Nach Gerd Koenen "Das Rote Jahrzehnt" (2001) und Michael Steffen "Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971 bis 1991“ (2002) gibt es nun eine weitere Analyse, die sich zum Ziel gesetzt hat, die "Lebenswelt der K- Gruppen", so der Autor Andreas Kühn", zu erforschen. "Stalins Enkel, Maos Söhne. Die Lebenswelt der K-Gruppen in der Bundesrepublik der 70er Jahre“ heißt das 300 Seiten starke Buch, das auf den ersten Blick enzyklopädistisch vorzugehen gedenkt. Kaum ein Thema scheint ausgeklammert zu sein. Parteileben, Rituale, Konspiration, Finanzierung, Wohnen, Betrieb, Militär, Gesundheit, Konkurrenz untereinander usw. Es scheint also nichts mehr übrig zu bleiben, was hinterfragt werden müsste. K-Gruppen, so könnte man wähnen, sind hier ein für alle Mal entscheidend abgehandelt, mikroskopisch untersucht, rekonstruiert und ihr Aufstieg und radikale Fall mit Daten und Fakten belegt worden.
Das Hauptaugenmerk richtet Kühn auf die Gruppen KPD/ML, KPD und KBW. Das ist nichts Außergewöhnliches. Fast alle führenden Persönlichkeiten dieser Gruppen haben in der Zwischenzeit irgendwo und irgendwie ihre Markierungen hinterlassen. Und damit erschöpft sich eigentlich auch schon seine Analyse. Die Bandbreite der verschiedenen Gruppierungen zu Beginn der 70er Jahre interessiert Kühn nicht. Ihre Spaltungs- und Abspaltungsprozesse, ihre Entwicklung, Niedergang und Renaissance sind für ihn nur dann relevant, wenn sie für ihn Füllstoff zum eigentlich Thema bieten. Das scheint allerdings auch der große Mangel aller Untersuchungen zur K-Gruppen Bewegung zu sein. Hier sind die Ergebnisse bestenfalls Gehversuche. Waren schon die Antworten von Koenen und Steffen eher renovierte Geschichten über das Abenteuer der Nach-68er, die zudem nur durchschnittliche Facetten über den Herausbildungsprozess der ML-Gruppierungen boten, so ist Ziel und Methode der Untersuchung von Kühn ebenfalls nur ein verkürzter Schritt, der sich mehr an Befindlichkeiten und einer subjektiven Schau über die K-Gruppen festmachen lassen lässt.
Das breite Spektrum der ML-Organisationen, anarchistische-, trotzkistische-, rätesozialistische und andere Gruppen sind nur am Rande erwähnt und/oder tauchen gar nicht auf. Bestes Beispiel dafür ist die KPD/ML, über die Kühn nichts Neues sagen kann. Aber gerade ihre fragmentierten Gruppenbildungsprozesse können m. E. nur aus rekonstruierter Sicht begriffen werden. Das Besondere, Spezifische, die Widersprüche also, die letztlich dem Prozess ihres Zusammenbruchs zugrunde lagen, müssten insgesamt aus dem Kontext der K-Gruppen Geschichte herauszulösen sein. Das wäre ein Schritt auf dem Weg, objektive Kriterien für eine analytische K-Gruppen Geschichte anzubieten, ohne zu denunzieren (wie viele Autoren es tun), sozialpsychologisch zu argumentieren oder ihnen mit universalistischen Totalitätsbestrebungen (vgl. Demokratischer Zentralismus) zu kommen.
Zu den führenden Persönlichkeiten, Aust, Dickhut, später Genger, kann Kühn sich nur auf das stützen, was schon publiziert wurde. Dabei tauchen allerdings wesentliche Fehler auf, die genannt werden müssen. So schreibt Kühn, dass die KPD/ML „ständigen Zulauf von Roten Garden hatte“. Das ist schlicht falsch. Die Roten Garden waren zunächst eigenständige Gruppierungen, die sich in der damaligen BRD mit der chinesischen Kulturrevolution herausbildeten und die unabhängig waren (vgl. z. B. die Rote Garde Westberlin). Erst mit dem Konstituierungsprozess der KPD/ML entwickelte sich eine Nähe zu ihr. Doch auch hier hat es lange gedauert, bis sie sich dazu entschlossen, als Jugendorganisation der KPD/ML zu firmieren. Selbst in NRW traten sie lange selbständig auf (vgl. z. B. die Vietnamdemonstration vom 20. Dezember 1969 in Bochum), ehe sie sich unter Peter Weinfurth und Oliver Tomkins dazu entschlossen, sich mit der KPD/ML zu arrangieren. Doch dies auch nicht für lange Zeit; denn schon bald wurde die Rote Garde in KJVD umbenannt.
Dass Dickhut eine Konkurrenzorganisation KPD/ML gründete, kann so nicht stehen gelassen werden. Das bestätigt die Eingangsthese, dass der eigentliche Spaltungs- und Abspaltungsprozess der Gruppen der 70er Jahre nicht objektiv anhand von Fakten untersucht wurde. Dickhut war in den Spaltungsprozess der KPD/ML involviert. Details dazu kann man nachlesen auf der „MAO-Seite“ der FU-Berlin. Im wesentlichen ging es damals um eine Reihe von Fragen, die hier nur kurz angerissen werden können: Theorie oder Praxis, Führung der Organisation, Parteiaufbau, Intellektuellenfrage, Kritik an der KPD/ML, Zusammenarbeit mit anderen Organisationen (u. a. KAB/ML).
Auf verschiedenen Konferenzen wurde die Kritik an der KPD/ML und ihrem autoritären Gehabe immer lauter. Vor allem der LV NRW entschloss sich bald dazu, die Rote Garde in KJVD umzubenennen. Diese Vorgänge, die im März/April 1970 stattfanden, konnte sich die Mutterpartei nicht gefallen lassen und schloss kurzerhand den LV NRW der Roten Garde aus. Daraufhin konstituierte sich der KJVD, der die Jugendorganisation der KPD/ML-ZB wurde. Dickhut selbst war von diesen neuen Führern (u. auch Gerd Genger) kaum angetan, weil sie nach seiner Auffassung die Zusammenarbeit mit den „proletarischen Kräften“ des KAB/ML sabotierten. Daraufhin gründete er zunächst die KPD/ML-RW (Revolutionärer Weg), die über einige Ortsgruppen in NRW verfügte. Diese wiederum einigten sich später (ab dem Sommer 1970) mit dem Tübinger KAB/ML. Beide Gruppierungen konstituierten am 5./6. August 1972 den KABD (Kommunistischer Arbeiterbund Deutschlands).
Dass Kühn sich in diesem Zusammenhang auf ein Interview mit Gerd Genger stützt (ehemaliger Politleiter der KPD/ML-ZB), ist zwar lobenswert, trägt aber nichts zur Klärung der KPD/ML-ZB-Geschichte bei. Kühn will die Mythenbildung der Maoisten (S. 243ff.) ad absurdum führen, fällt jedoch auf sie ständig herein. Dass er Peter Weinfurth der Bochumer Betriebsgruppe 1 zuschreibt (S. 25), kann nur als Unsinn bezeichnet werden. Norbert Kozicki hatte im „Aufbruch im Revier. 1968 und die Folgen“ damit endgültig aufgeräumt. Weinfurth war antiautoritärer Schüler und AUSS-Mitglied am Essener Burggymnasium und wandte sich schnell der Roten Garde zu, war Mitbegründer der Roten Garde Essen. Gerade Weinfurth (vgl. „Zur Geschichte der KPD/ML-Zentralbüro“ auf der MAO-Seite der FU-Berlin) stand zu Anfang der Gründung der KPD/ML-NRW in heftiger Fehde zur Betriebsgruppe 1 und speziell zu Gerd Genger. Hier und an anderen Punkten zeigen sich die schlechten Recherchen des Autors.
Dass Gerd Genger sich nicht erinnern möchte, ist seine Geschichte. Wie bei vielen führenden ehemaligen Persönlichkeiten aus der linken Szene (vgl. z. B. Joschka Fischer) scheint der Zeitgeist oder der Postmodernismus negativ zu wirken. Natürlich kann Kühn seine Aussagen schlecht nachprüfen. Er kann sie akzeptieren oder ablehnen. Vorzuwerfen ist ihm, dass er sich nicht genügend um eine Gegendarstellung zu seinen Äußerungen bemüht hat. Er nimmt sie einfach für bare Münze: „Und plötzlich war die B1 in der KPD/ML“ (S. 25), „was sollten wir mit dem alten Miesepeter“ (Dickhut, d. Vf.), wir „wollten unser eigenes Ding machen“ (S.25f.). Spätestens hier zeigt sich, wie Geschichtsklitterung funktioniert. Und dass man schnell einer subjektiven Suppe aus Halb- und Unwahrheiten aufsitzen kann. Die KPD/ML-ZB war eine der schillerndsten Organisationen der ML-Bewegung. Gerade deshalb hätte mehr Augenmerk auf ihre sehr differenzierte Entwicklung gelegt werden müssen.
Kühn formuliert, dass die „Gruppe um Weinfurth und Genger kaum Aktivitäten entfalteten“ und Dickhuts „Intellektuellenhass“ schon einer „inneren Konstituierung“ (S. 25) entsprach. Die Formulierungen führen in die Irre. Es war genau anders herum: Die Aktivitäten der Bochumer Betriebsgruppe 1 und der Roten Garde Essen (bzw. NRW) waren Ende 1969/Anfang 1970 enorm. Um nur einige Ereignisse zu nennen, an denen sich die B1, später die Rote Garde; beteiligten: Notstandsgesetzgebung an der Ruhruniversität Bochum (Mai 1968), zentrale Vietnamdemonstration am 20. Dezember 1969 in Bochum (BI und Rote Garde), Aufforderung des Bochumer Sozialistischen Arbeiter- und Lehrlingskomitees und der Proletarischen Linie, die Rote Garde zu unterstützen, Diskussionen, Aktionen, über die viel Material vorliegt, schließlich die Aufforderung an die B1, den Rote-Garde-Kollektiven im Ruhrgebiet beizutreten. Damit hatte Dickhuts Intellektuellenposition zunächst gar nichts zu tun. Kühn meint hier vermutlich die Intellektuellenbeschlüsse der KPD/ML aus dem September 1969, die einen ganz anderen Hintergrund hatten. Und diesen zu erläutern, darauf verzichtet Kühn ganz. Es ging nämlich um einen Aufnahmestopp für Intellektuelle, die, so die These Dickhuts, die Organisation überwuchern würden. Um dem einen Riegel vorzuschieben, sei für eine begrenzte Zeit die Anwerbung von Jungarbeitern, Auszubildenden und Arbeitern ein primäres Ziel (siehe Revolutionärer Weg 4 und 5). Erst im Laufe des Jahres 1970 sollte sich die ganze Tragweite dieser Beschlüsse zeigen, die nämlich u. a. die KPD/ML aufspaltete, später dann (nach dem a. o. Parteitag vom Dezember 1971) in kaum zu überschaubare Gruppen, Zirkel und Bünde und auch Parteigebilde (vgl. z. B. Marxisten-Leninisten Deutschlands) zerfiel.
Selbst der KBW, so könnte gemutmaßt werden, ist in Teilen ein Konstrukt der KPD/ML gewesen, wenn etwa an die Ortsgruppe Dortmund des KBW gedacht wird, die sich über KPD/ML-ZK, den Marxisten-Leninisten Dortmund (nach 1971) und der Kommunistischen Fraktion für den Wiederaufbau der KPD (1973) später im KBW organisierten (vgl. Jürgen Schröder „Ideologischer Kampf vs. regionale Hegemonie“, Berlin 1990). Selbst die KPD (AO) partizipierte immer wieder an den Hinterlassenschaften der ML-Reste. Unstrittig ist, dass eine Reihe von Ortsgruppen der ML-Couleur (vgl. z. B. Teile der Iserlohner Sauerlandfraktion), die sich nach der Vietnamdemonstration in Bochum der Roten Garde, dann dem KJVD der KPD/ML-ZB anschlossen, sich später auch (1973/74) mit der KPD (AO) arrangieren konnten. Das zeigt, wie weit verzweigt der Gruppenbildungsprozess war und dass ohne eine sorgfältige Recherche kaum zu verstehen ist, welche Fraktionierungen es gab, wo sie in Erscheinung traten und wie sie zu Strömungen und führenden Kernen wurden.
Das Kapitel „Vorläufer und KPD/ML-ZB“ ist damit auch schon beendet. Kühn kann sich nun voll auf die KPD/ML nach 1973 konzentrieren, auf KPD und KBW. Zu diesen Kapiteln ist zu sagen, dass sie fleißigen Lesern von Zentralorganen nichts Erhellendes zu diesen Gruppen zu sagen haben. Alles scheint sich Koenen anzunähern., teilweise auch Gerd Langguth („Protestbewegung. Entwicklung, Niedergang, Renaissance. Die Neue Linke seit 1968“, Köln 1983), was Stil und Diktion anbelangt. Vor allem bei der Durchsicht der Kapitel zum KBW (S. 33ff.) bekommt man den Eindruck, als hätte Kühn seitenweise diese Vorlagen benutzt. So geht es munter weiter: Ein paar Anekdoten zu Christian Semler, der RPK unter Horst Mahler (S. 30ff.), der RAF (S. 168ff.), die er auf sieben Seiten abhandelt und die bei ihm erst mit der Lorenz-Entführung (27. Februar 1975) in Erscheinung tritt, dann wieder der Alltag der K-Gruppen, Ernährung, Sexualität, Brauchtum und Erziehung (S. 78ff.). Einem wichtigen Pfeiler der maoistischen Gruppen, der Betriebsarbeit, Agitation und Propaganda, widmet Kühn nur 5 Seiten (S. 137-142), wobei sich der Leser auch hier mit Stückwerken aus der RGO-Geschichte arrangieren muss. Die GOG (Gruppe Oppositioneller Gewerkschafter bei Opel Bochum/Schaumberg und andere) oder die ehemaligen 2. Listen (vgl. Hoesch-Dortmund/Siemon/Bömer) fehlen vollkommen. Ohne sie ist die RGO nicht zu verstehen, ohne die zentrale These der ML-Bewegung „Streiken wie die Hoesch-Arbeiter, Hoesch-Arbeiter bringen uns weiter“ auch nicht.
Schließlich spannt Kühn den Bogen zur Anti-AKW Bewegung, den Frauen, Alternativen und Grünen (S. 261ff.). Nachlesen kann man diese Entwicklung bei Gerd Langguth („Der grüne Faktor. Von der Bewegung zur Partei“, Zürich 1984), aber vor allem bei Joachim Raschke („Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind“, Köln 1993). Der Autor kennt sie gar nicht, zumindest zitiert er sie nicht. Stattdessen wird wiedergegeben, was KBW, KPD oder KPD/ML zu den Grünen vertraten und auf eine eigene Position weitgehend verzichtet. Das kann sich nur nachteilig auswirken, denn spätestens hier wird klar, dass ohne regional verfolgte Analyse die Vielfalt des alternativ-grünen Spektrums (herausgelöst aus K-Gruppen-Sekten) kaum zu begreifen ist.
Wie lässt sich der Code der K-Gruppen entschlüsseln? Vonnöten ist heute eine Klärung der Herausbildung linker und marxistisch-leninistischer Gruppen zum Ende der 60er und zu Beginn der 70er Jahre. Dieser analytische Prozess wäre in Gang zu setzen, um den Maoismus als das zu begreifen, was er sein wollte, doch nicht werden konnte: eine Zwischenstufe der Keimform einer (neuen) sozialen Bewegung, die sich anschickte, die bundesrepublikanische Welt zu verändern.
Dass Kühn die K-Gruppen, ihre Lebensgewohnheiten, ihren dogmatisch-politischen Stil, ihre Unterwürfigkeit zu den „großen“ Marxisten-Leninisten gleich in Dutzenden von Kapiteln abhandelt, ist die Sache des Autors. Doch dass er die K-Gruppen mehr in einen kontemplativen Kontext hineinpresst, ist schon erstaunlich. So jedenfalls wird man weiter wenig über die Gruppenbildungsprozesse der damaligen Zeit erfahren. Kühn ist erstaunt über die Bestände des „Archivs APO und soziale Bewegung“ (S. 9ff.) in Berlin. Hätte er sich dort wirklich umgesehen, recherchiert über Gruppen, Strömungen, Abspaltungen und Neugründungen, über Zirkel, Arbeiterbünde und Zellen, Fraktionen und Zirkel, dann hätte dem Autor möglicherweise ein großer Wurf gelingen können. Auf der schon genannten MAO-Seite (Schröder/Kesten) wird zumindest der Versuch unternommen, Analyse und Pionierarbeit zu leisten. Und hier stehen wir erst am Anfang.
Im Übrigen wirkt sich sehr nachteilig aus, dass Kühn im Anhang noch nicht einmal ein Organisationsregister anführt. Positiv zu bewerten ist allerdings die Beschäftigung mit der Fülle von Materialien, die er ausgewertet haben will. Doch auch hier fällt auf, dass er weitgehend auf Interna verzichtet. Wieder wäre die KPD/ML-Zentralbüro zu nennen, zu der Kühn kaum brauchbares Material gesichtet hat.
Letzte Änderung: August 2006
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