Rote Fahne, Organ der Stadtteilkomitees der KPD-AO, 1. Jg., Nr. 10, Oktober 1970

Oktober 1970:
Die Nr. 10 der „Roten Fahne“ der KPD-AO erscheint. Inhalt der Ausgabe ist:
- Tarifrunde: Die einheitliche Kampffront der Metallarbeiter wieder stärken
- Die nächste Krise kommt bestimmt
- Protestdemonstration des Pflegepersonals gegen weitere Verschlechterung der Krankenversorgung
- Moskauer Vertrag (3): Sowjetrevisionismus: Großmachtpolitik gegenüber den sozialistischen Bruderländern - Konzession an die Imperialisten.

Verantwortlich ist nun: Jürgen Horlemann, 1 Berlin, Nikolsburgerstraße. Zur finanziellen Sicherung wird angemerkt: „ … werden wir in der nächsten Zeit damit beginnen, die Rote Fahne nicht mehr wie bisher kostenlos zu verteilen, sondern sie zu einem Preis von DM 0,30 zu verkaufen …“.

Berichtet wird weiter von der Palästina-Demonstration in Berlin am 26.9.1970 und den Krankenschwestern-Demonstrationen (am 24.9.1970). Zur „TARIFRUNDE: DIE EINHEITLICHE KAMPFFRONT DER METALLARBEITER WIEDER STÄRKEN” wird ausgeführt: „In den vergangenen Wochen haben mehr als eine Viertelmillion Metallarbeiter gestreikt. Sie streikten, weil das Gerede der Kapitalisten und ihrer Lakaien im Parlament nicht mehr verdecken konnte, was die Hochkonjunktur der letzten beiden Jahre für die Arbeiterklasse bedeutete: Verteuerte Grundnahrungsmittel, unverschämte Mietsteigerungen und im Verhältnis dazu viel zu geringe Lohnerhöhungen, die jeweils von einer Verschärfung der Arbeitsbedingungen begleitet waren. Viele Arbeiter hatten ihre Hoffnungen auf die Tarifverhandlungen gesetzt; sie hatten geglaubt, das Ergebnis würde sei für die immer weiter steigende Ausbeutung entschädigen. Als aber die Kapitalisten gegen die 15%ige Forderung der IG Metall 7% setzten, war auch für diese Arbeiter das Maß voll.

Sie ließen sich auch nicht dadurch verwirren, dass die Kapitalisten scheinbare Zugeständnisse machten! Die Arbeiter wussten genau, dass diese kleinen Zugeständnisse die Kapitalisten keinen Pfennig kosteten.

So die Parole bei Hoesch (in Dortmund, d. Verf.): ‚9% sind ein Hohn - 15% kriegen wir schon!’ Aber die Parole der Hoesch-Arbeiter wird bestenfalls für eine Minderheit Wirklichkeit werden: der Tarifabschluss für die 220 000 Arbeiter der Stahlindustrie in Nordrhein-Westfalen ist der 7. in der laufenden Tarifrunde; und es ist der 7., in dem sich die ‚Tarifpartner' auf 10% geeinigt haben!

DIE BESCHRÄNKUNG AUF 10% IST EIN GLATTER SIEG DER KAPITALISTEN

Und die namhaften Vertreter ihrer Klasse, wie der Chef des Kapitalistenverbands Gesamtmetall, Herbert von Hüllen, geben das ohne Umschweife zu. Für ihn war der Tarifabschluss in Hessen, der die 10%-Marke gesetzt hatte, ‚ein entscheidendes Datum für die Beendigung des Tarifkonflikts‘. In Hessen hatte vor zwei Wochen der Siegeszug der Kapitalistenklasse angefangen, als Kapitalistenunterhändler Knapp den Vertretern der hessischen Gewerkschaftsbürokratie Bedingungen abtrotzte, die zum kapitalistischen Modell für die laufende Tarifrunde geworden sind, weil sie den Metallarbeitern so gut wie nichts bringen und die Kapitalisten der Metallindustrie so gut wie nichts kosten.

Die ‚kostenneutrale’ Vorweganhebung des Ecklohns betrug ganze 19 Pfennig - was Knapp von sich aus angeboten hatte. Und die 10%, die auf den ‚erhöhten’ Ecklohn aufgeschlagen wurden, werden keiner Ausbeuterseele wehtun; denn der Unterschied zwischen Tariflohn und Effektivlohn betrug zur Zeit des Verhandlungsergebnisses mehr als 1 Mark. Auch die Zusatzvereinbarungen machen die Lohntüte der 330 000 hessischen Metallarbeitern nicht dicker; denn sämtliche Vereinbarungen sichern nur das tariflich ab, was die Kapitalisten schon vorher gezahlt haben.

SO WAR DAS GANZE UNTERNEHMEN EIN GROSSER BLUFF, EIN ÜBLER BETRUG AN DER ARBEITERKLASSE:

Haben die unverschämten Preis- und Mietsteigerungen der letzten Monate und die Lohnsteuervorauszahlungen ihre Taschen tatsächlich geleert, so hat sie von 'Lohnerhöhungen' nach dem hessischen Vorbild überhaupt nichts! ‚Kostenneutral‘, das heißt: kostenlos ist dabei für die Kapitalisten also nicht etwa die Vorweganhebung der Ecklöhne, sondern das ganze Verhandlungsergebnis! Und auf diese elegante Weise haben die Kapitalisten den Arbeitern nun zum siebten Mal ihre Vorstellungen von ‚sozialer Symmetrie’ vorgeführt!

DIE NÄCHSTE KRISE KOMMT BESTIMMT!

Das Geschwätz von der krisenfreien kapitalistischen Wirtschaft zieht nun auch im Bonner Staat nicht mehr. Zwanzig Jahre lang hatten die westdeutschen Kapitalisten und ihre dienstbeflissenen Politiker den Mythos des ‚Wirtschaftswunders’ hochgehalten und die tatsächlichen Gründe für die westdeutsche Nachkriegskonjunktur sorgsam verschwiegen. Und durch die Tatsache, dass es bis 1966/67 zwar konjunkturelle Auf- und Abschwünge, aber keine Krise schärferen Ausmaßes gab, war es ihnen gelungen, Teile der Arbeiterklasse zu dem illusionären Glauben zu verführen, in Westdeutschland sei Schluss mit Wirtschaftskrisen.

Mit der Krise 1966/1967 war der Lack ab. Zwar gelang es der westdeutschen Kapitalistenklasse damals noch, durch Exportsteigerungen die Krise abzukürzen. Inzwischen haben sich die Verhältnisse aber geändert: in der nächsten Krise der westdeutschen Wirtschaft werden die übrigen kapitalistischen Länder keine steigenden westdeutschen Exporte mehr aufnehmen können; dazu geht es ihnen selbst zu schlecht. Diese Tatsache, Ausdruck der allgemeinen Krise des Kapitalismus, ist für Schiller ein Argument gegen die Vorwürfe der CDU: ‚Verglichen mit anderen westlichen Industrieländern liegen wir noch gut!’

So weit ist also die Verkommenheit der führenden kapitalistischen Lakaien schon gediehen! In der Haushaltsdebatte des Bundestages am vergangenen Mittwoch musste Schiller freilich deutlich sagen: ‚Der Höhepunkt des Booms ist überschritten.’ Was heißt: Die nächste Krise steht ins Haus. Und Schiller sagte offen, wer in Zukunft den Riemen enger schnallen soll: ‚So hohe Lohnerhöhungen wie 1970 wird es künftig nicht mehr geben!’

Einen Vorgeschmack auf die nächste Krise bekommen die Arbeiter schon heute; schon heute geht es wieder los wie vor vier Jahren: die Kapitalisten haben bereits damit begonnen, Kurzarbeit und Zwangsurlaubszeiten zu verkünden. In Westberlin ist die Situation noch verschärft, weil die Kapitalisten ihre hier besonders einschneidenden Produktionsumstellungen unbarmherzig auf dem Rücken der Arbeiterklasse ausgetragen. So wurde z.B. die Belegschaft des AEG-Telefunken-Werks Ackerstraße im letzten Vierteljahr kurzerhand um knapp 600, das ist fast ein Drittel, verringert.

DAS VERSAGEN DER GEWERKSCHAFTSBÜROKRATIE

Wir Kommunisten haben die Verfälschung der 15%-Forderung der Arbeiterklasse durch die IG Metall Spitzen scharf kritisiert. Wir haben gesagt: Es kommt darauf an, den unerträglichen Preis- und Mietsteigerungen der letzten Monate und der unerträglichen verschärften Ausbeutung der Arbeiter in der Fabrik Forderungen entgegenzuhalten und durchzusetzen, die die zunehmende Verschlechterung zwar nicht aufhalten, doch die Arbeiter sollen in ihrem Kampf gegen das Lohnsystem überhaupt ihre Arbeitskraft so teuer wie möglich verkaufen.

Und wir haben gesagt: Es kommt darauf an, die Arbeiterklasse zu vereinigen, um sie stark zu machen für den Abwehrkampf gegen das Kapital und sie vorzubereiten auf den Kampf um die Herrschaft des Proletariats. Darum sollen Lohnforderungen aufgestellt werden, die die Hierarchie unter den Arbeitern nicht noch weiter ausbauen, also absolute Forderungen und keine Prozentforderungen.

85 PFENNIG UND FÜR WESTBERLIN EINE ZULAGE VON 45 PFENNIG GLEICH 1, 30 DM.

HEUTE STEHT FEST: ÜBERALL DORT, WO DIE GEWERKSCHAFTSBONZEN NICHT MIT MASSIVEM WIDERSTAND DER ARBEITER RECHNEN MUSSTEN, HABEN SIE SICH VON IHRER 15%-FORDERUNG AUF EINE 10%IGE ‚LOHNERHÖHUNG’ HERUNTERHANDELN LASSEN

Das fängt an mit dem hessischen Tarifvertrag, einer völligen Kapitulation vor den Interessen der Kapitalisten. Da tönte IG-Metall-Boss Brenner noch: ‚Dies ist kein Modellfall für die anderen Tarifbereiche.’

Inzwischen hat es sechs weitere Tarifabschlüsse gegeben, alle nach hessischem Muster, also nur: 10% Erhöhung auf geringe Vorweganhebung des Ecklohns und Zulagenerhöhung, die sich kaum oder überhaupt nicht effektiv auswirkt! Und noch immer liegt kein Tarifergebnis vor, in dem die IG-Metall-Bonzen für die Arbeiter ein besseres Ergebnis erreicht hätten. Und nicht genug mit den schädlichen Folgen der Prozentforderungen, betreiben die Gewerkschaftsführer auch mit den regionalen Verhandlungen das Geschäft der Kapitalisten, nämlich die weitere Spaltung der Arbeiterklasse.

In den Tarifbezirken, wo der Widerstand der Arbeiter gegen die kümmerlichen 10% am geringsten ist, schließen die ‚Arbeitnehmervertreter’ am ersten ab. Auf diese Weise helfen sie der Kapitalistenklasse, das Proletariat von seinen schwächsten Gliedern her aufzurollen und die Streikfront langsam, aber stetig abbröckeln zu lassen. Gerade der neueste Tarifabschluss zeigt - da die IG-Metall-Führung zu keinerlei Kampf bereit ist : Im Gegensatz zur übrigen Metallindustrie Nordrhein-Westfalens besteht für die Stahlindustrie kein Schlichtungsabkommen. Das heißt: während in der übrigen Metallindustrie das Scheitern der Tarifverhandlungen automatisch zur Einsetzung eines Schlichtungsabkommens führt, würde die Folge von gescheiterten Verhandlungen in der nordrhein-westfälischen Stahlindustrie die Durchführung von Urabstimmungen in den Betrieben sein.

Die Taktik der IG-Metall Bosse: In der Metallindustrie wortradikal hinein in die Schlichtungsverhandlungen, in der Stahlindustrie gütliche Einigung auf 10 Prozent. So ist es in beiden Fällen vorläufig gelungen, eine weitere Mobilisierung der kampfbereiten Arbeiter zu verhindern. Zu den regionalen Abschlüssen tritt noch etwas, das die Spaltung der Arbeiter beschleunigt: Die Verhandlungsabschlüsse sind auch zeitlich so aufgesplittert, dass das Abbröckeln der Streikfront wesentlich erleichtert wird.

So passen dann auch die von den Gewerkschaftsbossen bisher ausgesprochenen Verhandlungskündigungen ins Bild, denen nun Schlichtungsverhandlungen folgen werden: gerade in Nordrhein-Westfalen, Nordwürttemberg-Nordbaden und Bremen (in diesen Gebieten wurden die ersten Kündigungen ausgesprochen) war und ist der Widerstand der Arbeiter gegen die Beschränkung auf 10% am größten (Die Forderung für die Klöckner Werke AG, Bremer Hütte, beträgt sogar 18%). Und in den gekündigten Gebieten, das haben die Streikzahlen und -aktionen gezeigt, ist auch die Kampfbereitschaft der Arbeiter am größten.

Während Brenner und Konsorten, die durch Aufsichtsrats-Bezüge Summen verdienen, von denen jeder Arbeiter nur träumen kann, in der Konzertierten Aktion am letzten Freitag gemeinsam mit den Kapitalisten Wirtschaftsprognosen für das nächste Jahr erarbeiten, tut sich der Unmut gerade der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter gegen die verräterischen Spitzen immer stärker kund.

UND MIT DEM UNMUT WÄCHST DIE EINSICHT, DASS DIE LAGE DER ARBEITER NICHT DURCH VERHANDLUNGEN AM GRÜNEN TISCH, SONDERN DURCH OFFENEN KLASSENKAMPF ENTSCHIEDEN WIRD

WIE DIE VERTRAUENSLEUTE DES WALZWERKS SÜD DER NEUNKIRCHENER EISENWERKE ERKANNT HABEN: ‚LOHNFRAGEN SIND MACHTFRAGEN!’

Karl Marx hat schon 1865 die Rolle der Gewerkschaften mit Worten bestimmt, die sich jeder Arbeiterverräter in den Gewerkschaftsbürokratien heute hinter die Ohren schreiben sollte: ‚Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten der Kapitalisten. Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil, sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d.h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.’

ES GILT DEN VÖLLIGEN SIEG DER KAPITALISTEN ZU VERHINDERN

Der zurückliegende Teil der Tarifrunde hat den Kapitalisten nur Siege gebracht. Überall haben sie Ergebnisse erzielt, die sie effektiv sehr wenig oder überhaupt kein Geld kosten. Die Arbeiterklasse war nicht nur von der sozialdemokratischen Regierung, sondern gerade auch von den Gewerkschaftsbonzen wegen der realen Verschlechterung der Lebensbedingungen stets auf die laufenden Tarifverhandlungen vertröstet worden.

Inzwischen ist offen zutage getreten, dass die Kapitalisten und die mit ihnen paktierenden Gewerkschaftsbosse den Arbeitern ein makabres Schauspiel vorgeführt haben, bei dem die Arbeiter auch im Schlussteil in der Opferrolle bleiben sollen. Nur wird so getan, als seien sie diesmal nicht das Opfer, sondern der Nutznießer. Deswegen sind die Tarifverhandlungen für die Metallarbeiter der makaberste Teil des letzten halbes Jahres, das eine stetige Verschärfung der Ausbeutung und eine zunehmende Verschlechterung der Lebensbedingungen gebracht hat.

DARUM FORDERN WIR KOMMUNISTEN ALLE ARBEITER AUF: ES GILT, JETZT NICHT ZU RESIGNIEREN, SONDERN DEN VÖLLIGEN SIEG DER KAPITALISTEN IN DER METALLTARIFRUNDE ZU VERHINDERN

Wir können uns nicht damit begnügen, nur für die Zukunft die richtigen Lehren zu ziehen. Die nordrhein-westfälischen, nordwürttembergisch/nordbadischen und andere Metallarbeiter haben durch ihre Entschlossenheit und ihre Kampfkraft verhindert, dass die verräterischen IG-Metall-Spitzen auch in ihren Tarifbezirken offen mit dem Klassenfeind paktieren. Es kommt jetzt und in den nächsten Tagen und Wochen darauf an, dass alle diese Arbeiter an die Parole der streikenden Hoesch-Belegschaft denken:

‚9% sind ein Hohn; 15% kriegen wir schon.’

Und es kommt darauf an, dass die Teile der Arbeiterklasse, deren Schwäche schon zu einem Ergebnis von 10% geführt hat, ihre Kollegen durch weitere Streikaktionen solidarisch unterstützen. Wenn wenigstens für die Metallarbeiter, für die Schlichtungsverhandlungen laufen, 15% erkämpft werden sollen, müssen die Parolen lauten:

DIE STREIKFRONT NICHT ABBRÖCKELN LASSEN, SONDERN WIEDER STÄRKEN!
DIE EINHEIT DER ARBEITERKLASSE IST DIE SCHÄRFSTE WAFFE GEGEN ALLE AUSBEUTER UND UNTERDRÜCKER!”
Q: Rote Fahne, Nr. 10, Berlin, Oktober 1970.

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