Südwestdeutscher Referendarverband (SRV) - Vereinigung der Gerichtsreferendare in Baden-Württemberg: Rote Robe, Jg. 4, Nr. 3, 9.7.1973

09.07.1973:
In der 'Roten Robe' - Organ des Südwestdeutschen Referendarverbandes Nr. 3 (vgl. 21.5.1973, 3.9.1973) erscheint u.a. ein Artikel zum Demonstrationsverbot in NRW (vgl. 1.5.1973, 18.5.1973):"
DEMONSTRATIONSVERBOT IN NORDRHEIN-WESTFALEN. STAATSAPPARAT PROBT BELAGERUNG!

Seit dem 1. Mai besteht in Nordrhein-Westfalen für die Gruppe Rote Fahne (KPD), die Gruppe Roter Morgen (KPD/ML) ein generelles Demonstrationsverbot.
Dem Widerstand gegen dieses Demonstrationsverbot begegnete der Staatsapparat mit brutalen Polizeiaktionen und einem polizeistaatlichen Aufgebot bisher nicht gekannten Ausmaßes, was seinen Höhepunkt bei der Zerschlagung der Demonstrationen in Dortmund am 18. und 19. Mai während des Breshnew-Besuches über 30 000 Mann Polizei und Bundesgrenzschutzes samt einem gewaltigen Aufgebot von Panzerfahrzeugen zusammengezogen, und zwar besonders konzentriert auf Bonn und das östliche Ruhrgebiet. Anläßlich der Demonstrationen vom 18. 5. und vom 19. 5. in Dortmund wurden rund tausend Menschen in eigens dazu bereitgestellten Turnhallen und Zivilschutzbunkern interniert. Gleichzeitig wurde die Vorbereitung der Illegalisierung der Gruppe Rote Fahne weiter vorangetrieben. Am 15. Mai wurden unter Leitung der Bundesanwaltschaft in mehreren Städten der BRD Großrazzien und Hausdurchsuchungen in Büros und Wohnungen von Mitgliedern und Sympathisanten der Gruppe Rote Fahne durchgeführt. Der inzwischen wieder freigelassene Jürgen Horlemann wurde dabei verhaftet. Haftbefehl wurde auch gegen Christian Semler erlassen, der am 25. Mai 1973 in Düsseldorf verhaftet wurde. All diese polizeistaatlichen Maßnahmen erfreuten sich der einmütigen Schützenhilfe durch die bürgerliche Presse bis hin zu linksliberalen und Teilen der linkssozialdemokratischen Presse. Das Vorgehen des polizeilichen Gewaltapparates, die Begründung der Demonstrationsverbote und das Zusammenspiel der staatlichen Institutionen mit der bürgerlichen Presse zeigen, daß es sich hier um einen wichtigen Angriff auf die Demonstrations- und Versammlungsfreiheit handelt. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Art und Weise des Vorgehens des stattlichen Unterdrückungsapparates zur Durchsetzung der Demonstrationsverbote untersucht. …

SCHRITTE POLITISCHER REPRESSION IN NRW

Innenminister Weyer hatte schon in den Wochen vor dem 1. Mai mit Hinweis auf die Bonner Rathausbesetzung anläßlich des Thieu-Besuches ein Verbot der Gruppe Rote Fahne (KPD) und ein Verbot der Gruppe Roter Morgen (KPD/ML) gefordert. Außerdem kündigte er an, im Bereich NRW alle Aktionen und Demonstrationen dieser Gruppen rücksichtslos mit Polizeigewalt zu zerschlagen.

Das erste Verbot richtete sich gegen zwei von der Gruppe Rote Fahne angemeldete Demonstration in Düsseldorf und Aachen - schon vor dem 1. Mai. Auf den 17. 4. 1973 hatte der KSV (Studentenorganisation der Gruppe Rote Fahne) ein teach-in angesetzt, auf dem über die vorangegangenen Überfälle der Polizei auf die Büros des 'Nationalen Vietnamkomitees' und der 'Liga gegen den Imperialismus' (eine Massenorganisation der Gruppe Rote Fahne)
diskutiert werden sollte. Der Rektor der Bonner Uni, Rothert (BFdW-Sympathisant) übte mit unzumutbaren, schikanösen Auflagen an die Veranstalter faktisch eine politische Zensur aus, um die gewaltsame Zerschlagung des teach-ins zu präjudizieren. Am Abend, als das teach-in dann mit den vorgesehenen Themen beginnen sollte, stand eine vom Rektor bestellte Prügelgarde der Polizei bereit, um die 250 Teilnehmer des teach-ins aus der Uni zu treiben. Am folgenden Tag ließ der Rektor die Uni schließen mit folgendem Aufruf: ' Ich rufe daher alle Professoren, wissenschaftliche Mitarbeiter und Studenten dazu auf, mit dabei zu helfen, daß an unserer Universität rechtsstaatliche, demokratische Zustände aufrechterhalten werden.'
In Düsseldorf wollte die Gruppe Roter Morgen (KPD/ML) am 24. April 1973 (vgl. 21.4.1973,d.Vf.) eine Protestdemonstration gegen den griechischen Faschismus durchführen. Die Demonstration wurde vom Polizeipräsidenten in Düsseldorf verboten. Als die dennoch stattfand, wurde sie mit Wasserwerfern und acht Hundertschaften Polizei aufgerieben. Für den 1. Mai hatte die Gruppe Rote Fahne zu einer eigenen Demonstration im Dortmunder Norden aufgerufen und diese Demonstration angemeldet, die sich als Block dem Demonstrationszug der Gruppe Rote Fahne anschließen sollte.
Auf die Anmeldungen dieser Demonstrationen reagierte das Dortmunder Polizeipräsidium lange Zeit mit Schweigen. Erst am 30. April um 12. 30 Uhr, kamen mehrere Polizeibeamte in das Dortmunder Büro der Gruppe Rote Fahne und überreichten die Verbotsverfügung des Dortmunder Polizeipräsidenten. Diese Nachricht hatte schon einen Tag vorher in Springers 'Welt' gestanden, was darauf hindeutet, daß das geplante Verbot bewußt zurückgehalten wurde und keine in allerletzter Minute getroffene Entscheidung war. Die Gruppe Roter Morgen erfuhr das Verbot ihrer 1. Mai-Demonstration sogar noch einige Stunden später: Am Vorabend des 1. Mai, genau um 16. 30 Uhr, erschienen zwei Beamte der Politischen Polizei im Buchladen 'rote front' im Dortmunder Norden.
Sie wollten dort die Verbotsverfügung für die Demonstration der Gruppe Roter Morgen niederlegen. Trotz des Hinweises, daß der Buchladen mit der Gruppe Roter Morgen nichts zu tun habe, legten die Po Pos das Schreiben einfach ab und ein Genosse des Buchladens bescheinigte den Empfang. Das heißt also, um 16. 30 Uhr wußte die Gruppe Roter Morgen offiziell noch nichts von dem Verbot ihrer Demonstration.
Dieses Vorgehen des Staatsapparates und seiner Polizei läßt nur einen Schluß über dessen taktische Absichten zu: Die Zustellung der Verbotsurkunden zum spätestmöglichen Zeitpunkt machte es den Organisatoren der Demonstration unmöglich, die schon lange vorher eingeleitete Mobilisierung für ihre Demonstration zurückzunehmen. Damit befanden sie sich in einer Falle gegenüber der Polizei und dem Staatsapparat, der es von vornherein auf eine Provokation und gewaltsame Zerschlagung der Demonstration in Dortmund angelegt hatte.
Auch die Begründung der Demonstrationsverbote selber weicht von der bisher üblichen Praxis der Polizeibehörden und der Klassenjustiz beträchtlich ab. Die formalrechtliche Grundlage der Verbotsverfügung gegenüber der Gruppe Rote Fahne war der Paragraph 15 Abs. 1 Versammlungsgesetz, wonach eine Demonstration verboten werden kann, wenn nach den Umständen die 'öffentliche Ordnung und Sicherheit' mit anderen Maßnahmen nicht aufrechterhalten werden.
Zur Begründung wurden Zitate aus einem organisationsinternen Brief der Gruppe Rote Fahne angeführt, in dem folgendes sinngemäß stand:
a) Die Feststellung, daß die Bonner Rathausbesetzung die richtige Antwort auf den Thieu-Besuch war.
b) Die Ankündigung, daß ein klassenkämpferischer 1. Mai durchgeführt werden müsse, auf dem die Arbeiterklasse ihre Kampfstärke demonstrieren müsse.
c) Die Feststellung, daß man sich die Demonstrationsfreiheit auch mit Gewalt nehmen müsse, wenn sie gewaltsam eingeschränkt würde.
d) Außerdem wurde betont, daß man die Schau des DGB am 1. Mai gründlich entlarven müsse.
Zunächst sticht ins Auge, daß die Verbotsverfügung eine offene politische Begründung enthält und die politischen Auffassungen der Demonstranten erstmals (im Vorgehen des Staatsapparates in der BRD) direkt zum Verbotsgrund erklärt werden. Es wurde erst gar nicht versucht, eine wenn auch noch so windige Begründung dafür zu geben, daß nach dem Umständen die 'Öffentliche Ordnung und Sicherheit' unmittelbar gefährdet ist, wie es für ein auf Paragraph 25 Versammlungsgesetz gestütztes Verbot notwendig wäre.
Eine 'unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit' kann nämlich nach Paragraph 15 VersammlungsG nur angenommen werden, 'wenn nach den gegebenen Tatsachen in naher Zukunft eine Störung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit zu befürchten ist und die Gefahr akut, d. h. der Eintritt des Schadens sofort und fast mit Gewißheit zu erwarten ist' (s. Sieghart Ott. Komment. zum VersammlungsG, S. 132).
Der Polizeipräsident von Dortmund sah die das Verbot begründende 'akute Gefahr' u. a. schon darin, daß die Gruppe Rote Fahne die Durchführung einer klassenkämpferischen Demonstration ankündigte. Indem er die politischen klassenkämpferischen Inhalte der angekündigten Demonstration damit zum Inhalt der Verbotsverfügung macht, braucht er zur Begründung eines Verbotes nicht mehr oder kaum mehr auf die konkrete Tatsachenlage im Einzelfall einzugehen, wie es das Versammlungsrecht an sich fordert. Die Erlebung einer bestimmten politischen Propaganda zum Verbotsgrund gibt dem Demonstrationsverbot einen ziemlich beliebigen und kaum auf den Einzelfall zugeschnittenen Charakter. Daher läßt es sich auch leicht auf die Demonstration anderer Organisationen anwenden, die gleiche oder auch nur ähnliche Ziele vertreten.
Es war dann nur folgerichtig, daß das Demonstrationsverbot auch auf andere Organisationen erstreckt wurde, wie auf die oben schon erwähnte Gruppe Roter Morgen (KPD/ML), deren angemeldete 1. Mai-Demonstration u. a. mit der Begründung verboten wurde, daß der Aufruf zu dieser Demonstration seitens der Gruppe Roter Morgen vermuten ließe, daß von ihr dieselben politischen Ziele verfolgt würden, wie von der Gruppe Rote Fahne. Hier noch ein Auszug aus der Verbotsbegründung des Dortmunder Polizeipräsidenten:
'Durch Ihre für den ersten Abschnitt vorgesehene Beteiligung an der Demonstration der KPD haben sie zu erkennen gegeben, daß Sie sich mit dem Inhalt des Rundbriefes insbesondere dem Aufruf zu Kampfmaßnahmen solidarisch erklären. Das von der Ortsgruppe Düsseldorf der KPD-ML anläßlich der für den 21. 4. 1973 geplanten Demonstration herausgegebenen Flugblatt erhärtet diese Überzeugung, denn dort heißt es u. a.: 'Der Kampf richtet sich gegen das verhaßte System! Und gegen die reaktionäre Gewalt kann es nur eine Antwort geben: die revolutionäre Gewalt! 'Der 1. Mai in Dortmund stand ganz im Zeichen des Polizeiterrors, mit dem die Demonstrationsverbote durchgesetzt werden: In Norden Dortmunds und in der Innenstadt war jede Straße bewacht, an strategischen Punkten waren Hundertschaften postiert (in Bussen), Wasserwerfer wurden teils offen, teils versteckt aufgefahren. Das Postamt und die Telefonzentrale wurden umstellt. Daneben wurden auch Telefone, von denen die Polizei Berichte nach außen vermutete, abgestellt. So war das Telefon im Buchladen 'rote front' gesperrt. Dies stellt eine bislang einmalige Maßnahme dar, für die das Polizeirecht keinerlei Handhabe bietet. Um die Stadt Dortmund herum waren sämtliche Zufahrtsstraßen bewacht, viele PKWs und fast alle Busse, die zur Demonstration wollten, wurden zurückgeschickt. Andere Busse, die nach Dortmund wollten, wurden schon am Abfahrtsort selber festgehalten, so geschehen in Bonn und in Bielefeld, wo sämtliche Insassen der Busse stundenlang auf Polizeistationen festgehalten und erkennungsdienstlich behandelt wurden. Neben Bussen, die zur Demonstration der Gruppe Rote Fahne nach Dortmund fahren wollten, wurde in Bonn z. B. auch ein Bus festgehalten, der zur DGB-Demonstration nach Köln fahren wollte. Ein Großteil der Demonstranten, die nach Dortmund wollten, ist also erst gar nicht dorthin gekommen. Der 1. Mai begann in Dortmund mit der Demonstration des DGB. Der DGB bildete drei Marschzüge, die dann zur Kundgebung im Westfalenpark zusammentrafen. An den DGB-Marschzug, der von der Westfalenhütte ausging, schloß sich ein Block des Dortmunder Mai-Komitees und ein Block der sog. RGO an. Nach einiger Zeit folgten zwei Mannschaftswagen der Polizei dem Demonstrationszug. In einer unbewohnten Zone stieß ein Polizeitrupp vor und nahm anhand von Fotolisten drei Leute aus dem RGO-Block fest. Sie wurden durchsucht und konnten später wieder zurück zum Demonstrationszug. Das gleiche geschah noch ein zweites Mal. In einem dritten Versuch nahm die Polizei einen Demonstranten vom Mai-Komitee fest, der über Megaphon die Parolen angestimmt hatte. Er wurde acht Stunden von der Polizei festgehalten. Das Megaphon wurde eingezogen und ihm wurde ein Verfahren wegen Anführens einer verbotenen Demonstration und Rädelsführerschaft angedroht (Letzteres bezog sich auf die zweideutig formulierte Verbotsverfügung vom Vortage, die so schwammig gehalten war, daß sie gegen alles, was Positionen links von der DGB-Führung einnahm, also auch gegen das Dortmunder Mai-Komitee, gewendet werden konnte).
Auf 12 Uhr war dann eine Kundgebung gegen das Demonstrationsverbot auf dem Dortmunder Nordmarkt angesetzt, von welchem aus auch die verbotene Demonstration der Gruppe Rote Fahne und der Gruppe Roter Morgen ihren Anfang nehmen sollten. Der Nordmarkt war umstellt von starken Einheiten der Polizei, Wasserwerfern und einer Unmenge Zivilpolizei. Zwischen die ca.1 000 Demonstranten, die sich dort versammelt hatten, und die Polizei mischten sich außerdem viele Schaulustige und Pasasnten. Noch vor Beginn der Kundgebung erfolgte seitens der Polizei die dreifache Aufforderung, den Nordmarkt zu räumen. Nach der dritten Aufforderung zerstreuten sich die Demonstranten in kleinen Gruppen und trafen sich einige hundert Meter weiter wieder. Dann gelang es, einen Demonstrationszug in Richtung Innenstadt zu formieren. Die Polizei benötigte einige Zeit, um die neue Situation zu begreifen und sperrte dann die Zugänge zur Innenstadt ab. Auf dem Weg zur Innenstadt stieß der Zug auf einen massiven Riegel der Polizei. Als die Demonstranten daraufhin versuchten, einen anderen Weg zu nehmen, begann die Polizei plötzlich, in brutalster Weise auf die Demonstranten einzuprügeln.
Im Rückzug formierte sich der Demonstrationszug neu und eilte im Laufschritt in Richtung Innenstadt. An einem Bahnübergang, kurz vor der Innenstadt, wurde der Zug von der dort massierten Polizei aufgehalten und auseinandergeknüppelt. Daraufhin sickerten die Demonstranten in kleinen Gruppen zur großen Freitreppe vor dem Hauptbahnhof durch und organisierten eine kurze Kundgebung, um sich dann vor den verstärkt anrückenden Polizeieinheiten aufzulösen. Währenddessen wurden im gesamten Innenstadt- und Nordstadtbereich Einzelpersonen und kleinere Gruppen verhaftet. Die zentrale Einsatzleitung der Polizei hatte die Parole ausgegeben: in der Innenstadt jede Ansammlung von mehr als 10 Personen zu zerschlagen. Bis in den späten Nachmittag hinein wurden einzelne Demonstranten und auch Gruppen von der Polizei gejagt und es fanden Verhaftungen statt, obwohl die Demonstration seit 14 Uhr aufgelöst war. Sehr viele Passanten, die vom Vorgehen der Polizei verbittert waren, zeigten deutlich ihre Empörung und verhielten sich solidarisch gegenüber den Demonstranten.
Daneben kam es am 1. Mai auch in anderen Städten Nordrhein-Westfalens zu massiven Angriffen auf die Demonstrationsfreiheit. In Düsseldorf und besonders in Aachen griff die Polizei, ähnlich wie in Dortmund, die von der Gruppe Rote Fahne organisierten Blöcke an, die sich dort an den offiziellen DGB-Umzügen beteiligten. In Köln hatte sich auf Initiative der Kommunistischen Gruppe Köln (KG-Köln) und anderer linke Gruppen ein sozialistisches Mai-Komitee gegründet, das mit einem eigenen Block unter klassenkämpferischen Parolen an der Demonstration des DGB teilnahm bzw. teilnehmen wollte. Gleich zu Demonstrationsbeginn tauchten (offensichtlich in Absprache mit der Kölner DGB-Führung) mehrere Hundertschaften Polizei auf und spalteten den Block des Maikomitees von den übrigen Demonstranten ab. Der seinem Ruf nach 'liberale' 'Kölner Stadtanzeiger' berichtete darüber zwei Tage später höhnisch: 'Pünktlich um 9. 15 Uhr hatte sich die Spitze des Demonstrationszuges am Ebertplatz in Marsch gesetzt … Kaum aber hatte die letzte Gruppe des offiziellen DGB-Zuges den Sundermannplatz passiert, als die Polizei den bis dahin angehaltenen Querverkehr für einen Augenblick freigab. Der bis dahin dicht aufgeschlossene Marschblock der Linksradikalen geriet ins Stocken, die Chaoten gerieten ins Chaos (!) fest - so lange, bis der aufgestaute Autoverkehr wieder abgeflossen war und die Polizei den Marschweg wieder freigeben konnte (?) (!).'
Der abgespaltene Teil der Demonstration erreichte den Kundgebungsplatz mit einiger Verspätung. Der Platz war von zwei Hundertschaften Polizei abgeriegelt, die wie auch die Kölner DGB-Führung in dem Mitführen von klassenkämpferischen und keineswegs gewerkschaftsfeindlichen Parolen offensichtlich eine Bedrohung ihrer 'öffentlichen Sicherheit und Ordnung' sahen. Doch ging die Rechnung dieser konzertierten Aktion nicht ganz auf, da immerhin die 'Falken', Arbeiterjugendorganisation der SPD, auf die andere Seite der Polizeikette kam, um so ihre Solidarität gegenüber den Übergriffen der Polizei zu demonstrieren. Soweit die Polizeiaktionen zum 1. Mai, wobei diese Darstellung sich wegen der Fülle der Repressionsmaßnahmen auf die wichtigsten Ereignisse zu beschränken versuchte. Alle Versuche, für die Polizeiaktionen zur Durchsetzung des Demonstrationsverbotes (in Dortmund) eine Rechtsgrundlage im geltenden Recht zu finden, müssen notwendig scheitern. Die Polizeimaßnahmen wurden nämlich auf der Grundlage der völlig willkürlichen Demonstrationsverbote angeordnet, die, wie oben schon aufgezeigt, nicht einmal den Schein einer Begründung nach Paragraph 15 VersammlungsG enthalten, sondern allein schon die politischen Auffassungen der Demonstranten zum Verbotsgrund erklärten. Doch selbst wenn man die Rechtmäßigkeit der Demonstrationsverbote unterstellt, so war z. B. die Festnahme und erkennungsdienstliche Behandlung von Sympathisanten der Gruppe Rote Fahne, die nach Dortmund zu deren Demonstration fahren wollten und schon am Abfahrtsort von der Polizei festgehalten wurden, von polizeirechtlichen Grundsätzen nicht gedeckt, ebensowenig wie die Festnahme derjenigen (wie in Bonn geschehen), die zur DGB-Demonstration nach Köln fahren wollten. Um vorläufige Festnahmen i. S. des Paragraphen 127 StPO konnte es sich bei diesen Maßnahmen in keinem Fall handeln, schon allein deshalb, weil danach die Festgenommenen auf 'frischer Tat' - sprich strafbare Handlung - hätten angetroffen werden müssen. Es bleibt allenfalls der in Paragraph 25 Abs. 2 PolG NRW geregelte polizeiliche Gewahrsam. Danach können Personen in polizeilichen Gewahrsam genommen werden, wenn 'dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr oder zur Beseitigung einer bereits eingetretenen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung' erforderlich ist und 'die Abwehr der Gefahr oder die Beseitigung der Störung auf andere Weise nicht möglich ist.' Polizeirechtlich kann danach nur derjenige in Gewahrsam genommen werden, von dem die unmittelbare Gefährdung der 'öffentlichen Sicherheit und Ordnung' ausgeht. Wer sich aber anschickt, von Bonn oder Bielefeld aus zu einer verbotenen Demonstration nach Dortmund zu fahren, ist damit noch lange kein 'Störer' der 'öffentlichen Sicherheit', da diese dadurch nicht unmittelbar gefährdet wird, denn unmittelbar heißt immer, daß der sofortige Eintritt eines Schadens nach allgemeiner Erfahrung gewiß ist (s. Richard Boorberg, Komment. zum PolG für Baden-Württemberg, Paragraph 22, Anm. 4, wobei anzumerken ist, daß das Polizeirecht in Baden-Württemberg und in NRW in diesen wichtigen Punkten identisch ist). Selbst wenn man hier noch eine polizeirechtliche Gefährdung der 'öffentlichen Sicherheit' annimmt, ist die Ingewahrsamnahme und erkennungsdienstliche Behandlung eine Maßnahme, die weit über das Ziel, die Abfahrt der Busse zu einer verbotenen Demonstration zu verhindern, hinausschießt.
Die Abfahrt hätte auch durch viel weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden können, die dann nach Paragraph 25 Abs. 2 PolG und nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hätten angewandt werden müssen. Bleibt dann nur noch der Paragraph 23 Abs. 2 PolG NRW, wonach Personen zwecks Feststellung ihrer Personalien festgenommen werden können. Hier liegt es allerdings auf der Hand, daß die Festnahmen nur die erkennungsdienstliche Behandlung zwecks Bereicherung des Verfassungsschutzes ermöglichen sollen, wozu der obengenannte Paragraph keine Rechtsgrundlage abgibt. Nach Abs. 3 des Paragraphen 23 PolG NRW wäre 'eine erkennungsdienstliche Maßnahme ohne Einwilligung der Betroffenen nur im Falle des Paragraphen 81 der StPO oder dann, wenn die Identität des Betroffenen auf andere Weise nicht zuverlässig festgestellt werden kann, möglich.' Paragraph 81 b StPO gilt nur für Beschuldigte im Rahmen eines Ermittlungs- bzw. Strafverfahrens und die Identität der 'Betroffenen' konnte auch ohne deren Festnahme festgestellt werden, ganz abgesehen davon, daß nach Abs. 1 des Paragraphen 23 PolG NRW eine Personenfeststellung nur erfolgen kann, wenn dies 'zur Erfüllung einer polizeilichen Aufgabe erforderlich ist'. Von einer formalrechtlichen Grundlage der oben untersuchten Maßnahmen kann also keine Rede sein. Seinem ganzen Vorgehen nach bemühte sich der Staats- und Polizeiapparat auch erst gar nicht, sich den Anschein eines rechtsstaatlichen korrekten Vorgehens zu geben.
Dies wird neben den eben untersuchten Maßnahmen auch durch das schon beschriebene willkürliche Vorgehen bei den verschiedenen DGB-Demonstrationen zum 1. Mai in NRW belegt, einem Vorgehen, das bewußt auf Konfrontation mit Teilen der Demonstranten hin angelegt war. Der zum großen Teil entstellenden und demagogischen Berichterstattung der bürgerlichen Presse über die Ereignisse in NRW mußte mit einer intensiven Aufklärungsarbeit unter der Bevölkerung begegnet werden: So stellte z. B. das Komitee gegen das Demonstrationsverbot am 12. Mai in der Dortmunder Innenstadt Informationsstände auf. Diese Stände waren bald von Polizeikräften umstellt, die vor den Augen von 300 bis 400 empörten Passanten den Stand kurzerhand niederrissen, beschlagnahmten und abtransportierten. Außerdem wurde ein Mitglied des Aktionskomitees herausgegriffen und verprügelt, seine ihm zur Hilfe eilende Freundin wurde erst zu Boden und dann gegen ein Polizeiauto geworfen.
Der nächste einschneidende Schritt in der Kette der Polizeiaktionen war die Besetzung und Durchsuchung von Büros der Gruppe Rote Fahne in Dortmund, Köln und Aachen, Westberlin und anderen, insgesamt 7 Städten in der BRD am 15. Mai. Der inzwischen wieder freigelassene Jürgen Horlemann wurde in Untersuchungshaft genommen. Gegen Christian Semler erließ die Bundesanwaltschaft ebenfalls Haftbefehl. Vorübergehend inhaftiert wurden u. a. Karl Weiland, sowie Christian Hommerich, der verantwortliche Redakteur der Zeitschrift 'Liga gegen den Imperialismus'. Ulli Kranzusch, ein Sympathisant der Gruppe Rote Fahne aus Lüneburg war schon im April, im Zusammenhang mit den Ereignissen um die Bonner Rathausbesetzung, inhaftiert worden. Ihm steht ein Strafverfahren wegen versuchten Totschlages bevor, wobei bis heute noch nicht klar ist, womit die Klassenjustiz diesen Vorwurf genau begründet. Im Anschluß an die Verhaftungen und Polizeiüberfälle veranstaltete die Bundesanwaltschaft eine Pressekonferenz, in der die zentral geleiteten Aktionen mit dem lapidaren Hinweis auf 'richterliche Anordnung' begründet wurden, sowie mit der Behauptung, die Gruppe Rote Fahne sei eine 'kriminelle Vereinigung'.
Darüberhinaus gab die Bundesanwaltschaft der versammelten Presse auch nicht den Schatten einer juristischen Begründung für die von ihr geleiteten Polizeiaktionen. Die Bundesanwaltschaft schein weiterhin zu beabsichtigen, gegen Jürgen Horlemann und Christian Semler Anklage wegen 'Gründung und Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung' nach Paragraph 129 StGB zu erheben. In der Verfolgung nach Paragraph 129 StGB steckt die Behauptung, bei der Gruppe Rote Fahne handelt es sich um eine Organisation, deren Hauptzweck und Tätigkeit darauf gerichtet ist, kriminelle Handlungen zu begehen. Nach der kürzlich erfolgten Freilassung von Jürgen Horlemanns bleibt abzuwarten, ob die Bundesanwaltschaft von der Verfolgung nach Paragraph 129 StGB vorläufig absieht zugunsten einer vorsichtigeren Taktik. Die Durchsuchungsaktionen vom 15. Mai, die von Beamten der politischen Polizei, des Bundeskriminalamtes, der Bundesanwaltschaft und Schutzpolizei durchgeführt wurden, beschränkten sich nicht nur auf Büros der Gruppe Rote Fahne.
Daneben wurde eine Reihe von Wohnungen von Mitgliedern und Sympathisanten der Gruppe Rote Fahne durchsucht. Im Zuge der Durchsuchungen wurden gro0e Mengen von Druckschriften, Zeitungen, Schriftstücke und auf private Korrespondenz beschlagnahmt. Bei der Durchsuchung des Dortmunder Büros der Gruppe Rote Fahne wurde die Abonnenten- und Adremakartei der 'Roten Fahne', des Zentralorgans der Gruppe, beschlagnahmt. Dies war zweifellos auch eine Maßnahme, die die Gruppe wirtschaftliche treffen sollte. Nach der Strafprozeßordnung sind Durchsuchungen und Beschlagnahmen bei Verdächtigungen (Paragraph 102 StPO) und anderen Personen (Paragraph 104 StPO) außer zum 'Zweck der Ergreifung des Verdächtigen nach Paragraph 102 StPO nur dann zulässig, wenn zu vermuten ist, daß die Durchsuchung zur Auffindung von Beweismitteln führen werde'. Die Durchsuchungen von Wohnungen 'anderer Personen' setzt nach Paragraph 103 StPO voraus, daß 'Tatsachen vorliegen, aus denen zu schlie0en ist, daß die gesuchte Person, Spur oder Sache sich in den zu durchsuchenden Räumen befindet'. Die Breite der Durchsuchungsaktionen vom 15. Mai und die Wahllosigkeit der Beschlagnahmen zeigen aber, daß es hauptsächlich nicht um die Auffindung von Beweismaterial gegenüber den Verhafteten und sonstigen 'Verdächtigen' ging, sondern vor allem auch darum, die Gruppe insgesamt zu treffen und einzuschüchtern und durch die massenhaften Beschlagnahmen neues Erkenntnismaterial über die politischen Strukturen der Organisation zu sammeln. Im weiteren Verlauf der Ereignisse spitzte sich alles auf die für die Zeit des Breschnew-Besuches in der BRD angekündigten Demonstration zu (vgl. 18.5.1973,d.Vf). …

DIE ROLLE DER BÜRGERLICHEN PRESSE

Die bürgerliche Presse leistete durch ihre entstellende Berichterstattung über die Ereignisse in NRW der Kriminalisierungstaktik der Bourgeoisie gegenüber kommunistischen Zielen die besten Dienste. Neu war dabei allerdings die Einmütigkeit, mit der sie diese Aufgabe wahrnahm, von der rechts- konservativen bis hin zur linksliberalen und Teilen der linksdemokratischen Presse. Zur Vorbereitung der Kriminalisierung von politischen Organisationen gehört nach der Logik der Bourgeoisie, daß man ihnen sämtliche politischen Eigenschaften abspricht. Daher baute die bürgerliche Presse den Popanz von den 'Chaoten' auf, um weiszumachen, daß es sich bei den Organisationen wie z. B. der Gruppe Rote Fahne um 'Vereinigungen' handele, für die Gewaltanwendung reiner Selbstzweck sei und die daher nur als 'kriminelle Vereinigung' behandelt werden könne. Damit versuchte die bürgerliche Presse die politische Auseinandersetzung mit den politischen Zielsetzungen der Organisationen, gegen die sich ihre Hetzkampagne richtete, zu umgehen. Ausgerechnet die 'linke' Zeitschrift 'konkret' hat sich hierbei besonders profiliert, indem sie mit frei erfundenen Geschichten über führende Mitglieder der Gruppe Rote Fahne aufwartete. Die Art und Weise, wie der bürgerliche Staatsapparat die Demonstrationsverbote durchsetze, zeigt deutlich, daß es sich hierbei nicht um eine isolierte Maßnahme gegen eine einzelne Gruppe handelt. Wenn z. B. Verbotsverfügungen gegen 1. Mai-Demonstrationen damit begründet werden, daß die Durchführung einer KLASSENKÄMPFERISCHEN DEMONSTRATION angekündigt worden sei, so heißt das nichts anderes als: Schon die Propagierung der Ziele der Arbeiterbewegung denen der 'Ordnung und Sicherheit' eines imperialistischen Staates entgegengesetzt sind, liegt auf der Hand. Was aber für uns wichtig ist, um die aktuelle Bedeutung des Demonstrationsverbotes in NRW einschätzen zu können, ist die Tatsache, daß die Verbotsverfügungen offen politische Begründungen in einer Weise verwenden, daß sie ohne Schwierigkeiten auf alle Versammlungen und Demonstrationen angewendet werden können, die Ziele des proletarischen Klassenkampfes propagieren. Natürlich wurde das zunächst gegenüber der Gruppe Rote Fahne erlassene Demonstrationsverbot u. a. auch mit deren spektakulären Bonner Rathausbesetzung begründete. Doch war diese Aktion der Vorwand und nicht der eigentliche Grund für die dann folgende Welle politischer Repression in NRW. Daß die Demonstrationsverbote sich zunächst nur auf NRW erstrecken, ist kein Zufall. Hier hat es im letzten Herbst und Anfang dieses Jahres große Demonstrationen gegeben: Im Oktober 1972 fand in Dortmund eine große Demonstration gegen die Verbote von GUPS und GUPA statt und im Januar 1973 in Bonn die zentrale Vietnamdemonstration. Weiter ist entscheidend, daß die westdeutsche Arbeiterklasse in NRW die stärksten Positionen hat. In keinem anderen Bundesland ist das Industrieproletariat schon rein zahlenmäßig so stark vertreten wie in NRW. Die Streiks bei Hoesch und Mannesmann haben zudem bewiesen, wie hoch die Kampfbereitschaft von Teilen der Arbeiterklasse in NRW schon ist. Für die westdeutsche Bourgeoisie ist NRW nach wie vor das wichtigste industrielle Kernland, für das sie günstige politische Ausgangsbedingungen erhalten muß. Das kann sie aber nur, indem sie angesichts der sich verschärfenden Klassenkämpfe die politischen Rechte weiter abbaut. Dabei versucht sie zunächst Organisationen zu treffen, die kommunistische Ziele vertreten. Auf der anderen Seite zeigt die Beschränkung der Demonstrationsverbote auf NRW, daß die Bourgeoisie zur Zeit mit einer Salamitaktik vorgeht, d.h. die politische Entrechtung scheibchenweise an den ihr taktisch günstigsten Stellen vorantreibt, um sich so günstigere Ausgangspositionen für die weitere Verschärfung und Ausdehnung der politischen Repression zu schaffen."
Q: Rote Robe Nr. 3, Heidelberg 9.7.1973

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