Express international, Jg. 7, Nr. 83, 17. Okt. 1969

17.10.1969:
Es erscheint der 'Express international' (Exi) Nr. 83 (vgl. 3.10.1969, 31.10.1969).
Von Rudolf Ritter erscheint auf Seite 5 folgender Artikel:"
SCHLOOFKÖPP
DIE IG-BERGBAU UND DIE STREIKS

Wer die erste Oktobernummer der IG Bergbau (IGBE, d.Vf.), die 'Einheit' in die Hände bekommt, muß sich an den Kopf fassen.

Zum ersten Mal seit 1928 haben sich Belegschaften der Stahlindustrie (IGM-Bereich, d.Vf.), des Öffentlichen Dienstes (ÖTV-Bereich, d.Vf.) und auch im Bergbau (u.a. in Dortmund, d.Vf.) spontan in Bewegung gesetzt. Für jeden Gewerkschafter, für jeden Arbeiter und Angestellten (auch bei diesen hat es spektakuläre Arbeitsniederlegungen gegeben!) sollte es ein Anlaß sein, ernsthaft nach den Gründen dieser Streiks - die im übrigen weit über die Bundesrepublik hinaus die Arbeiterschaft ergriffen haben - zu forschen. Die 'Einheit' hat sie gefunden: DKP und APO stellen die 'Hintermänner', die 'im Zwielicht agieren' - die 'wilden Streiks sind das Ergebnis einer raffiniert angelegten Aktion aus dem Hintergrund'.

Mit Einzelheiten (drei 'SDS-Funktionäre kurvten emsig in der entscheidenden Streiknacht von Schachtanlage zu Schachtanlage'), die einem berufsmässigen Überwachungsdienst Ehre einlegen würden, wird hier 'bewiesen', daß es ein Versagen der IG Bergbau gegenüber den Kollegen nie gegeben hat. 'War es nur Unzufriedenheit über zu niedrige Löhne? Aber: die Löhne sind eigentlich nie zu hoch gewesen.' Anders ausgedrückt: die Bergarbeiter sind schon seit hundert Jahren unzufrieden - aber deshalb können sie doch nicht ohne 'ihre Gewerkschaft', die 'nur in klaren Verhältnissen ihre Interessen erfolgreich wahrnehmen kann', in den Streik treten…

Gewerkschaftsfunktionäre, die auch ein wenig kritisch die letzten Wochen betrachtet haben, wissen sehr genau, daß die Kommunikation von den Mitgliedern zur Gewerkschaftsebene 'gesperrt' war. Der Schrei 'Schloofköpp' trifft diesen Vorwurf sehr genau. Die Arbeiter waren aufgewacht, als sie - im Zuge der sogenannten Vermögensbildung - als Mini-Aktionäre erfuhren, was für eine Dividende aus den Gewinnen ausgeschüttet werden sollte. Die vielgeschmähten Fernseh- und Rundfunkgeräte hatten sich - ohne daß 'die DKP alle (!) notwendigen Weichen gestellt hatte! - als kollektiver Organisator einer weit verbreiteten Unruhe herausgestellt.

Eines hat selbst die 'Einheit' gemerkt: 'die Kommunisten waren sogar so zurückhaltend, daß es auffiel.' Wenn etwas typisch für diese Streiks gewesen ist, dann die Ablehnung jeder Einmischung von außen, ob sie von der DKP, der APO - oder auch von den Gewerkschaften kam. Die vorherrschende Stimmung war, daß es keine Gruppe gab, die die Streikenden vertreten konnte. Das Mißtrauen war so groß, daß die Arbeiter, von ihrem eigenen Apparat abgeschnitten, bestenfalls bereit waren, technische Hilfe anzunehmen: wenn es einer Gruppe gestattet wurde, Flugblätter herzustellen, dann bestimmten aber die Streikinitiatoren den Inhalt selbst.

Wer dieses Merkmal des Streiks nicht erfaßt hat, sucht böswillig nach einem Sündenbock, um eigene Versäumnisse zu vertuschen. Eine - unzureichende - Entschuldigung mag in der Tatsache gefunden werden, daß bei völliger Ablehnung der APO in einer Reihe von Streiks äußere Formen der APO entlehnt wurden: so war die Aktivität der jüngeren Arbeiter in der Stahlindustrie (wo im Laufe der Rezession Zehntausende von Älteren aus dem Betrieb entfernt wurden) hervorstechend, so war der Laufschritt-Typus der Demonstrationen ohne Zweifel ein unbewußter Anklang an das Auftreten der APO.

Die Initiatoren des Streiks, die 'Falschmünzer', 'Studenten', 'Kommunisten' der 'Einheit', waren zum großen Teil keine Betriebsräte und oft auch keine Vertrauensleute. 'Niemand (der Bergleute) konnte… erklären, wie es denn nun eigentlich angefangen habe.' Wer so böswillig einen Streik von hunderttausend Arbeitnehmern in der Bundesrepublik verkennt (die 'offizielle' Zahl liegt bei ca. 70 000), der versperrt sich auch den Zugang zu einer objektiven Analyse. Es ist deshalb durchaus möglich, daß eine im Ruhrgebiet kursierende Nachricht - die IG Bergbau habe veranlaßt, daß Vertrauensleute und Betriebsräte wegen Störung des Betriebsfriedens entlassen worden seien - auf Wahrheit beruht. Es ist eben für die IG Bergbau unverständlich, wenn ihre Mitglieder die abstrakte Propaganda der Gewerkschaften für soziale Gerechtigkeit konkret verstanden haben und ihre Schlußfolgerungen ziehen. Ein neuer und wichtiger Zug dieser Bewegung ist dabei, daß die Streikenden dabei im September fast durchweg lineare Erhöhungen gefordert haben, d.h. gleiche Beträge für alle Beschäftigten: diese egalitäre Forderung, naheliegend bei dem Auseinanderklaffen der unteren und oberen Einkommen und bei gestiegenen und zweifellos weiter steigenden Preisen, drückt ein gewachsenes Bewußtsein der Zusammengehörigkeit aus.

Wenn Kollegen in den Streik treten, fragen sie beim Ergebnis nicht nur nach der Lohnerhöhung, sondern auch nach dem durch die Streiktage eingetretenen finanziellen Verlust. Die 'Einheit' schreibt empört, daß es 'die APO-Studenten nicht interessiert, ob die Bergarbeiter durch wilde Streiks Lohnausfälle… erleiden…' In den meisten Betrieben der Stahlindustrie sind zweifellos Streiktage bezahlt worden. Auch Betriebsleitungen im Bergbau sollen zugesagt haben, die entstandenen finanziellen Einbußen auszugleichen. Gleichzeitig wird jedoch behauptet, daß die IG Bergbau die Zahlung der Ausfälle verhindert habe. Das wäre ein unerhörter Vorgang, den sicher alle anderen deutschen Gewerkschaften scharf verurteilen werden."
Q: Express international Nr. 83, Frankfurt 17.10.1969

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