Rezension:
Marianne Brentzel: "Rathaussturm" (2021)

(die Besetzung des Bonner Rathauses 1973 durch KPD und Liga gegen den Imperialismus und die Folgen)

Materialien zur Analyse von Opposition

Von Dietmar Kesten, Gelsenkirchen, 31.10.2021


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Am 2. September 1972 zog es die Anhänger der KPD/ML-Rote Fahne/Roter Morgen sowie Mitglieder verschiedener anderer marxistisch-leninistischer Organisationen nach München, um gegen das Auflageverbot in der Münchener Innenstadt, der Bannmeile, zu demonstrierten. Hintergrund der Aktion war die Olympiade 1972 und der Vergleich mit 1936. Die Münchener Olympiade endete mit der Geiselnahme israelischer Sportler und einem schrecklichen Massaker, für das der "Schwarze September" verantwortlich war.

Die Aufrufe der damaligen Akteure zu München 1972 erinnern mich irgendwie an den "Bonner Rathaussturm". Damals ging es um die "Bonner Ostpolitik", die als "Revanchepolitik" gegeißelt worden war. Mit den Slogans "Schlagt Genscher, Barzel, Strauß und Brandt, den Notstandsknüppel aus der Hand!, "Straße frei zum Roten Antikriegstag!", "Gegen Aufrüstung und imperialistischen Krieg!", "Nieder mit dem imperialistischen Komplott Bonn-Moskau", "Gegen die Kriegsolympiade", zog man, "bewaffnet" mit Schlagstöcken, Fahnenstangen und Helmen, gegen eine Übermacht von Polizei und Bundesgrenzschutzeinheiten zum Marienplatz/Karlstor und sonnte sich tags darauf im Lichte des Sieges: "Arbeiter, Werktätige! Für das Recht auf die freie Straße wurde die Bannmeile durchbrochen!" (Erklärung des Zentralbüros der KPD/ML vom 2. September 1972).

Der "Rote Antikriegstag 1972" gehörte mit zu den putschistischten, militantesten und provokativsten Aktionen der Maoisten zu dieser Zeit, ein leichtsinniges Wagnis, rücksichtlos und verantwortungslos, das gleichzeitig von einer hohen Intensität der Indoktrinierung der Basis gekennzeichnet war. Was geblieben war, waren die Antikriegstagsprozesse, die mit einer Verurteilung zahlreicher Verhafteter mit Gefängnisstrafen, vor allem wegen "Landfriedensbruch" und "Rädelsführerschaft", endeten. Erst gegen 1980 waren sie beendet.

Vergleicht man den "Bonner Rathaussturm" vom 10. April 1973 mit den damaligen Ereignissen, so stellt man fest, dass sich hier in gewisser Weise jene Illusionspolitik mit spektakulären Aktionen fortgesetzt hatte, ein "typisches Muster einer Vielzahl von militanten Aktionen während Demonstrationen bis zum heutigen Tag". (MAO-Projekt: "Der Thieu-Besuch am 10.4.1973 in Bonn"). Zwar waren die Anlässe immer andere, aber die Überzeugung der Demonstranten, dass sich irgendwo und irgendwie etwas ändern ließe, war stets gleich geblieben.

1973 ging um den Thieu-Besuch, seinerzeit Präsident der Republik Vietnam, der sich schwere Menschenrechtsverletzungen zuschulden hat kommen lassen und der als Marionette der "US-Imperialisten", so der Slogan, galt und der auch mit der deutschen Sozialdemokratie (Brandt als Komplize) im Bunde war.

Die KPD hatte schon seit Anfang 1973 über ihre Vietnamkomitees- und deren Ausschüsse, der Vietnamhilfe und durch das NVK (Nationales Vietnamkomitee), die Trommeln gegen das Thieu-Regime (vgl. etwa Rote Fahne, Nr. 10/1973, 12/1973, 13/1973, 14/1973) gerührt. In vielen Orten fanden Solidaritätsdemonstrationen statt. Hier und da kam es zu Auseinandersetzungen mit den Ordnungskräften, die öfter mit "erkennungsdienstlichen Behandlungen" endeten, ein Punkt, den Marianne Brentzel gut herausarbeitet.

Ob sich daraus der Bonner Aktionismus erklären lässt? Zumindest dürfte hier einer der Ursprünge liegen. Zwangsläufig war das Projekt "Rathaussturm" dennoch nicht. Zu den vielen Ungereimtheiten gehörte sicherlich der verdeckte Ablauf des eigentlichen Sturms, und er erinnerte an den "Roten Antikriegstag 1972". Auch damals war die Durchbrechung der Polizeisperren am Marienplatz nur einem kleinen Kreis von Polit- und Orgleitern bekannt gewesen. Sie klärten die Mitglieder und Sympathisanten teilweise erst vor Ort auf.

Die Autorin arbeitet im Vorspann an vielen Einzeldokumenten (etwa jene Unterlagen von Bruno B.) und Gesprächen mit Horlemann, Semler und anderen heraus, dass der "Rathaussturm" eine "spektakuläre Aktion" werden sollte, an die man sich später erinnert und die der gesamten Organisation einen Schub geben sollte, um neue Mitglieder zu gewinnen und die die Bevölkerung aufzuklären. Zudem sollte sie eine politische Wende einleiten, die national und international ausstrahlen sollte.

Dass man auch von Seiten der Presse und des Fernsehens nach der Bonner Aktion auf führende Köpfe der KPD aufmerksam wurde, belegt die Monitorsendung vom 17.4.1973 mit Claus Hinrich Casdorff, in der Horlemann und Semler (ZK der KPD) ihre Manifestation verteidigten und den Weg zum Sozialismus als eine "bewaffnete Auseinandersetzung der Volksmassen" (Rathaussturm, S. 76) verteidigten, eine Ansicht, die sicherlich von den maoistischen Gruppen insgesamt geteilt wurde und sich nicht nur auf die KPD beschränkte.

Der "Rathaussturm" wurde dann in der "Roten Fahne" (Nr. 15 vom 11.4.1973) genüsslich ausgeschlachtet. Die Besetzung des Bonner Rathauses sei ein "Symbol des Kampfes der Antiimperialisten der BRD" gewesen, die mit einer "geordneten Auflösung der Demonstration" endete. Wirft man indes einen Blick auf die veröffentlichten Fotos in der RF, dann glaubt man unschwer daran, dass die Besetzung "nur" ein "Handstreich" gewesen war und dass die behelmten Demonstranten nichts von der Aktion gewusst hätten. Aus heutiger Sicht hätte übrigens die Grußbotschaft der "Vertretung der Provisorisch Revolutionären Regierung der Republik Südvietnam" über die Aktion, die die "Rote Fahne" veröffentlichte (ebd.) auch von "Radio Tirana" stammen können. Ob jene Vertreter über die Hintergründe und den Verlauf der Besetzung informiert waren?

Neben dem Vorspann und der Darstellung der Besetzung widmet sich das Buch zu einem erheblichen Teil den Prozessen und den Prozessverläufen gegen Horlemann und Semler (Rathaussturm, S. 20ff.), aber vor allem dem Prozess gegen Uli Kranzusch (am 4.11.1973 zu einem Jahr Gefängnis ohne Bewährung verurteilt), der zwar anfangs noch die Solidarität seiner Genossen hatte, die im "Solidaritätskomitee: Freiheit für Uli Kranzusch" und in den verschiedenen "Roten Hilfen" organisiert waren, aber der "Rathaussturm" wurde für ihn zum Fanal. Die Autorin gibt hier einen guten Einblick auf das, was nach dem "Rathaussturm" folgte. Das belegen auch die Gespräche mit Rechtsanwalt Brentzel. Sie vergisst auch nicht den Blick auf die menschliche Seite von Kranzusch zu werfen, der von der Justiz langjährig verfolgt und von seinen Genossen später wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen wurde.

Man kann die Darstellung seiner seiner Inhaftierung, die Chronik über die Prozesstage und Kranzuschs Tagebucheintragungen (Rathaussturm, S. 82ff., 101ff., 126ff., 143 ff.), die Marianne Brentzel schildert, akzeptieren, man kann sie aber auch mit dem Hinweis versehen, dass es reichlich ähnliche Fälle gab und dass auch sie nur einen Teil der Folgen der maoistischen Aktivitäten spiegeln. Hier wäre ein Blick auf die Verhafteten der "Antikriegstagsprozesse" und ihrer Berichte nicht verkehrt. (vgl. "Die Antikriegstagsprozesse 1972-1980") Selbstredend schreibt aber die Autorin ein Buch über den "Rathaussturm". Dazu gehört all das, was sie penibel zu den Prozessabläufen anzumerken hat.

Der Ausblick der Autorin ist dann eher ernüchternd. Im Nachwort "Das große Warum?" kristallisiert sich u. a. die Frage nach der Entstehung der maoistischen Gruppen in der BRD heraus. Das ist m. E. der schwächste Teil des Buches. Wie der Maoismus in die BRD kam, ist eine Frage von vielen, die sich an dieses Kapitel anschließen und die nicht zuletzt mit dem Schisma zwischen der SU und der VR China seit dem XX. Parteitag der KPdSU (Februar 1956) und dem Revisionismusvorwurf der chinesischen "Großen Polemik", dem Aufruf Maos, "wahrhafte marxistisch-leninistische Parteien zu gründen", zusammenhängen.

Mit der Auflösung der KPD am 19.3.1980 ist das Kapitel des Maoismus noch längst nicht beendet. Die Forschung zur Gruppenbildung in der BRD ist immer noch zu einem erheblichen Teil ein "weißes Feld". Sollte irgendwann Licht das Dunkel erhellen, dann hätte man zumindest eines erreicht: Forschungsgrundlagen zu weiteren exemplarischen Analysen (wie das Buch der Autorin).

So schließt sich der Kreis. Von den damaligen Akteuren, die in hauptamtlichen Positionen saßen, "eine Entschuldigung" zu erwarten (Rathaussturm, S. 24) bzw. im maoistischen Sinne eine "Selbstkritik", wirkt hier eher kurzatmig und deplatziert. Dann müsste man auch alle Mitglieder, Sympathisanten und Wellenreiter der K-Gruppen in die Verantwortung nehmen, die alle Linienkorrekturen, Rituale und politischen Wendungen mitgetragen haben. Jede Bewegung ist nun mal in der Euphorie gefangen gewesen, die Welt ein Stück besser zu machen - und ist meist daran gescheitert.

Marianne Brentzel: Rathaussturm, Vechta: Geest-Verlag 2021, ISBN 978-3-86685-824-4, 225 S., 12,- Euro

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Letzte Änderung: 31.10.2021