-Leninisten, deren Einfluss wir auch in der Bundesrepublik und Westberlin zu spüren bekamen ... Mit riesigem Aufwand betrieben sie eine soziale Demagogie und organisierten wild um sich. Sie verwirrten schließlich die ganze kommunistische Bewegung und zersplitterten sie. Sie fanden mit ihrer Spaltertätigkeit besonders bei Studenten und Schülern großen Anhang.“ (55) Und die „Rote Fahne“ des KAB/ML setze dem noch eins drauf: „In Italien hat sich eine sozial-faschistische Trotzkistenbande, die Führung der sogenannten Unione dei Communisti Italinani (marxisti-leniniste), als Agentur des Imperialismus in die kommunistische Bewegung eingeschlichen. Dort versucht sie mit den Mitteln des Volkstümlertums, des Eintretens für die führende Rolle der Intelligenz im Klassenkampf, mit der Propagierung des bürgerlichen Idealismus, die rote Fahne zu schwenken, um sie in Wirklichkeit zu bekämpfen.“ (56)

Die Unione vertrat nichts anderes als eine Parteiaufbaukonzeption, die ihr im übrigen von Lenin u. a. in den Schriften „Was Tun?“ (57), „Brief an einen Genossen über unsere organisatorischen Aufgaben“(58) „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“ (59), vorgegeben waren. Die Schrift: „Brief an einen Genossen über unsere organisatorischen Aufgaben“ benannte übrigens eine Vielzahl von Konzepten, die je nach Interpretationslage angewandt wurden oder nicht. Lenin beharrte auf eine starke Führung zur Festlegung einer politischen Linie, einer Erweiterung der Basis der Partei durch vorwiegend organisatorische Tätigkeit, sie müsse in ganz Russland organisiert sein und deshalb zentralistisch operieren. An diese Parteikonzeption lehnten sich ohne Ausnahme alle Mao Gruppen in der BRD an. Einige, mit dem besonderen ‘proletarischen Tatsch’, sahen darin die „Vorherrschaft der kleinbürgerlichen Intellektuellen“ begründet, und versuchten, Lenins Vorstellungen für sich zu reklamieren, indem sie einfach erklärten, dass er dem ‘demokratischen Element’ im Widerspruch zwischen Demokratie und Zentralismus stets eine Vormachtstellung einräumte, oder den ‘Parteiaufbau’ mit führendem Zentralismus einfach nur als eine zeitgemäße Erfahrung der russischen Sozialdemokraten um die Jahrhundertwende interpretierten. Die studentischen Kerne, die zum Anstoß wurden, und die den Vorbildcharakter der Unione gezeigt hätte, waren 1969/70 ganz normal: streng zentralistisch von oben nach unten, so sollten die revolutionären Parteien des Proletariats aufgebaut werden. Die KPD/ML, der Tübinger KAB/ML oder die KPD/ML-Zentralbüro glichen sich hier wie ein Ei dem anderen. Ihnen eine nicht-proletarische Ideologie vorzuhalten war genauso albern, wie den Proletarier zu verklären, oder den Kapitalisten zu kritisieren, dass er Arbeiter ausbeutet.

Das Desinteresse an theoretischen Fragen, an philosophischen Fragestellungen überhaupt, führte die KPD/ML in ihr erstes großes Zerwürfnis, das sehr viel mit dem bundesdeutschen Mythos ‘revolutionäres Subjekt’ zu tun hatte. Vermutlich mit den Septemberstreiks und dem Triumph des „Roten Morgen“ über die kleinbürgerlichen Intellektuellen und der sog. Avantgardefunktion der Arbeiterklasse, die er sentimental und mit ihr auf glückliche Veränderung hoffend in die Worte kleidete: „Jetzt spricht die Arbeiterklasse - Ein weiterer bürgerlicher Mythos ist zusammengebrochen, dass die westdeutsche Arbeiterklasse angeblich völlig ‘integriert’ sei, kein Klassenbewusstsein mehr habe und nicht mehr kämpfen könne. Die umfassendste Streikbewegung seit 1963 hat diesen bürgerlichen Mythos, der auch in der kleinbürgerlichrevolutionären APO weit verbreitet ist, innerhalb einer Woche völlig zerfetzt und vom Tisch gefegt ... Man kann sagen, dass die streikenden Kumpels Marcuse, Habermas, usw. ideologisch getötet haben.“ (60) Vermutlich deswegen machte im September 1969 das ZK-Mitglied der KPD/ML, Willi Dickhut, den Vorschlag, einen unbegrenzten Aufnahmestopp für Intellektuelle in der KPD/ML einzuführen, und er berief sich dabei auch auf die Präambel und das Statut der KPD/ML: „Die KPD/ML ist die Partei der Arbeiterklasse, ihr bewusster und organisierter Vortrupp, die höchste Form ihrer Klassenorganisation. Die KPD/ML vereinigt den fortschrittlichsten Teil der Werktätigen Deutschlands in ihren Reihen.“ (61) Der Streit um die kommenden Auseinandersetzungen war gelegt: es ging um eine nicht näher definierte „proletarische Linie“.

Der „Revolutionäre Weg“ Nr. 4/1970 hieß dann auch: „Der Kampf um die proletarische Linie“. (62) Die Ausgabe zeigte auch, mit welcher Vehemenz um die Lösung dieser Frage gekämpft wurde. Hatten schon die „Revolutionären Wege“ 1-3 die verbindliche und damit unumstößliche Wahrheiten im Kampf gegen Revisionismus, Linkssektierertum und Antiautoritarismus ausgesprochen, so konnte die Intellektuellen Hysterie ein weiteres mal gesteigert werden. Der „Aufnahmestopp für Intellektuelle“ begründete dann später die erste Spaltung der KPD/ML. Vorausgegangen war ihr ein monatelanger Hick - Hack zwischen den verschiedenen, sich bereits heftigst befehdenden Parteiorganisationen, die mit diesem Beschluss nichts anfangen konnten, und die daraufhin ihre individuelle Betroffenheit zum Ausdruck brachten. Der Beschluss hatte den Wortlaut: „1.Verhandlungen bezüglich der Fusion mit führenden SDS-Genossen sind einzustellen und in Zukunft nicht mehr zu führen. 2. Auf unbestimmte Zeit ist eine Kandidatensperre für Studenten, Schüler und Lehrkräfte die Regel. Ausnahmen beschließt jeweils das ZK. 3. Die systematische Werbung von Arbeitern und Betriebsangestellten ist die derzeitige Hauptaufgabe der Partei.“ (63) Das Ankämpfen gegen eine „kleinbürgerliche Überwucherung“ und der Überwucherung der marxistisch-leninistischen Partei mit Intellektuellen, sollte alle Linken davon überzeugen, dass sich die KPD/ML mit den Traditionen des Marxismus und der Arbeiterpolitik in Übereinstimmung befand. Auf die hoffnungslose veralteten Ambitionen solcher Prophetie fielen nur wenige Kader der sich kurze Zeit später konstituierenden KPD/ML-Zentralbüro herein. ZK Chef Aust stellte sich zunächst auf die Seite derer, die sich schwer damit taten, eine Verbindung von theoretischer und praktisch/organisatorischer Arbeit herzustellen, und die sich folgend auch gegen einen „Aufnahmestopp“ aussprachen. (64) Wenn auch der Landesverband der Roten-Garden NRW unter Peter WEINFURTH diesen Beschluss maßgeblich mittrugen, hatte er kurze Zeit später in der sich fraktionierenden KPD/ML keinerlei Basis mehr und wurde, das war das widersinnige, von den nachfolgenden Fraktionskämpfen mal positiv oder mal negativ für sich reklamiert. Dazu trugen auch einige Ereignisse bei, die die Fraktionierung unter den einzelnen Gruppen beschleunigten und dazu führen mussten, dass andere Fragen die Revolte der Widerspenstigen einläuteten, so etwa die Frage nach einer „Hauptseite Theorie“ oder „Hauptseite Praxis“. Sie bekam nun übergeordnete Relevanz.

  

4. Die Berliner Ruhrkampagne

Seit Mitte 1969 sorgte die Bochumer Internationalismus-Gruppe des SDS (1) im Ruhrgebiet für einiges Aufsehen. U. a. damit, dass sie mit verschiedenen Veranstaltungen zur Kuba-Kampagne, die unter dem Titel ‘Entwicklungshilfe oder sozialistische Revolution’ firmierte, zum Selbstverständnis u. a. der SALZ Gruppen (2) beitragen wollte. Bei dieser Gelegenheit wurde ein Kuba-Film gezeigt, den vermutlich Berliner SDSler im Sommer 1968 dort abgedreht hatten. Diese Veranstaltungsreihe brachte zumindest die Erkenntnis, eine organisatorische Zersplitterung unter den agierenden sozialistischen Gruppen überwinden zu wollen. Vermutlich auch aus diesem Grunde entstanden an vielen Orten im Ruhrgebiet, dem Herzstück des Proletariats, sogenannte Basis- und Projektgruppen, lokale- und betriebliche, die einen engeren organisatorischen Zusammenhalt darstellen sollten. Die Dezentralität mit einer zentralisierten Betriebsagitation die Bisherige praktisch-politische Arbeit überwinden, so könnte man das als Fazit festhalten. Die Strategiedebatten und die Schulungen des Bochumer SDS, die Reflektionen über den ‘Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit’ spielten in den Debatten ebenso eine Rolle, wie die Frage nach der Lösung von der Universität und dem Ruf ‘Hinein ins Proletariat’.

Die „Bochumer Studentenzeitung“ veröffentlichte u. a. Arbeitspapiere der Frankfurter Projekt- und Basisgruppenkonferenzen (3), die die politische Agitation und Propaganda in den Betrieben für notwendig erachtete. Es ging um Antikapitalismus, Klassenbewusstseins, Organisationsfragen, kollektive Aktionen von Arbeitern und Studenten, politische Veränderungen, um Kommunikation der Gruppen untereinander: schließlich um das kollektive Bewusstsein der Arbeiter, die sich jedoch mitnichten für ihren angedachten Revolutionierungsprozess interessierten, sich an diesen Debatten höchstens dadurch beteiligten, Ob sie die von den Linken kritisierte Arbeitsgesellschaft als repressiv und unterdrückend empfanden, ist für die damalige Zeit in Frage zu stellen.

Mit den Septemberstreiks von 1969 führte der Bochumer SDS, der sich später in SDS/ML (4) umbenennen sollte, mit der Berliner Projektgruppe Ruhrkampagne Seminare durch, um über die künftige Arbeit zu beraten. Die Berliner Ruhrkampagne war das Ergebnis der Fraktionsauseinandersetzungen der Westberliner APO, deren wichtigster Vertreter wohl Bernd Rabehl (5) gewesen sein dürfte. Sie selbst stand in engerer Beziehung zum KB/ML (6), der seine Protagonisten in Rolf Lindemann und Solveig Erler hatte. Vermutlich seit dem Sommer 1969 versuchte sie Kontakte zu verschiedenen Ruhrgebietsgruppen zu bekommen, mit dem Ziel, sie zu organisieren. Das seit dem Januar/Februar 1969 existierende Komitee Sozialistischer Arbeiter und Studenten, aus dem Juni 1969 die Bochumer Betriebsgruppe I (7) hervorgehen sollte, war eine dieser Gruppen. Mit der sog. B. I wurden zunächst Vereinbarungen getroffen, die aber nicht über Ansätze einer Diskussion über die ökonomische Situation des Ruhrgebiets hinausgingen. Das änderte sich jedoch schlagartig mit den Septemberstreiks (September 1969), und mit der angedachten Möglichkeit, das alte ‚revolutionäre’ Subjekt neu zu entdecken, von dem Es hieß: „Die Bereitschaft und Fähigkeit der westdeutschen Arbeiterklasse zu spontanen Kampfaktionen“ zeige „seine führende Rolle.“ (8)

‘Schwerpunkt in den Betrieben’, das war zugleich Aufgabe und Kampflosung. Das in Westberlin erscheinende Organ „Rote Presse Korrespondenz“ (9) beschäftige sich in seiner Nr. 30/1969 mit den „Streiks in Westdeutschland“. Der Artikel war verfasst von einer Basisgruppe Bochum der Berliner Ruhrkampagne. (10) Bereits am 18. 9. 1969 beginnt in Bochum ein zweitägiges Seminar des SDS, an dem vermutlich Ruhrkampagnemitglieder teilnehmen. Die B I legte ihre Analyse des Rheinstahlkonzerns vor, schloss ein strategisches Bündnis mit der DKP nicht aus und sah in „antirevisionistische Arbeiterkadern“ eine Chance, das „Klassenbewusstsein der Arbeiter“ zu wecken. (11) Klassenanalyse des Ruhrgebiets und Organisationsdebatte waren die gemeinsamen Aspekte des SDS Bochum und der Ruhrkampagne, die von nun an auch partiell zusammenarbeiten sollten. Da die Kadergrenzen ‘fließend’ waren, war nicht immer auszumachen, wer für welche Konzeptionen verantwortlich war. Anzunehmen ist, dass Arbeitskonferenzen in Berlin und Bochum stattfanden, und die gemeinsame Projektion Arbeiterzirkel zu bilden, war. Man wollte im Revolutionierungsprozess nicht abseits stehen. Die Kadergruppen, die teils aus Berlin (West) anreisten, und die auch später auf verschiedene Kollektive der marxistisch-leninistischen Gruppen im Ruhrgebiet ‚verteilt’ wurden, waren in den Industriezweigen der Eisen- und Stahlindustrie, der Metall, - Chemie- und Autoindustrie tätig. Sie gingen, wie es damals hieß, in die Betriebe. Ausdruck dieser Debatte und der Verarbeitung der praktischen Erfahrungen Im proletarischen Bereich, war die schon erwähnte „Bochumer Arbeiterzeitung“, die z. B. die Belegschaft(en) der Bochumer Krupp-Werke zum Streik aufforderte.

Es bestand vermutlich eine Vereinbarung zwischen Bochum und Berlin, die darauf abzielte, die Fraktionierungen in Berlin (West) voranzutreiben, um sich ganz auf das Ruhrgebiet zu konzentrieren, frei nach Konrad Adenauer: „Wenn erst mal die Ruhr brennt, gibt es nicht genügend Wasser, um sie zu löschen.“ (12) Das spiegelte sich auch in den fraktionellen Auseinandersetzungen innerhalb der RPK in der Zeit zwischen dem 8. 11. und dem 23. 11. 1969 wider, als es nämlich darum ging, „marxistisch-leninistische Übergangsorganisationen“ zu konstituieren, die den „Kampf zweier Linien“ zu führen hätten und die zwangsläufig den „Aufbau der revolutionären Partei“ führen müsste. Konsequenz daraus war, dass ein Teil der Ruhrkampagne mit vielleicht 80 Kadern ins Ruhrgebiet übersiedelte, um jetzt „politische Verantwortung“ zu übernehmen.(13)

Der Fraktionierungsprozess der Westberliner sozialistischen Gruppen gestaltete sich teilweise äußerst undurchsichtig, weil sehr viele Fraktionen daran beteiligt waren, und die Standpunkte von Konferenz zu Konferenz oftmals divergierten, ohne dass auf Plenumsitzungen eine Einheit in Sachfragen geschweige denn in Organisationsfragen zu erzielen war. Von DER Ruhrkampagne zu reden, die sich zum Teil mit dem Zentralbüro zusammentun sollte, ist ebenso falsch, wie der lapidare Satz aus der „Warnung“ dass die RK eine „sozialistische Massenorganisation“ aufzubauen gedachte. (14) Beides ist wie immer nur die halbe Wahrheit gewesen: ein erheblicher Teil war an der Konstituierung des ZB maßgeblich beteiligt gewesen, ein anderer verteilte sich auf andere Westberliner (Fraktionierungs-) Gruppen. Wie solche Gruppenbildungen aussahen, soll ein Blick auf die zweitägige RPK Arbeitskonferenz der RPK vom 6./7.12. 19969 verdeutlichen, als unter Beteiligung bundesdeutscher Gruppen die Organisationsdebatte geführt wurde: „Die AK war wie folgt zusammengesetzt: Aktionsrat zur Befreiung der Frauen, Gruppe Dernburgstraße (4 Delegierte), Aktionsrat zur Befreiung der Frauen-Mehrheitsfraktion (4), Sozialistisches Arbeitskollektiv OSI (4), Sozialistische Studentenzelle am OSI (4), Ad-hoc-Physik-TU (4), Ad-hoc- Chemie-TU (4), Ad-hoc-Maschinenbau-TU (4), Ad-hoc-WirtschaftswissenschaftenTU (4), SALZ-Fraktion (4), SALZ-ML-Fraktion (4), Arbeiterkonferenz-Mehrheitsfraktion (2), Arbeiterkonferenz-ML-Fraktion (2), Proz-ML (4), Druck-ML (4), Ruhrkampagne (4), Kommunistische Zelle Historiker (4), Institutsgruppe Rote Publizistik (4), Ad-hoc-Biologie-FU (4), 883-Redaktion (3), Rotzeg (4), Rotzmath (4), Rotzök (4), Rotz-Psych (4), Rotzjur (4), Rotzing (4), Rotzmed (4), Projektgruppe Elektroindustrie (4), Basisgruppe Moabit (4), Betriebsgruppe NCR (4), Betriebsgruppe Neckermann (4), Sektion Produktion der Soziologen (4), INFI-Projektgruppe Afrika (4), Italien Arbeitskreis (3), Vietnam-Komitee (4), Palästina-Komitee (4), RPK-Geschäftsführung und Vertrieb (2). Als Gäste waren anwesend: Betriebsgruppe Schering, Betriebsgruppe Telefunken, Sozialarbeitergruppe, Arbeitsgruppe Revolutionäre Erziehung, Rote Zelle PH, Ad-hoc-Gruppe Soziologie (FU), TU-Politreferat, Medizinerladen, Sozialistisches Anwaltskollektiv, Unione Emigrati Progressisti (Italien,d. Vf.), Konföderation Iranischer Studenten (CISNU, d.Vf.), Rote Garde (RG, d. Vf.), SDS- Tübingen, SDS-Gießen, SDS- Hamburg, SIZ- München, SDS-BV.“(15)

Vermutlich waren es bis zu 60 Gruppen, die über 3 Papiere diskutierten 1. Das „Harzer Papier“ (16). 2. „Thesen zum Aufbau der KPD“ (spätere KPD/AO), in denen die Schaffung einer „bolschewistisch-leninistischen Partei“ als Ziel formuliert wurde (17) 3. Ein Papier der ML: „Den Aufbau der ML-Organisation in Angriff nehmen“. War die RPK wohl bis zu diesem Zeitpunkt das Organ der Westberliner antirevisionistischen Gruppen, so wurde im Verlaufe der Debatte deutlich, dass sich diese Position in den kommenden Monaten nicht halten lassen würde: Ruhrkampagne Mitglieder vertraten u. a. die Auffassung, dass „die RPK ein theoretisches Organ der revolutionären Gruppen in Westberlin ist“, dass „die RPK Ausdruck (der) ideologischen Auseinandersetzung sein“ muss. Entscheidende Diskussionsgrundlage war jedoch: „Die erste Etappe des Aufbaus der Kommunistischen Partei des Proletariats – Thesen.“ Das Papier wurde vorgelegt von u.a. Christian Semler, Peter Neitzke und Jürgen Horlemann.

In diesen Thesen wird im Prinzip die „Schaffung einer bolschewistischen Partei leninistischen Typus“ als Ziel angegeben. Das Papier enthielt bereits alle Elemente, die die zukünftige KPD/AO in ihrer „Vorläufigen Plattform der Aufbauorganisation für die Kommunistische Partei Deutschlands“ vertreten sollte. Danach sollte die RPK praktisch schon die Rolle eines Zentralorgans übernehmen. So hieß es u. a. „Wir schlagen der Arbeitskonferenz vor, über folgende Linie zu beraten: Der frühere 'Beirat' der RPK wird durch ein Initiativ- und Kontrollaktiv ersetzt. Dieses Initiativ- und Kontrollaktiv ist in der Phase des Aufbaus der Parteiorganisation die politische Führung und hat den Auftrag, auf die Bildung der politischen Partei des Proletariats, auf die Bildung einer revolutionären antirevisionistischen Partei hinzusteuern. Das Organ dieses Initiativ- und Kontrollaktivs ist die Rote Presse Korrespondenz als Zeitung der Mehrheitsfraktion. Das Aktiv verwirklicht das revolutionäre Prinzip des demokratischen Zentralismus durch Initiative und Kontrolle, es ist das Aktiv von Genossen, die an langandauernder solidarischer politischer Arbeit ihre Entschlossenheit zeigen, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um die politische Revolution unter Führung der Arbeiterklasse vorzubereiten.“ (18)

Die Arbeitskonferenz brachte durch Wahl eine neue Redaktion hervor, die von den Gruppen bestimmt wurde, die sich zum Marxismus-Leninismus bekannten und die auf der Arbeitskonferenz die Diskussion bestimmt hatten. ML und Ruhrkampagne bekamen in der neunköpfigen Redaktion drei Sitze (ML zwei, Ruhrkampagne einen), die PEI behielt drei Sitze, die Roten Zellen (Thesenverfasser) bekamen drei Sitze. Die Fraktionierung der RPK- Konferenz hielt jedoch an: Die Ruhrkampagne sollte sich bis zu Anfang April 1970 endgültig auflösen, nachdem sie sich in ihrem Papier „Arbeitsvorstellungen der Ruhrkampagne“ dafür aussprach, „Praxis im proletarischen Bereich des Ruhrgebiets zu machen“, und als nach Gesprächen mit der Roten Garde NRW unter der Leitung von Peter Weinfurth am 2. 3. 1970 (19) klar war, dass es nun galt, zugig den „Aufbau der proletarischen Partei im Ruhrgebiet“ voranzutreiben. Ein Teil der AK ging übrigens zur ML Westberlin, aus den ML rekrutierte sich der KB/ML. Die Thesenverfasser gründeten im März 1970 die ‘Aufbauorganisation für die KP’. Die PEI nannte sich im Juli 1970 in PL/PI um. (20)

Das „trojanisch-trotzkistische Pferd in den Mauern der KPD/ML“ (21) hatte für diesen detaillierten Differenzierungsprozess keinen Blick. Für die Verfasser gab es in diesem Pamphlet nur den Einheitsbrei von „Ökonomismus“ „Prinzipienlosigkeit“, „Phrasendrescherei“, „Trotzkismus“ und „blinder Handwerkelei“. Über all dem standen die kleinbürgerlich-intellektuellen Führer. Peter Weinfurth sprach z. B. im Oktober 1969 in einem „Bericht über trotzkistische Tendenzen an das ZK der KPD/ML“ darüber, was ihn nicht daran hinderte, sich Anfang 1970 mit diesen „trotzkistischen Tendenzen“ in der KPD/ML-ZB zu (ver-)einigen. Die B I, der eine Verbindung mit der IV. Internationale unter Mandel nachgesagt wurde, brachte die Tübinger RJ/ML und deren Organ „Rebell“ ins Gespräch, die schon früh „diese Scharlatane erkannt“ hätten, und vor dem „Trick des Entrismus“ (22) warnten.

Die KPD/ML-ZK unter Aust war ob dieser Entwicklung total konsterniert und sollte kurze Zeit später die Frage „Intellektuelle oder Arbeiter“ in den Ausgaben des „Roten Morgen“ „Bauen wir eine starke bolschewistische Partei auf“ (23) und „Plattform des ZK der KPD/ML“ (24) dermaßen zuspitzen, dass sich daraus eine für die damalige Zeit radikale Rhetorik ergab, die sich in zunächst im Landesverband der KPD/ML NRW im sogenannten ‘Kampf um die Proletarische Linie’, der Hauptseite Praxis niederschlagen sollte.

  

5. Die Bochumer Vietnamdemonstration

Doch zuvor hatte noch ein anderes Ereignis den Konstituierungsprozess der KPD/ML-ZB maßgeblich beeinflusst: die Bochumer Vietnamdemonstration vom 20. 12. 1969, die deshalb wesentlich war, weil an ihr ca. 40 relevante sozialistische und linke Gruppen aus dem Ruhrgebiet teilnahmen, und auf der zum ersten mal die Rote(n) Garde(n) NRW (25) in geschlossener Formation auftrat, was bei vielen Teilnehmern einen schon ehrfürchtigen Einfluss hinterließ. Viele der an der Demonstration aktiv teilnehmenden SALZ Gruppen und deren verschiedene Fraktionierungen, bildeten auch daraufhin Ende 1969/Anfang 1970 in vielen Städten des Ruhrgebiets Rote Garden, meisten als Jugendorganisation der KPD/ML. Die Bochumer Vietnamdemonstration wurde bereits seit dem Spätsommer 1969 über die sog. Vietnamkampagne von Ruhrgebietsgruppen vorbereitet. Sie entstand vermutlich aus der Kubakampagne der Bochumer Internationalismusgruppe.

Nachdem die Bombardierung Nordvietnams durch US-Streitkräfte einen Höhepunkt erreicht hatte, und die USA mit über 500.000 Soldaten in Vietnam kämpften, erreichte der Protest gegen den barbarischen Krieg 1969 auch das Ruhrgebiet. Er schlug sich in einer Reihe von Demonstrationen nieder. (26) Ca. seit dem September 1969 und im Verlauf dieser Aktionen stellten sich teilnehmende Gruppen auch vermehrt die Organisationsfrage. Sog. Anleitungskader, die sich personell aus der Roten Garde NRW, der B. I. und Mitgliedern des Bochumer SDS und der Internationalismusgruppe rekrutierten, trugen dazu bei, dass das Ziel einer gemeinsamer Vietnamdemonstration im Dezember 1969 nicht aus den Augen verloren wurde. Sie wurde aktiv von diesen Gruppen vorbereitet, wobei die „Bochumer Studentenzeitung“, (27) Flugblätter des Bochumer SALZ, die Vietnam-Flugblätter des Bochumer AStA, die Aufrufe der Roten Garde NRW „Sieg im Volkskrieg“ mit dazu beitrugen, diese Demonstration zu einem Erfolg werden zu lassen. Die eigentliche Vorbereitung der Vietnam-Demonstration begann am 5. 12. 1969 (28) auf einer Mitgliederversammlung des Bochumer SDS (und vermutlich auch der Internationalismus-Gruppe), der auch zu diesem Zeitpunkt den AStA der Ruhruniversität dominiert haben dürfte (29), und parallel dazu die Werbung der Roten Garde NRW mit ihrer Flugblattreihe „Sieg im Volkskrieg“, „Organisiert Euch in der Roten Garde“ und dem Aufruf: „Heraus zur Demonstration gegen die US-imperialistische Aggression in Vietnam“ (30) die in vielen Ruhrgebietsgruppen kursierten. Einen Tag später, am 6. 12. 1969 (31) fand in Bochum eine Delegiertenkonferenz von Ruhrgebietsgruppen statt, die sich über die Kubakampagne und die Vietnamkampagne zusammengeschlossen hatten, und an der Vertreter von über 35 Gruppen teilnahmen.

Neben dem Einfluss der KPD/ML über den Bochumer SDS und der Roten Garde NRW, war womöglich die B. I. die dritte Kraft gewesen, die am Zustandekommen der Konferenz wesentlichen Anteil gehabt haben dürfte. Die DKP/SDAJ, die zwar auch zu dieser Demonstration aufrief, und mit Vertretern anwesend waren, konnten sich nicht durchsetzen; ebenfalls nicht die IKD- Gruppe Ruhrgebiet. Ziel der Konferenz war: Die Organisierung einer gemeinsamen Demonstration aller Ruhrgebietsgruppen am 20. 12. 1969 in Bochum. Von KPD/ML und der RG NRW eingebracht, wurden die Parolen „Sieg im Volkskrieg“, vermutlich von der B.I. „Unsere beste Unterstützung der vietnamesischen Revolution besteht darin, den Klassenkampf im eigenen Land voranzutreiben“. Alle Delegierten wurden nachdrücklich dazu aufgerufen, in ihren Gruppen für den 20. 12. zu werben. Die Aktion bekam einen weiteren Höhepunkt durch die Kampagne einer Vietnam Woche gegen den Imperialismus, die an der Uni Bochum ab ca. dem 10. 12. 1969 anlief. Themen der Teach ins waren u.a. „Revolution im Volkskrieg“, „Klassenkampf in den USA“, „Der amerikanische und westdeutsche Imperialismus“, „Die Revolution in der Dritten Welt“ usw. Teilnehmerzahlen bewegten sich zwischen 200-300 Personen. Zur Vietnam Woche wurden eine Reihe von Vietnam-Info-Flugblättern erstellt, die von AStA, Projektgruppe Internationalismus und B. I. herausgegeben wurden. Ein Bochumer SALZ Flugblatt vom 19. 12. 1969, das in der Bochumer Innenstadt verteilt wurde, rief dazu auf, „an der zentralen Demonstration gegen die USA-Aggression am 20. 12. 1969 in Bochum“ teilzunehmen. (32) Vermutlich wurde an diesen Tag auch ein Bochumer Vietnamkomitee ins Leben gerufen, dass das „Vietnam-Info Flugblatt“ Nr. 5 mitunterzeichnet.

Am 20. 12. 1969 fand in der Bochumer Innenstadt mit ca. 3. 000 Teilnehmern eine der größten antirevisionistischen Demonstration gegen den Vietnamkrieg zum Ausgang des Jahres 1969 statt. Dominierend waren die geschlossenen Formationen der Roten Garde NRW, die KPD/ML, das Bochumer Vietnam-Komitee, die Komitees der RUB und die Bochumer Betriebsgruppe I. Die Darstellung des „Trojanisch-trotzkistischen Pferdes in den Mauern der KPD/ML“ dass diese Demonstration die „offensichtliche Isoliertheit der B.I. gezeigt habe“, (33) ist nicht nur faktisch, sondern auch sachlich falsch gewesen. In dem ewigen Bemühen, jeder Aktion von Gruppen oder deren Zusammenschlüsse oder Zusammenarbeit mit dem Unterton „trotzkistisch“ zu diffamieren, bloß weil die einheitliche ideologische Linie zu stimmen habe, zeigte, dass die Sichtweise urbane Vordenker gehabt haben musste, die einerseits in den überholten Modellen des einstigen Arbeiterbewegungsmarxismus angesiedelt waren, zum anderen in der Schwäche der theoretischen Kader, mit analytischem Sachverstand anstehende Probleme zu lösen.

Es fiel an diesem Enthusiasmus von KPD/ML (RW) und KAB/ML auf, dass die Darstellung über die Bochumer Verhältnisse von der Roten Garde NRW abgekupfert war. In einem Brief an den Landesvorsitzenden der KPD/ML berichtete das KPD/ML Mitglied Peter Weinfurth am 14. 2. 1970 in einer Polemik: „Somit entwickelte sich die Vietnamdemonstration zu einer Kraftprobe zwischen Roter Garde und B. I. Wir agitierten die B. I. als führendes Zentrum einerseits, was ihren Ökonomismus anging, zum anderen was ihre praktische Unfähigkeit anging, tatsächlich eine Massenorganisation aufzubauen. Wir hatten damit durchschlagenden Erfolg.“ (34) Einen relativ sachlich informierenden Bericht über die Demonstration selbst gab damals die „Bochumer Studentenzeitung“: „Die Roten Garden des Ruhrgebiets und der Bochumer SDS veranstalteten am 20. Dezember eine zentrale Demonstration für die Vietnamesische Revolution und gegen den US-Imperialismus. Dazu waren alle linken Gruppen von der Ruhr und aus dem Sauerland eingeladen ... Die Roten Garden waren die einzigen, die einen relativ festen Block bildeten. Sie hatten auch die Plakate mit den Köpfen der großen Führer der Internationalen proletarischen Revolution, die in größerer Zahl zu sehen waren, vorbereitet. Die Teilnehmer waren sich, von den wenigen Revisionisten der DKP und des Spartakus abgesehen, über den Sinn dieser Veranstaltung insofern einig, dass es bei dieser Demonstration nicht darum gehen konnte, die außenstehenden Passanten zu agitieren, sondern die organisatorische Zersplitterung der sozial-revolutionären Bewegung des Ruhrgebiets zu überwinden. Auf dem Treff der linken Gruppen, der eine Woche vorher stattgefunden hatte, wurde klar, dass die Frage nach der Organisationsform die wichtigste Frage für alle Gruppen im Augenblick ist ... Auf jenem Treffen war auch ein Teach-In vorgeschlagen worden, auf dem nach der Demonstration das Konzept der Roten Garden und das des SDS verlesen werden und die Unterschiede von Vertretern der Gruppen diskutiert werden sollten. Ziel der organisatorischen Arbeit (des SDS, d. Vf.) war bisher die Gründung eines SALZ, eines Sozialistischen Arbeiter- und Lehrlingszentrums. Das ist ein loser Zusammenschluss von regionalen Gruppen, die zum Teil sehr unterschiedlicher Auffassung sind. Ebenso sollte eine Zeitung gemacht werden. Das einzige organisatorische Wichtige am SDS-Konzept war der überregionale Zusammenschluss, der aber schon längst von den Roten Garden durch die Errichtung von Bezirkskomitees erfolgreich praktiziert wird ... Wie notwendig aber die Schaffung einer engen und festen Arbeiterorganisation der Revolutionäre, eines Vortrupps der Arbeiterschaft, d.h. der Aufbau der Kommunistischen Partei (M.L.) ist, erläuterte der Sprecher der Roten Garde. Gleichzeitig muss die Gründung einer Massenorganisation der Partei erfolgen, in der alle sympathisierenden Kräfte des Volkes mit dem Marxismus-Leninismus vertraut gemacht werden und neue Kader herangebildet werden. Dabei bilden die Betriebszellen den wichtigsten Teil der Massenorganisation.“ (35)

Dass mit dieser Demonstration die ‘Problematik des Vietnamkrieges völlig in den Hintergrund’ trat, wie Norbert Kozicki in seinem Buch „Aufbruch im Revier“ (36) äußert, weil es ihr nur darum gegangen sei, die „Erklärungen und Willensbekundungen der politischen Exponenten der KPD/ML“ (37) zu propagieren, ist lediglich eine x-te Wiederholung der damaligen Argumente von DKP/SDAJ, SJD- Die Falken u. a., die damals absolut keine Chance hatten, sich mit ihren Parolen von der ‘friedliebenden Sowjetunion’, die die vietnamesische Revolution uneingeschränkt unterstützen würde, durchsetzen konnten. Tatsächlich hatte die Demonstration einen sogwirkenden Charakter. Die Bildung von einheitlichen SALZ Gruppen war nach der Demonstration kein wesentliches Thema mehr. Sie scheiterte aber nicht an „der Zersetzungstaktik der Trotzkisten“ (38) oder daran, dass es ihnen nicht gelang, „diese Gruppen zu unterwandern und von innen heraus zu zersetzen“ (39), oder auch dadurch, „dass einige Gruppen ... zur Roten Garde übertraten“ (40) sondern schlicht und ergreifend an der Tatsache, dass der Wunsch offensichtlich war, jetzt einfach eine aktuelle antirevisionistische Politik zu machen und auszuscheren aus einer gewissen Lethargie, die sich mit der antiautoritären Phase augenscheinlich erledigt hatte. Dafür - und womöglich nur dafür boten die Roten Garden NRW den damaligen bestmöglichen Bezugsrahmen. So entschieden sich beispielsweise Mitglieder des RC Gelsenkirchen oder Vertreter der Sauerlandgruppen, Dinslaken, Hagen, Castrop-Rauxel, dann auch Zirkel in Recklinghausen, der RC Wattenscheid, sowie eine Reihe anderer lokaler Zirkel nach Beendigung der Demonstration dafür, sich mit den Roten Garden NRW und somit auch mit der KPD/ML organisatorisch zu verbinden.

Auch wenn dieser Prozess auch noch einige Zeit dauern sollte, so war klar, dass die Disziplinierung und Zentralisierung der praktisch-politischen Arbeit von nun an einen entscheidenden Gesichtspunkt erhalten sollte. Diese ‘Organisationsfrage’, oder übergreifender ‘Organisationsdebatte’ bestimmte u. a. auch das Teach in, dass im Anschluss an die Demonstration stattfand, und auf der eine Reihe der Ruhrgebietsgruppen, die sich seit dem 6. 12. 1969 für eine solche Konferenz stark gemacht hatte, anwesend waren. (41) Die Ruhrgebietskonferenz wurde in der „Warnung“ wie folgt charakterisiert: „Sie war ein Sammelsurium kleinbürgerlicher, antiautoritärer und trotzkistischer Gruppen.“ (42) Eine solche Argumentation zielte in erster Linie darauf ab, eine Hauptkampflinie zu errichten, die im kommenden Meinungsstreit von zentraler Bedeutung sein sollte; denn es ging nun darum, der politischen Mentalität Rechnung zu tragen, der sich grob gesagt im Gegensatz: Arbeiter oder Intellektuelle niederschlug.

Nach den vorliegenden Berichten dürfte die Konferenz vermutlich ca. 600 Teilnehmer gehabt haben, und es ging wohl darum, genauere (organisatorische) Vorstellungen zu präzisieren. Dominiert wurde die Konferenz vom Bochumer SDS, der Roten Garde und der Betriebsgruppe I. Anerkanntes Ziel der Konferenz war wohl, nun eine „bewusste politische Arbeit“ zu entfalten, “Sozialdemokratismus und Revisionismus“ (43) zu überwinden. Die Aufforderung der Roten Garde NRW: „Organisiert Euch in den Roten Garden“ entsprach im übrigen auch der Konzeption der auf der Konferenz aktiven B.I, die in einem Referat schlussfolgerten, dass „der Aufbau einer marxistisch-leninistischen Partei als aktuelle Tagesaufgabe“ (44) angesehen werden muss, dass es notwendig sei, in die „ideologische Diskussion mit der KPD/ML“ einzutreten.

Beide Gruppen, die B. I und die Roten Garde NRW standen sich in einem gewissen Konkurrenzverhältnis gegenüber. Keineswegs war es so, dass sich alle Gruppen mit dem stalinistischen Kadergehorsam der Roten Garden anfreunden konnten; sie waren aber bereit, sie zu tolerieren; andere gingen mit der B.I zusammen, wieder andere unterstützten die SALZ Konzeptionen. Die Roten Garden/KPD/ML und die B.I. vertraten gleichermaßen einen gewissen politischen Führungsanspruch, dem man sich anschließen konnte, oder nicht. Führungsansprüche waren normal, jede örtliche Gruppe hatte sie, auch wenn darin nur eine oberflächliche und auf Effekthascherei angelegte Gelehrsamkeit angesiedelte war. Was dominierende intellektuelle Gruppen einfach auszeichnete, war geschultes Detailwissen gepaart mit den Versuchen, ihre organisatorische Selbständigkeit aufzugeben, die politische Perspektivlosigkeit zu beenden und auf eine nationale Organisation hinzuarbeiten. Das taten viele mit mehr oder weniger großem Erfolg. Selbst die spätere KPD/ML (RW) war da absolut keine Ausnahme, wenn man etwa daran denkt, dass das spätere Konstrukt der „dialektischen Einheit von Theorie und Praxis“ (45) die Flucht in schiefe Metaphern einer selbstgestrickten Philosophie ermöglichte. Die Vorläufer des KAB/ML, mit dem sich die KPD/ML (RW) später zusammentun sollte, das Zentrale Aktionskomitee in Tübingen vertrat auch nichts anderes, als den Organisationsaufbau zu vertreten, der im Ruhrgebiet Fuß gefasst hatte, und er entsprach exakt den Strukturen, die man an der B I zu kritisieren glaubte. Doch in ihr hätte sich „schon der Keim des späteren Zentral-Büros“ (46) abgezeichnet.

  

6. Die Zeitung „Proletarische Linie“

Im gewissen Sinne wurde an einer Erstellung radikaler sozialistischer Weltbilder gearbeitet, die verschiedene marxistisch-leninistische Gruppierungen um straff organisierte Minderheiten herum, einzulösen gedachten. Mit dem Auftreten der B.I. sollte in diesem Sinne ein systematisches Aktionsprogramm einen Schlussstrich unter das Zirkelwesen ziehen; eine Zeitung sollte helfen, die Verbindung zu den einzelnen Gruppen auszubauen. Die Konzeption dafür wurde bereits auf der Konferenz am 6. 12. 1969 erläutert, später um die Frage eines Redaktionskomitees modifiziert: „Die Zeitung hat die Aufgabe, die ideologische Auseinandersetzung im Zirkelwesen schon unter einheitlicher ideologischer Führung voranzutreiben, mit dem Ziel, der Liquidierung des handwerklichen Zirkelwesen, also der Schaffung einer marxistisch-leninistischen Partei. Die Zeitung muss ... unter einheitlicher Redaktion geführt werden. Dann soll eine neue Delegiertenkonferenz die Redaktion entweder bestätigen oder abwählen. Die ideologische Auseinandersetzung muss über den Hauptwiderspruch der Epoche, über die Frage der richtigen Organisation des Proletariats, über die Frage der Strategie und Taktik des Klassenkampfes, über die Bündnisfrage, über Inhalt und Ziele von Agitation und Propaganda, über die Frage des Hauptfehlers des Zirkelwesens, dem Ökonomismus in all seinen Erscheinungsformen geführt werden.“ (47) War zunächst eine 0-Nummer geplant, die aber nicht erschien, so konnte auf dieser Grundlage und als Ergebnis verschiedenen Abstimmungen, Anfang Februar 1970 die Nummer 1 des Organs „Proletarische Linie-Organ der Marxistisch-Leninistischen Zirkel im Ruhrgebiet.“ (48) erscheinen. Dort wurde die Konzeption einer stringent maoistischen Kaderpartei vertreten.

Die KPD/ML (RW) qualifizierte das Engagement der Verfasser damit ab, dass die B.I. eine „eigene marxistisch-leninistische Partei zu gründen gedachte“ (49) und sah in der „Proletarischen Linie“ ein „Täuschungsmanöver der Trotzkisten“. (50) Untermauert wurde dies mit einem Schaubild, dass sie in der Mitte eines weitverzweigten Agentennetzes (51) zeigt. Jedoch gehörte die „Proletarische Linie“ zu den vielen Schriften, die verbreitet wurden, um ideologisch, politisch und organisatorisch führend zu wirken, um sich abzugrenzen, zu agitieren aber auch um Mitglieder zu gewinnen. Sie war weder „Eintrittskarte“ noch wurde sie „zum Schein propagiert“. (52) Sie hatte innerhalb Bochums und des Ruhrgebiets gewichtigen Einfluss, weil die Parteiaufbaukonzeption, die sie vertrat (um einen zentralen Kern herum, mit einer zentralen Zeitung im Mittelpunkt und dem Aufbau von Landesverbänden) längerfristige Mobilisierungsfähigkeiten möglich machte und eine organisierende Rolle einnahm, die einfach mehr Zuspruch erhielt, als die Dickhut Konzeption. Womöglich profitierte das Zentralbüro von diesem Bonus; denn die kurze Zeit später erschienenen „Thesen des Zentralbüros zum Parteiaufbau“ (53), spiegelten die ideologischen Konfrontationen wider, die dann auch zum Bruch mit ihm führen sollten.

Der Anschluss dieses Zirkels an die KPD/ML war indes nicht nur durch die „Proletarische Linie“ vorbereitet worden. Bereits am 11. Januar 1970 wurde auf einer zweitägigen Konferenz von Ruhrgebietsgruppen über den Aufbau einer strammen marxistisch-leninistischen Kaderpartei diskutiert. Und Ende Januar wurde bereits damit begonnen, ein organisatorisches Bündnis mit vier Gruppen zu schließen und mit ihnen politische und ideologische Arbeit zu intensivieren. Auch das nahm die KPD/ML (RW) zum Anlass, ihr Sozialismus Bild in die Worte zu kleiden „Hütet Euch vor den trotzkistischen Spaltern“. (54) Man kann sagen, dass es ihr auch damit um eine Abschottung ging, die sich an das Vorbild der Weimarer KPD, und deren Glauben an die proletarische Weltrevolution orientierte. Die versuchte Korrektur mit dem westdeutschen Industrieproletariat den immer größer werdenden Abstand zwischen Leitung und Mitgliedschaft zu kaschieren, führte jedoch auch sie in die zunehmende Erfolglosigkeit.

  

7. Hauptseite Theorie - Hauptseite Praxis

Permanente Streitigkeiten innerhalb der KPD/ML waren nicht nur mit Reibereien der eigenen lokalen örtlichen Führer untereinander verknüpft, die ihre unabhängigen Königreiche verteidigen wollten, wie es etwa 1969 noch üblich war, als ganze Landesverbände (55) sich in einer politischen Auseinandersetzung befanden. Sie lagen auch darin begründet, dass die Rekrutierung von sog. proletarischen Kadern auf erhebliche Schwierigkeiten stieß. Anfang des Jahres 1970 stellte sich diese Frage radikaler als es um den Aufbau großräumiger organisatorischer Strukturen ging. Denn die Partei neuen Typus, die die KPD/ML zu verwirklichen gedachte, sollte sich mit der strikten Durchsetzung des innerparteilichen Zentralismus und einseitiger Willensbildung von oben nach unten gegen die Angriffe der Fraktionen zur Wehr setzen. Damit sollte sich allerdings der eigentliche Streit auch zuspitzen.

Das Ziel sei es nun, „den Klassenkampf zu organisieren“. (56) Die Herausgabe der Betriebszeitung der KPD/ML-Betriebsgruppe bei der Schallplattenfirma Electrola in Köln sei „als Organisator von Streiks und Arbeitskämpfen“ ein hervorragendes Mittel, ein „sozialistisches Bewusstsein“ zu heben. (57) Weitere Betriebszeitungen und zentrale Flugblätter sollten folgen (58), die alle den „revolutionären Kampf“ und die „Arbeitermacht“ propagierten. Symptomatisch für diese propagandistische Taktik und Methode war, durch praktische Betriebsarbeit und der Herausgabe von Betriebszeitungen in innerbetriebliche Ereignisse und Abläufe einzugreifen; die Arbeiter in Betriebsgruppen zu organisieren, um somit im Kampf gegen das Unternehmertum und die „Betriebs- und Regierungsknechte“ (Meister, Vorarbeiter, Arbeiteraristokratie, Betriebsleiter, Sozialdemokratie, Gewerkschaftsführer usw.) die betrieblichen Keimzellen für die Revolution zu schaffen. Das frühe Zentrale Betriebs- und Gewerkschaftskomitee der KPD/ML wollte mit spitzer Feder und flinker Zunge die „praktische Tätigkeit in der Arbeiterbewegung“ (59) einlösen. Daran könne ersehen werden, dass die KPD/ML durchaus in „engster Verbindung mit den Massen“ (60) stand. Spätere Erfolge bei Betriebsratswahlen (61) können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Begeisterung bei gewissen Aktionen der Arbeiterschaft jedoch dadurch niemals politische Gestalt annahm.

Dem ZK der KPD/ML warf der „Revolutionäre Weg“ generell vor: wer „die Durchführung der proletarischen Linie“ behindert (62), orientiert sich nicht auf die Arbeiterklasse. Eine Reihe von ZK-Mitgliedern und Ortsgruppen empfanden die Quintessenz dieser Erklärungen um die Festlegung einer solchen „proletarischen Linie“ als Angriff auf ihre politische Generallinie und dachten gar nicht daran, sich und die „bolschewistische Partei leninistischen Typus“ den späteren ‚Parteifeinden’ zu unterwerfen. Die rebellierenden Intellektuellen, die gegen diese Darstellung opponierten, wollten nun selber die „führende Rolle der Arbeiterbewegung“ (63) übernehmen. Die KPD/ML (RW), die sich mit dieser „Verschmelzungstheorie“ (64) nicht einverstanden erklärte, schrieb im RW 4/1970 fest: „Es gilt, eine richtige proletarische Linie in der Praxis zu entwickeln“ (65), im Vordergrund müsse dabei „die Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit“ stehen (66), oder „Schwerpunkt in den Betrieben“, wie es noch der Leitartikel im „Roten Morgen“ vom Oktober 1969 (67) zum Ausdruck brachte. Dagegen setzten die Rotgardisten aus NRW: „Rebellion ist gerechtfertigt“. (Mao Tsetung)

Auf der Januar-Sitzung 1970 des ZK gab es erneut heftigen Streit, weil nun einige meinten, dass das ZK nicht bereit sei, den „demokratischen Zentralismus“ zu verwirklichen (68) und es würde deshalb den „marxistisch-leninistischen Kurs“ verlieren. (69) Notwendig sei nun ein „Klärungs- und Reinigungsprozess“ (70) Dieser könne „das Eindringen kleinbürgerlicher Elemente“ (71) verhindern. Im Umgang mit dem politischen Gegner war die ideologische Verwirrung jetzt umso enormer: niemand konnte erklären warum nun plötzlich eine Idee zur „schwarzen Linie“ wurde. (72). Allen Ortsgruppen wurde mehr oder weniger ein restriktiver Kurs verordnet. Das ZK warnte, die Ortsgruppen Moers, Alsdorf, Düsseldorf, Duisburg, Essen und Solingen, unterstellte der Landesleitung NRW und den Ortsgruppen in Bochum, Berlin, Dortmund, sie seien „demagogisch“ (73) und versuchten „ihre individuelle Einstellung unter dem Deckmantel des Marxismus-Leninismus in die Partei hineinzutragen“. (74)

Auf Funktionärskonferenzen im Januar und Februar 1970 war es vorbei mit lustig. Das ZK, das kurz vor der Auflösung stand, rette sich auf einer Bochumer Tagung nur noch mit dem Versprechen, eine „Klassenanalyse“ anzufertigen. Dabei seien „marxistisch-leninistische Studenten eine wertvolle Hilfe“. (75) Erstmalig in der Geschichte der KPD/ML gab es einen - wenn auch nur ausgesprochenen - theoretischen Hinweis auf eine kommenden Schwerpunkt, ein Weg von der permanenten Sakralisierung der Politik und den Gedanken daran, sich auch mit Fragen zu beschäftigen, die bisher niemand ernsthaft in Erwägung gezogen hatte. Natürlich konnten die Höhenflüge des ZK nicht eingelöst werden, was sich noch später zeigen sollte. Der NRW Landesvorsitzende, Willi Dickhut (später Gerd Winterkamp), konterte mit dem Schlagwort „die Stadt den Arbeitern, und das Land den Bauern“. (76) Seine Polemik forderte dazu auf, den „Kampf zweier Linien“ zu führen. (77)

Wie scharf die Meinungen aufeinander schlugen, erklärte die „Geschichte der MLPD“: Das ZK „gab ihren eigenen gefassten Beschluss wieder frei für die kleinbürgerliche Überwucherung. Im Kampf zweier Linien hatte die kleinbürgerlicher Linie gesiegt“. (78) So lapidar auch diese Sätze erschienen, sie zeigten, dass es in der Geschichte der Polemik um einen der übelsten Vorwürfe ging: man beschuldigte den politischen Gegner einfach, sich mit Hilfe rhetorischer und sprachlicher Tricks unlauter Macht verschafft zu haben. Dass Misstrauen aber ging noch tiefer. Bereits im August 1969 wurde in der Berliner Roten Garde sog. „Dazibaos“ bekannt, die unter der Losung erschienen „Das Hauptquartier bombardieren“. Unterschwellig war das ein Schemata Denken, dass noch eine große Rolle spielen sollte. Führende Parteigenossen hätten die „festgelegten Ziele der Partei bereits längst hinter sich gelassen“ ... und hätten „gestellten Aufgaben, die Arbeiterklasse für den revolutionären Kampf zu organisieren, bereits längst vergessen“. (79)

Das „Dazibao“ aus dem August 1969 hatte in dem „Aufruf der Roten Garde NRW“ Anfang März 1970, einen würdigen Nachfolger gefunden. In der ersten Ausgabe des theoretischen Organs der Roten Garde NRW des faktisch schon existierenden aber noch nicht formell konstituierten Zentralbüros, erschien der neue Aufruf „Das Hauptquartier bombardieren“. (80) Niemand wetterte so fulminant gegen das ZK wie sie. Das Potential für all diese Widersprüche legte es selbst. Die ‚Rote Garde NRW’ begann nun mit dem Kampf in den eigenen Reihen. Und sie blickte dabei auf das Vorbild der Roten Garden, die in der chinesischen Kulturrevolution gegen die verhassten Parteibürokaten zu Felde zogen.

Sie, die in China das spätmaoistische Erbe antraten, stellten sich, wie der Vorsitzende (MAO) selber, auf einen radikal-bürgerlichen Standpunkt, indem sie etwa mit den entlarvten Kapitalistenknechten hart ins Gericht gingen und nach allen Regeln der Kunst eine zurechtgemachter Politschau nach der anderen inszenierten, in der Kader der zweiten oder dritten Garnitur vor den Massen erscheinen mussten, um in Reue und Zerknirschung ihre revisionistischen Sünden zu bekennen, um dann als Opfer nach Ende der Prozedur mit hohen Papierhüten angetan durch die Straßen geführt zu werden. War diese anarchistische Linke vielleicht das Vorbild für die politische Tonart, die die Roten Garden anschlugen, waren sie nicht nur das genaue Abbild der Altmeister des chinesischen innerparteilichen Kampfes?

Seit dem Sommer 1969 verfestigte sich in der Roten Garde jener bürokratischer Stil, der die proletarische Reinheit der Jugendorganisation als ‘natürliches Interesse’ ausweisen sollte, als es nämlich um die Frage ging: wie soll eine Jugendorganisation des Proletariats aufgebaut werden? So sollte die „organisatorische Selbstständigkeit als Jugend/Massenorganisation“ gewährleistet sein, das „Prinzip des demokratischen Zentralismus“ auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus allseitig anerkannt sein- niemand sollte sie „dekretieren und/oder kommandieren“. (81) Die Rotgardisten verstanden sich als Gralshüter der Revolution, die sich im Besitz der Wahrheit glaubten; die alten Autoritären hatten ausgedient, ihre Macht sollte Schritt für Schritt kleiner werden, und die ‘jugendlichen Kämpfer’ bekämpften einen Stil, den sie als großes Erbe übernommen hatten, der jedoch in Wirklichkeit nichts anderes als die Stabilität der maoistischen Ansätze war. Je häufiger sie mit einer Massenflut von Papier ihre Auffassungen begründeten, desto mehr Munition gab man dem Gegner (ZK), der nun zum Gegenangriff startete. Westberlin wollte keine starke führende Rote Garde.

Das Zentral-Kollektiv (82), das mit der Gegenüberstellung „erst Theorie dann Praxis“ (83) nach den Hinweisen auf eine Klassenanalyse ein weites mal vorstellig wurde, um der KPD/ML ein modernes ideologisches Outfit zu verpassen, musste sich im übrigen völlig zu unrecht den Vorwurf gefallen lassen, sie würden mit dem ZK „unter einer Decke stecken“ (84), die „Praxis liquidieren“, den „demokratischen Zentralismus“ aufheben, sich „zur starken führenden Gruppe über die Rote Garde aufschwingen“. Das Pamphlet „Das Berliner Z Koll und das Zentralkomitee unter einer Decke“ (85), dass in jenen Tagen, vom Landesverband der Roten Garde NRW verfasst wurde, ließ NRW zum Hauptträger der Fraktionskämpfe werden. Der Kampf gegen die Apparatschiks (86) konnte nun konkretisiert werden. Die proletarische Linke machte den Jugendbeauftragten des ZK (87) für die Unmündigkeit verantwortlich; Ernst Aust spinne in Hamburg „Fäden gegen die Rote Garde“ (88); und überall verhindere das ZK „die Selbständigkeit des Jugendverbandes“. (89) Die Reste des Berliner Angestelltenkollektivs (90) sattelten sich auf die Prinzipien der Kommunistischen Jugendinternationale über die Aufgaben eines Jugendverbandes (91) und war schon darüber pikiert, dass es Menschen gab, die Bücher lasen; Mitglieder der Roten Garde NRW bastelten bereits intensiv an ihren Formulierungen, dem Hauptquartier Opportunismus vorzuwerfen. Das war die Basis, die dem kommenden Zentralbüro Konturen verleihen sollte. Das ZK konnte dies alles nicht zulassen; denn es war bereits in der „Peking Rundschau“ (92) verewigt und hatte bei Radio Tirana in der Sendung „Die kommunistische Weltbewegung wächst und erstarkt“ (93) großen Kredit eingefahren. Eine Opposition gegen Vorgaben der höchsten Leitung konnte es nicht zulassen. Der parteischädigenden Fraktionierung musste ein Riegel vorgeschoben werden.

All das ging zeitlich dermaßen schnell über die Bühne, dass oftmals selbst die Leitungsorgane nicht wussten, von wem welches Papier stammt. In den ersten beiden Monaten des Jahres 1970 wurde jede Menge Papier bedruckt. Die Auflehnung gegen das ZK wurde nun auch noch zusätzlich Bundesweit organisiert. Die Rebellen hatten kein Interesse mehr daran, das Schiff flott zu machen. Sie suchten nach einer eigenen Organisationsform, mit der sie ihre „Hauptseite Praxis“ verwirklichten konnten. Die sich herausbildende Oppositionspartei und der sich nun beschleunigende Gründungsprozess des Zentralbüros befand sich im Einklang mit dem Willen zahlreicher Initiativen gegen die Bundespartei. Schon aus diesem Grunde gibt es auch kein zeitlich fixiertes Datum der ZB Gründung, und auch aus diesem Grunde firmierte das Kürzel KPD/ML noch lange Zeit munter weiter; mal als ZK der KPD/ML, als KPD/ML (RW), als KPD/ML-Zentralbüro, oder als KPD/ML (Neue Einheit).

Sie setzte frühestens mit der Bochumer Vietnam-Demonstration vom 20. 12. 1969 ein, und endete spätestens mit der Herausgabe der 1. Ausgabe der „Roten Fahne“ des Zentralbüros im Juli 1970. Dazwischen lagen eine Reihe von Ereignissen, die auf dem Weg dorthin, eine wesentliche Rolle spielen sollten, Hieb und Gegenhieb erfolgten mit derartigen Geschwindigkeiten und solcher Heftigkeit, dass z. B. selbst dem RW 4/1970 entging, dass viele Dokumente, die er abdruckte oder als Faksimile in der „Warnung“ veröffentlichte, völlig legitim und legal waren, die weder das Werk von „Denunzianten“ waren oder „gefährlichen Subversiven“, sondern einfach nur der Stil politischer Dialektik 1969/1970 war. (94)

In der Ausgabe 1/1970 des „Roten Morgen“ erschien der Leitartikel: „Bauen wir eine starke bolschewistische Partei auf“. Er war untergliedert in 1. Warum braucht das Proletariat eine Partei? 2. Warum braucht das Proletariat eine bolschewistische Partei? 3. Wie bauen wir jetzt die bolschewistische Partei auf? 4. Schwerpunkt in der Theorie. In ihm wurde erstmals in der westdeutschen Mao-Bewegung die Forderung nach einer „Hauptseite Theorie“ erhoben. Daraus ist Heraus zum 1 Mai! eine längere Passage zu zitieren: „Die moderne Geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen. In der Epoche des Kapitalismus ist es der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, welcher der Geschichte seinen bestimmenden Stempel aufdrückt. Wie der Marxismus beweist, wird dieser Kampf mit der Erringung der politischen Macht des Proletariats und des Übergangs zur klassenlosen Gesellschaft ohne Privateigentum enden. Triebkraft dieser Entwicklung ist in der Epoche des Kapitalismus das für die Erlangung seiner politischen Herrschaft kämpfende Proletariat. Wie in aller bisherigen Geschichte noch keine Klasse zur Herrschaft gelangt ist, ohne ihre eigenen politischen Führer hervorgebracht zu haben, die fähig waren, die Bewegung zu organisieren und zu leiten. Um ihrer Klasse am wirkungsvollsten dienen zu können, schließen sich die besten und aktivsten Vertreter jeder Klasse in einer Organisation zusammen, die Partei genannt wird. Eine Partei ist die politische Organisation einer Klasse, die deren besten und aktivsten Vertreter, die immer nur eine Minderheit der Klasse ausmachen, vereinigt um den Kampf der gesamten Klasse mehr Wucht zu verleihen. Auch die Führer der Arbeiterbewegung schließen sich in einer Partei zusammen, um ihrer Klasse noch besser dienen zu können. Genau wie die anderen Klassen braucht das Proletariat eine eigene Partei, die fähig ist, seinem Kampf größere Wucht zu verleihen. Es gibt jedoch einen Umstand, der der Existenz einer Partei des Proletariats besondere Notwendigkeit verleiht: Zusammen mit der historischen Herausbildung des Kapitalismus vollzogen sich relativ unabhängig voneinander einerseits die Entwicklung einer spontanen Arbeiterbewegung, andererseits die Entwicklung der Wissenschaft bis zur Stufe der Aufdeckung der objektiven Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung, die besagen, dass das Proletariat zur herrschenden Klasse und zur vollständigen Emanzipation durch Liquidierung des Privateigentums gelangen wird, während sich alle anderen Klassen ihm unterzuordnen haben. Von dieser Entwicklungsstufe der Wissenschaft an war es offensichtlich, dass das Proletariat fortan als einzige Klasse ein Interesse an konsequenter Wissenschaftlichkeit hat, da anders als bei den übrigen Klassen die objektiven Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung mit seinen Interessen zusammenfallen. Die andere Entwicklung, die spontane Arbeiterbewegung entsteht auf Grund der sich ständig verschärfenden Ausbeutung, die das Proletariat am eigenen Leibe erfährt und der es sich widersetzt. Infolge seiner elenden Klassenlage ist es jedoch dem Proletariat nicht möglich, über die sinnliche Erfahrung der Ausbeutung hinauszukommen und den Sprung zur rationalen Erkenntnis zu vollziehen. Wegen der raffinierten Verschleierung der kapitalistischen Ausbeutung ist diese nur durch wissenschaftliche Analyse zu erkennen, sie offenbart sich nicht in der Erscheinungsform der gesellschaftlichen Verhältnisse, die der Arbeiter sinnlich erfährt. So neigt der Arbeiter spontan immer eher der bürgerlichen Ideologie zu, die die Erscheinungsformen der gesellschaftlichen Verhältnisse als deren Wesen ausgibt, um den Kampfeswillen der Arbeiter in für die Bourgeoisie ungefährliche Bahnen zu lenken. Die spontane Arbeiterbewegung ist daher blind, ein Schiff ohne Kompass, das die Bourgeoisie in die Irre führt, wenn sie sich nicht von einer wissenschaftlichen Theorie leiten lässt, die das Wesen der gesellschaftlichen Verhältnisse bloßlegt und die realen Bedingungen ihrer Veränderbarkeit zeigt ... Dass das Proletariat unter den Bedingungen des Kapitalismus jeglicher Möglichkeiten der wissenschaftlichen Betätigung beraubt ist, kann diese wissenschaftliche Theorie, der dialektische und historische Materialismus, der Marxismus-Leninismus, dem Proletariat nur von außen, von Vertretern der Intelligenz gebracht werden. Daran hat nicht nur das Proletariat Interesse. Die Vertreter der Intelligenz, deren Weltanschauung der dialektische und historische Materialismus ist, haben ebenfalls ein großes Interesse daran, dem Proletariat diese Weltanschauung zu überbringen, da sie wissen, dass das Proletariat die einzige Kraft ist, auf die sie sich im Kampf für ihre Ziele stützen können ... Die erfolgreiche Initiative für die praktische Verwirklichung dieser Vereinigung geht notwendigerweise von der Intelligenz aus, da sie allein über die für diese Vereinigung notwendige Theorie verfügt, während die spontane Arbeiterbewegung, wenn auch zuweilen sehr schwach, ständig vorhanden ist ... Das größte Erfordernis einer solchen Partei ist die bestmögliche Bekämpfung jeglichen Opportunismus und Kapitulantentums. Dazu ist die Partei aber nur in der Lage, wenn es ihr gelingt, ihre eigenen Reihen von opportunistischen Elementen vollkommen freizuhalten; sie muss also auch bei ihrer Organisationsform darauf achten, dass diese eine möglichst scharfe Waffe gegen das Aufkommen des Revisionismus darstellt. Die Grundzüge der Partei, die das Proletariat braucht, sind daher durch den demokratischen Zentralismus, der strikten Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit, der unteren Organe unter die oberen, der proletarischen Disziplin, und des Verbots jeglicher Fraktionsmacherei bestimmt. Der Neuaufbau einer solchen Partei wurde zu einer objektiven Notwendigkeit, nachdem der vollkommene Übergang der KPD/DKP zum Revisionismus derart offensichtlich war, dass die organisatorische Trennung von ihnen unumgänglich wurde ... Wenn wir unser Blickfeld auf das Gebiet Westdeutschlands einengen, so scheinen wir uns in einer Phase der ziemlichen friedlichen Entwicklung zu befinden. Es wäre jedoch vollkommen falsch, unter Hinweis auf diesen trügerischen Sachverhalt zu empfehlen, auch nur die geringsten Abstriche an den Bemühungen zur Schaffung einer revolutionären Kampfpartei vorzunehmen. Im Gegenteil, gerade in den Perioden der relativ friedlichen Entwicklung unternehmen wir die allergrößten Anstrengungen, uns auch organisatorisch auf die offenen revolutionären Klassenschlachten, den Bürgerkrieg vorzubereiten; bricht dieser ungeahnt heran, so ist es bereits zu spät. Unsere gesamten organisatorischen Bemühungen lassen wir von der Notwendigkeit des Kampfes für die Diktatur des Proletariats leiten und nicht von den Erfordernissen des Tageskampfes in einer scheinbar noch so friedlichen Periode. Das erfordert den schonungslosesten Krieg gegen jeglichen Opportunismus, der sich natürlicherweise in relativ friedlichen Perioden am leichtesten breit macht. Bereits in der Aufbauphase muss die größte Aufmerksamkeit der Reinhaltung der Partei von opportunistischen Elementen gewidmet werden. Das wiederum ist unmöglich, ohne von Anfang an alle Prinzipien des demokratischen Zentralismus, der Disziplin, des Fraktionsverbots, der Kombinierung der legalen mit der illegalen Arbeit etc. konsequent durchzuführen. Nicht, dass die Einhaltung dieser Prinzipien den Opportunismus von selbst verhinderte, sie stellt lediglich die notwendige organisatorische Waffe zu seiner Bekämpfung dar. Die Hauptwaffe auch zur Bekämpfung des Opportunismus ist selbstverständlich die proletarische Politik; die organisatorischen Prinzipien müssen jedoch derart beschaffen sein, dass sie dieser Politik am besten dienen ... Im Prozess der Schaffung der Partei können wir zwei Phasen unterscheiden: 1. Phase des Gewinns der Avantgarde des Proletariats für den Kommunismus, der Sammlung der Avantgarde um ein auf wissenschaftlichen Analyse beruhendes Programm und die ihm dienenden Grundzüge der Strategie und Taktik, und 2. die Phase der politischen Aktion der von der Partei geführten Millionen-Massen. Von einer bolschewistischen Partei im eigentlichen Sinne kann man erst sprechen, wenn sie die zweite Phase erfolgreich meistert, wenn sie von den Massen als Führerin anerkannt wird. Wir befinden uns zur Zeit am Beginn der ersten Phase, wir haben noch nicht einmal ein Programm. Diesen Tatbestand klar zu erkennen, hat wichtige praktische Konsequenzen. Der Kommunismus, für den wir die Avantgarde des Proletariats gewinnen wollen, ist kein Brocken totes Buchwissen, den wir den Massen in der Erwartung vorsetzen können, dass sie ihn schlucken, sondern konsequent revolutionäre Anleitung zum Handeln, ein Feind jeglichen Dogmatismus. Der Marxismus-Leninismus ist für uns heute kein fertiges Rezept, sondern heroisches Beispiel für konkrete Analyse der konkreten Situation. Wir müssen erst noch lernen, die allgemeingültigen Wahrheiten des Marxismus-Leninismus mit unserer konkreten Praxis zu verbinden, wir müssen erst noch analysieren, in welcher Erscheinungsform sich bei uns diese Grundzüge jeglicher proletarischen Revolution durchsetzen. Wir müssen dazu in der Lage sein, voraus zu blicken, das notwendige Verhalten aller Klassen der Gesellschaft in der zukünftigen Entwicklung im voraus zu bestimmen; wir müssen diese wissenschaftliche Prognose massenhaft propagieren und den Volksmassen Gelegenheit geben, sich durch ihre eigenen Erfahrungen von der Richtigkeit unserer Analyse zu überzeugen, damit sie praktisch die Konsequenzen ziehen, die wir theoretisch gezogen haben. Haben wir jedoch eine solche korrekte Analyse samt ihren Schlussfolgerungen nicht, so werden unsere Bemühungen von vornherein zum Scheitern verurteilt sein. Bevor wir auf diesem Gebiet keine Fortschritte erzielen, wird es uns un- möglich sein, die Avantgarde des Proletariats zu gewinnen; die Massen werden nur dann dem Kommunismus zustreben, wenn wir erläutern können, wie er als einzige Alternative aus der widersprüchlichen Entwicklung der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse entspringt; schaffen wir das nicht, so wird der Kommunismus den Massen fremd bleiben, da er ihnen dann als beziehungslos zu ihrer tagtäglichen Erfahrung erscheint. ... Daraus folgt, dass in der nächsten Zeit der Schwerpunkt unserer Arbeit auf dem Gebiet der Theorie liegen muss. Wir müssen eine prinzipielle Erörterung der Grundfragen der Bewegung eröffnen und uns dabei auf wissenschaftliche Analysen und nicht auf unsere Wunschvorstellungen stützen. Die Grundfragen der Bewegung können keinesfalls dadurch als geklärt angesehen werden, dass wir uns verbal pauschal zum Marxismus-Leninismus und sogar auch zu den Maotsetung-Ideen bekennen; Liu Schao-tschi tat dies auch. Um nicht Missverständnisse derart aufkommen zu lassen, dass hier empfohlen wird, sich vorerst in die Studierstuben zurückzuziehen, die Praxis so lange auszusetzen, bis man sich in den Studierstuben gründlich genug auf sie vorbereitet hat, soll das Verhältnis von Theorie und Praxis in der jetzigen Etappe näher erläutert werden. Oben wurde festgestellt, dass wir uns in der Phase der Gewinnung der Avantgarde des Proletariats für den Kommunismus befinden. Es ist sicher richtig, dass wir diese Aufgabe nicht durch theoretische Arbeit erfüllen, sondern durch breit angelegte Propaganda und auch Agitation, zweifellos praktische Betätigung. Die jetzige Etappe ist jedoch dadurch gekennzeichnet, dass ungeklärte theoretische Fragen das Haupthindernis zur erfolgreichen Ausweitung unserer Propaganda darstellen. So wie die Praxis immer der Theorie vorangeht, haben auch wir mutig mit Propaganda und Agitation begonnen ... Wir müssen dabei lernen, dass eine Unmenge von Fragen aufgeworfen wurden, auf die wir keine befriedigende Antworten geben konnten, weil diese nur hätten das Ergebnis wissenschaftlicher Analysen sein können, die wir noch nicht geleistet hatten. Es handelt sich bei diesen Fragen keineswegs um Randprobleme, sondern haupt- sächlich um Grundfragen der Bewegung, solche wie nach dem Verhältnis der verschiedenen Klassen zueinander, den Auswirkungen der fortschreitenden imperialistischen Entwicklung auf die Lage dieser Klassen, Fragen nach unserer Stellung zur nationalen Frage in Deutschland und Europa etc. Die Praxis selbst ist es also, die in dem Widerspruch zwisen Theorie und Praxis die Theorie zur hauptsächlichen Seite werden lässt. Die Betonung der großen Bedeutung der Praxis darf uns nicht davon abhalten, diese Praxis auch auszuwerten, zu verallgemeinern und die sich stellenden theoretischen Fragen zu lösen. Die Tatsache, dass die theoretischen Aufgaben für uns momentan die dringlichsten sind, bedeutet also keinesfalls eine Aussetzung der Praxis, wofür arbeiten wir denn theoretisch, wenn nicht um den Weg der Praxis zu beleuchten. Die Theorie muss unter korrekter Einbeziehung unserer Situation entwickelt und auf ein höheres Niveau gebracht werden, so dass unsere Praxis theoretisch eine Stütze erhält und gleichfalls auf ein höheres Niveau gebracht werden kann. Davon ausgehend, dass es das Ziel der gesamten ersten Phase ist, an deren Beginn wir jetzt stehen, die Avantgarde des Proletariats für den Kommunismus zu gewinnen, ist es unmöglich, dass die dafür jederzeit notwendige Propaganda, die in der ersten Phase die Hauptform der Praxis darstellt, auch nur einen Augenblick lange aufgegeben wird. Auf allen Gebieten, auf denen wir das bereits können, müssen wir selbstverständlich unaufhörlich den Marxismus-Leninismus propagieren und uns kämpferisch mit allen dem Marxismus fremden und feindlichen Ideologien auseinandersetzen. Wir müssen bestrebt sein, überall eine revolutionäre öffentliche Meinung zu schaffen, und hauptsächlich in der ideologischen Sphäre arbeiten. Auch müssen wir überall entschieden für die Interessen der Massen eintreten, damit diese erkennen, dass wir ihnen helfen wollen und sie so überhaupt erst an unserer Propaganda interessiert sind. Je besser wir diese praktischen Aufgaben erfüllen, desto leichter wird es uns fallen, die Avantgarde des Proletariats für den Kommunismus zu gewinnen ... Die Arbeit an der Zeitung (gemeint ist das ZO ‘Roter Morgen’, d. Vf.)ist die einzige Tätigkeit, die dazu zwingt, sämtliche Fähigkeiten herauszubilden, die für eine bolschewistische Partei notwendig sind. In der Zeitung müssen einerseits alle Probleme erörtert werden, die mit der theoretischen Arbeit zusammenhängen, es muss eine prinzipielle Erörterung der Grundfragen der Bewegung organisiert werden, andererseits ist die Zeitungsarbeit das hauptsächliche Mittel für unsere Propaganda.“ (95)

Es war dieser Artikel, der u. a. die bereits laufende Spaltung der KPD/ML sanktionieren sollte. Und gleichzeitig wurde auch immens die Loslösung von einer „Weißen Verschwörung“ (96) vorbereitet. Angeblich hatte die Berliner Gruppe unter Führung Ezra Gerhardts die Redaktion des „Roten Morgen“ usurpiert und ging laut RW 4/1970 nun endgültig daran, „die kleinbürgerliche Linie offen zu proklamieren“. (97) Wie lange konnte man einen solchen Konflikt tolerieren? Das ZK stand im Abseits und die ‘Roten Garde NRW’ begannen mit ihrer für sie typischen Rebellenpolitik die Autoritäten vom Sockel zu stoßen. Pünktlich zur Landesdelegiertenkonferenz am 7.3/8.3.1970 (98) erschien daher der Aufruf der ‚Roten Garde NRW’ oder die „0-Nummer des Bolschewik - theoretisches Organ der Roten Garde“, in dem dazu aufgerufen wurde, „Das Hauptquartier bombardieren.“ Das Dokument, dass vermutlich am 4. 3. 1970 in Gelsenkirchen verfasst wurde, zog seine Dynamik aus seiner radikalen Sprache und machte der kulturrevolutionären chinesischen Bewegung alle Ehre. Der Kern lautete schlicht: Rebellion ist vernünftig! Die Basis hat das Recht, die Autorität der Führung in Frage zu stellen. Blickt man auf die maoistischen Modelle zurück, so erklärt sich, warum man diesem Ansatz eine feste materielle Basis geben musste; denn ohne verbale Repressionsmittel wäre es unwahrscheinlich gewesen, dass eine sich bereits vollziehende (Re-) Bürokratisierung ohne durchgreifenden Protest Erfolg gehabt hätte.

In dem Dokument hieß es: „Der Landesverband Nordrhein-Westfalen ruft hiermit alle Rotgardisten in Deutschland dazu auf, den Kampf aufzunehmen gegen die Partei- und Rote Gardefeindliche Fraktion, die die Führung der Roten Garde in einem Landesverband und auf Bundesebene usurpiert hat und seit geraumer Zeit dabei ist, die Rote Garde zu liquidieren. Ihr Ziel ist es, die Rote Garde Bewegung zu zerschlagen. Sie erklären offen, dass sie es nicht für schlimm halten, wenn sie die Rote Garde liquidieren und behaupten, die Rote Garde dürfe jetzt keine Massenorganisation sein. Sie sind objektive Agenten der Bourgeoisie. Sie tarnen ihre konterrevolutionären Absichten mit revolutionären Phrasen, indem sie behaupten, man dürfe die Rote Garde nicht aufbauen solange man noch keine Klassenanalyse habe. Sie tarnen die Errichtung ihrer bürgerlichen Diktatur über die Rote Garde mit der Erklärung, die Rote Garde dürfe jetzt keinen demokratischen Zentralismus haben. Deshalb solle die Partei-Landesleitung Berlin über alles in der Roten Garde bestimmen. Damit verraten sie die Grundprinzipien der III. Kommunistischen Internationale über die Jugendorganisation! Sie haben eine reaktionäre Linie geschaffen, die mit dem Marxismus-Leninismus nichts mehr gemein hat. Sie haben die Grundprinzipien des Marxismus-Leninismus über Bord geworfen und in einer solchen Lage haben alle Marxisten-Leninisten die Pflicht, diese liquidadorische Richtung zu zerstören ... Wir rufen alle Rotgardisten dazu auf, alles daranzusetzen, die Liquidatoren zu stürzen! Entfaltet die Massenkritik! Leitet eine großangelegte Kampf-Kritik-Umformung ein! Reorganisieren wir die Rote Garde!“ (99) In dem Aufruf wird weiter gegen drei entscheidende Punkte polemisiert, die auch als die eigentlichen Gründe für die Spaltung der KPD/ML anzusehen sind: 1. Frage des Verhältnis von Theorie und Praxis. 2. Verhältnis von Parteiorganisation zur Jugendorganisation (Demokratischer Zentralismus). 3. Verhältnis von Intelligenz zur Arbeiterklasse. Abgedruckt wird dieser Aufruf in einer bisher unbekannten Zeitung mit dem Namen „Bolschewik Theoretisches Organ der Roten Garde“. (100)

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