Rezension:
Bernd Ziesemer: Maos deutscher Topagent - Wie China die Bundesrepublik eroberte (2023)

Materialien zur Analyse von Opposition

Von Dietmar Kesten, Gelsenkirchen, August 2023

Licht ins Dunkle. Bernd Ziesemer über Gerd Flatow

Teil I

Wie kommt man dazu, sich biographisch mit einer Person zu beschäftigen, die weithin unbekannt ist, die in der frühen maoistischen Bewegung der beginnenden 1970er Jahre in der BRD eine nicht unbedeutende Rolle spielte und die nun durch die Recherchen von Bernd Ziesemer eine ganz andere Bedeutung bekommt. Es handelt sich um Gerd Flatow. 51 Jahre nach meiner Begegnung mit Flatow, hat Ziesemer nun die Stationen seines Lebensweges nachgezeichnet.

Ich bin Ende 1969 im Zuge der Spaltung des Republikanischen Clubs in Gelsenkirchen nach intensiven Gesprächen mit Stephan Bock, Klaus Dillmann und Jürgen Link von der KPD/ML Bochum in die Gruppe eingetreten. Schon bald gab es einen Ortsverband Gelsenkirchen der KPD/ML und der Roten Garde, der Jugendorganisation. Anfang 1970 wurde ich als Mitglied in die Landesleitung NRW der KPD/ML kooptiert. Dort lernte ich Gerd Flatow zusammen mit Peter Weinfurth, Willi Dickhut, Ralf Klagges, Franz Wennig, Helmut Seidel und Horst Reichhard in der Bochumer Bongardstraße kennen. Seinerzeit ging es bei den Debatten vor allem um die Fragen: Hauptseite Theorie oder Hauptseite Praxis, um die Organisationsfrage, um den Jugendverband und um die kommende Strategie der KPD/ML im Kampf gegen die sog. "Liquidatoren" des Zentralkomitees um Ernst Aust herum.

Etwa von April bis August 1970 kristallisierte sich immer deutlicher heraus, dass ein Teil der Mitglieder der Landesleitung es für richtig hielten, eine Kooperation mit der "Bochumer Betriebsgruppe 1" (kurz: B 1) einzugehen, da diese in ihrer Schrift "Proletarische Linie. Organ der Marxistisch-Leninistischen Zirkel im Ruhrgebiet" vom Februar 1970 die Politik der KPD/ML untersucht hatte und eine Zusammenarbeit mit ihr für möglich hielt. Bereits damals hatten Willi Dickhut, Gerd Flatow und andere die "B 1" als einen "trotzkistischen Haufen" bezeichnet, der von "kleinbürgerlichen Intellektuellen" durchdrungen sei und danach trachte, die "marxistisch-leninistische Bewegung zu unterwandern". (1)

Kurz zuvor fand in Bochum am 20.12.1969 eine der größten Vietnam-Demonstrationen im Ruhrgebiet statt, auf der die KPD/ML und die Rote Garde NRW Kontakte mit der "B 1" knüpften. Ein Teil dieser Gruppe fand sich später in der KPD/ML wieder. Das ging alles, wie damals üblich, nicht ohne erhebliche Kontroversen unter den Landesleitungsmitgliedern, dem Sekretariat und der LKK ab, und es wurde mit Agentenvorwürfen nur so um sich geworfen.

Der "B 1" wurde eine Liaison mit der Organisation BND (Reinhard Gehlen) und den Trotzkisten der IV. Internationale unterstellt, die mit Macht daran gehindert werden müsse, in die KPD/ML einzutreten. Damals reichte bereits eine handschriftliche Notiz eines Mitgliedes der "B 1" an die "Socialist Workers Party", um die Mär von der trotzkistischen Unterwanderung zu stricken. Eine von Dickhut selbst angefertigte "Warnung", die als "Sondernummer" des "Revolutionären Weges" erschien und heute im Verlagsprogramm der MLPD nicht mehr auftaucht, sollte das befeuern. (2) Gleichzeit erhob er schwere Vorwürfe gegen die "Machtpolitik der kleinbürgerlichen Intellektuellen": Sie wollten das "faschistische Führerprinzip in die KPD/ML einführen". (3) Dennoch drängte eine Mehrheit der Landesleitungsmitglieder darauf, die Kontakte mit der "B 1" zu intensivieren, um sie zum Übertritt in die KPD/ML zu bewegen.

Anfang August 1970 diskutierten Peter Weinfurth (damaliger Politverantwortlicher des Landesverbandes NRW) und ich über das Papier: "Offener Brief der Landesleitung NRW an die Mitglieder der Partei: Die weiße Verschwörung zerschlagen". Woher die Informationen in diesem Brief kamen, ist unbekannt. Wesentlicher Inhalt war jedoch: Der "Kampf gegen die rechte Dickhut-Flatow-Clique" und die Eröffnung des Parteiverfahrens gegen sie. Erklärt wurde u. a., dass die Bourgeoisie bereits ihre Agenten in die Partei eingeschleust habe, um diese zu zerschlagen.

Namentlich wurde Flatow, der zur damaligen Zeit den Vorsitz der Landesleitung der KPD/ML NRW inne hatte, genannt. Er sollte als "Stahlkapitalist Spionagetätigkeit gegen die VR China durchgeführt" haben, und er saß deshalb unter der Kuomintang im Gefängnis. Er würde nun sein "Unwesen treiben". Es wurde der Ausschluss von Flatow und Dickhut ohne weiteres Verfahren gefordert. Eine Mehrheit der damaligen LL-Mitglieder stimmte am 19.8.1970 für diesen Antrag und den "Offenen Brief", der mit dazu führte, dass sich eine weitere Fraktion um Willi Dickhut zur "KPD/ML-Revolutionärer Weg" (nach dem theoretischen Organ) zusammenschloss.

Das Papier, das wohl verschollen ist, gehörte zu den wenigen Dokumenten, war möglicherweise 1970 auch das einzig bekannt gewordene Paper, das sich mit der Biografie Flatows beschäftigte. Wir hatten damals nie hinterfragt, woher die Informationen über seine angebliche "Agententätigkeit" und die Vorwürfe der "Spionage gegen die VR China" eigentlich kamen. (4)

Hintergrund für diese Behauptung war u. a., dass eine Genossin aus Hamburg seinerzeit auf Bitten Flatows Dias aus China besorgt haben soll, die vor einem westdeutschen Industrieclub gezeigt werden sollten, was als Fingerzeig für die Spionagetätigkeiten Flatows interpretiert wurde. Eine Gegenüberstellung mit ihr soll er abgelehnt haben. Die Darstellungen darüber, etwa aus dem "RW 5" und bei Bernd Ziesemer, ist dann nur die halbe Wahrheit. (5). Da tauchte dann auch zum ersten Mal der Name Otto Wolff von Amerongen auf, für den Flatow als Geschäftsführer in China gearbeitet haben soll.

Wir nahmen die Anwürfe gegen Flatow, die in der "Weißen Verschwörung" gestreut wurden, für bare Münze; denn schließlich ging es um die "Reinheit der Partei", die keine Abweichler und schon gar nicht Agenten in ihren Reihen dulden durfte. Wir stellten uns ohne Wenn und Aber hinter diverse Schmähschriften, die von allen Seiten gestreut wurden, um so die "Richtigkeit der proletarischen Linie" zu befeuern und um im "ideologischen Kampf" keine Kompromisse zu dulden.

Bei all diesen Auseinandersetzungen verwunderte mich stets, dass niemand aus dem Inner-Circle bereit war, sich mit den Vorwürfen auseinanderzusetzen. Flatow, auf den ja die Anwürfe abzielten, blieb den Sitzungen der Landesleitung einfach fern. Niemand konnte ihn zur Rede stellen und ihn auf seine Geschäfte ansprechen. Flatow war einfach abgetaucht. Ich hatte auch nie verstanden, warum Willi Dickhut sich in den Debatten niemals zu ihm äußerte, obwohl schon für ihn damals in der LKK und dann auch in der des KABD stets Kontrolle und Wachsamkeit im Mittelpunkt standen. Was wusste er? Warum schwieg er? Was wusste er über Flatows Engagement als "Stahlgroßhändler"?

In der BRD hinterließ der Maoismus bereits ab 1965 mit der MLPD (alt), die das "Sozialistische Deutschland" herausgab, seine ersten Spuren. Helmut Günther und Gerd Klotsch machten sich mit den "Unbequemen" einen Namen und bekleckerten sich in der jungen ML-Bewegung gerade nicht mit Ruhm. Klaus Schaldach gab die "Spartakus-Briefe" (1966) heraus, der "Markowski-Kreis", der "Initiativausschuss zur Gründung einer sozialistischen Partei" und die FSP (ML) mit Heuzeroth, Lambrecht und Ackermann folgten. Leider finden diese Gruppen bei Bernd Ziesemer keine Erwähnung. Das Spezifische und Besondere an den Gruppenbildungen und Fraktionierungen, das breite Spektrum dieser Organisationen, hinzukommende anarchistische, trotzkistische, rätesozialistische und andere Gruppen zum Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre wären als Hinweis wichtig gewesen; denn sie belegen, dass es nicht nur die KPD/ML aus der Anfangszeit war, die sich mit Maos roter Sonne geschmückten. Die Frage, ob Flatow zu ihnen Kontakt hatte, muss somit offen bleiben. (6)

Flatows Engagement in der frühen KPD/ML ist aus der heutigen Sicht schwer einzuschätzen. In der zur Jahreswende 1968 gegründeten KPD/ML konnte oder wollte er sich nicht durchsetzen. Warum er ausgerechnet zur KPD/ML stieß, lässt sich eigentlich nur durch seine Bewunderung für China (S. 138f.) und durch sein Durchhaltevermögen erklären. Und da war für ihn die Aust-Partei sicherlich die erste Adresse. Flatow als Mitbegründer der KPD/ML hielt sich im Schatten von Ernst Aust auf, der die Gründung vorantrieb. Er wurde zwar als ZK-Mitglied gehandelt, zog es aber aus unbekannten Gründen vor, sich mit der Kontroll-Kommission zu beschäftigen, die in der Gründungszeit der KPD/ML eigentlich keine Rolle spielte. Über seine politische Tätigkeit in der jungen Partei bis zur Spaltung im Frühjahr 1970 und in den ersten Jahren bei der KPD/ML (RW) sowie nach der Vereinigung mit dem KAB/ML zum KABD im August 1970 (7) gibt der Autor nur spärlich Informationen. Sie fehlen im Gesamtbild der Flatow-Biografie (S. 159ff.)

Flatow, so Bernd Ziesemer, spielte "in den wüsten Fraktionskämpfen im ersten Jahr nach der Gründung keine führende Rolle" (S. 165f.). Zumindest traf das auf den LV NRW nicht zu. Flatow begab sich aufgrund von Freundschaftsbanden auf die Seite von Dickhut, der sich bei ihm über die Anwürfe gegen ihn in der "Weißen Verschwörung" beschwerte und seine weitere Mitarbeit in der KPD/ML von der Loslösung der Studentengruppe "B 1" abhängig machte, die, wie bekannt, einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Bildung der KPD/ML-Zentralbüro hatte und mit dazu beitrug, dass sich eine neue KPD/ML, die "KPD/ML-Revolutionärer Weg" KPDML(RW), fraktionierte, ein Häuflein von vielleicht 20 Leuten aus Düsseldorf, Ratingen Wuppertal und Alsdorf, die sich gleich großtrabend zur "wahren KPD/ML" erklärten und zunächst mit dem Tübinger "Kommunistischen Arbeiterbund" (KAB/ML), eine bedeutungslose Gruppe an der Uni, eine Zusammenarbeit anstrebte, aus der dann der KABD entstand. (8)

Es gab auch eine "persönliche Erklärung" von ihm; Rundschreiben, die im LV NRW kursierten und andere Dokumente, die, wenn ich mich recht erinnere, leider, wie vieles andere auch, verschollen sind. Dickhut hatte seinerseits in seinem selbst fabrizierten RW 5 ("Über den Parteiaufbau"), in dem er sich seitenlang mit dem Zentralbüro beschäftigte und Protokolle von Konferenzen veröffentlichte, nur wenig dazu beigetragen, den Konflikt wahrheitsgemäß darzustellen und keine einzige Zeile über Flatows Dossiers verloren, was aus der heutigen Sicht natürlich sehr verwunderlich bleibt. (9)

Insofern hatte Flatow natürlich einen nicht zu unterschätzenden Einfluss gehabt. Er geisterte nun im LV NRW als "Persona Non Grata" und "Agent Provokateur" herum, der im TO des Zentralbüros "Bolschewik" (früher: "Revolutionärer Weg)" abgestraft wurde; denn "Zerschlagt die weiße Verschwörung" richtete sich ja massiv gegen ihn, und nicht nur gegen Dickhut, allgemeiner, gegen jeden, der irgendwie in den Stallgeruch eines "Agenten" kam. Somit war er in diesen Auseinandersetzungen sicherlich kein Mitläufer, sondern durchaus aktiver Mitgestalter.

Aber auch die Recherchen bei benachbarten ML-Gruppen (S. 134 ff.) über die die deutschen Fraktionen emsig debattierten, werfen Fragen auf, die man nach der Lektüre des Buches heute in einem anderen Licht sieht. J. Grippa aus Belgien und F. Strobl aus Österreich sind nur zwei Beispiele. Der eine, Grippa, wurde wie Flatow zum "Oberagenten" erklärt, der chinesische Gelder unterschlagen haben soll und damit zum "revisionistischen Verräter" wurde. Der andere, Franz Strobl (in der Zwischenzeit verstorben), lag im Trend. In der Landessleitung der KPD/ML-NRW wurde sogar über den Literatur-Vertrieb die "Rote Fahne" der MLPÖ besorgt. Und man war stolz wie Oscar, dass jetzt die "Revolution echt vorangeht". Es hielt sich 1970 auch die Vermutung, dass Flatow zu ihnen Kontakt hatte. Zumindest geht das zum Teil aus einem Briefwechsel zwischen Strobl und Ernst Aust (1966-1969) hervor. (10)

Die Anwürfe gegen Flatow schienen meines Wissens auch später niemanden mehr zu tangieren. Biografische Notizen über ihn blieben bis in die frühen 1980er Jahren weitgehend unbekannt. Das Papier "Zerschlagt die weiße Verschwörung" könnte als Zäsur zu Beginn der 1970er Jahre bezeichnet werden; denn es war genaugenommen ein Hinweis auf die politischen Phantastereien und Verschwörungstheorien der maoistischen Bewegung, die alle gleichsam umschloss und in der Agenten im Dienste des Kapitals, Dunkelmänner, ausländischer Mächte, Verfassungsschützer, Spitzel und Geheimdienste, die die linke Bewegung unterwandern wollten, eine wesentliche Rolle spielten.

Inwieweit vor diesem Hintergrund die Chinesen in diesen Prozess involviert waren, kann schlussendlich nicht beantwortet werden. Und auch nicht, warum Flatow sich letztlich einer Gruppe anschloss, die, neben der KPD/ML, das Spiel mit doppeltem Boden, Einschüchterungen, Verleumdungen und ihrem Aushängeschild Willi Dickhut mit viel Kalkül beherrschte und betrieb. Gemeint ist der KABD (heute MLPD). Dass dieser vor diesem Hintergrund nicht sonderlich daran interessiert war, sich mit Gerd Flatow, vor allem mit seiner Vergangenheit, auseinanderzusetzen, die damaligen Vorwürfe gegen ihn zu entkräften und seine Biografie zu hinterfragen, kann rückschauend nur als Eingeständnis seiner Niederlagen und katastrophalen Politik gewertet werden.

Und ausgerechnet Willi Dickhut war es, der Flatow zu diversen Parteiämtern animierte. Er wurde Verantwortlicher für die "Rote Fahne" des KABD, kam ins ZK, war Auslandsbevollmächtigter und Leiter der Revisionskommission. Aber er sollte über die "Drei-Welten-Theorie" stolpern. Nicht nur die ZL des KABD war es, die die Welle der Verächtlichmachung lostrat, sondern ebenso sein enger Kampfgefährte aus der Zentralbüro-Zeit, Dickhut, was an den "Fall Lin Biao" und die "Viererbande" erinnert. Alles zusammen genommen: ein Gebräu aus haltlosen Angriffen, bösartigen Vorwürfen, Ehrenabschneidungen und Mobbing.

Wiederum war es Willi Dickhut, der im Sommer 1978 in diversen Briefen Flatow als "wildgewordenen Kleinbürger", "Parteifeind" und "Liquidator" bezeichnete. In der ZL/ZKK Mitteilung Nr. 5 vom 8. Januar 1979 wurde er sogar zum "Regisseur für liquidatorische Angriffe und Zersetzungsarbeit". Der "kleinbürgerliche Drahtzieher" (Gerd Flatow) habe somit der "Organisation schweren Schaden zugefügt".

Die Gründe, warum Flatow am 5.8.1978 aus dem KABD ausgeschlossen wurde, sind äußerst umstritten. Laut KABD offiziell wegen "Bruchs der Organisationsdisziplin". In den "Beiträgen zur Diskussion" heißt die Begründung aber, dass er ein "Agent" und "Regisseur Deng Hsiao Pings" sei. (11)

Spätestens hier wurde die alte Debatte um die Kleinbürgerei, an der sich schon die junge ML-Bewegung der 1970er Jahre aufrieb, wieder ans Licht gezerrt. So musste Gerd Flatow, wie viele andere auch, diese Schmach über sich ergehen lassen. Aus heutiger Sichtweise wirft das natürlich ein exemplarisches Licht auf die Gruppe, die sich stets mit dem reinen Arbeiterideal geschmückt hatte und schmückt, letztlich aber doch nichts anderes war als ein Verein von Möchtegern-Revoluzzern, die sich stets ihre eigenen Oasen schufen. (13)

Erst im März 1980 erfuhr ich über die "Aufsätze zur Diskussion" von Flatows Tod. Später fand ich durch die Materialien des "Kommunistischen Arbeiterbundes Revolutionärer Weg" KAB(RW), der "Neuen Düsseldorfer Nachrichten" und der "Gruppe Ratinger Kommunisten", bei denen Flatow eine Zeitlang mitarbeitete und deren Materialien wir auf der MAO-Seite veröffentlichten, wieder Zugang zu ihm. Und ich wunderte mich, dass er neben Günther Jacob, dem sogar ein eigener "Revolutionärer Weg" gewidmet worden war (RW 15: "Kampf dem Liquidatorentum"), zu einem der meistgehassten Vertreter des KABD geworden war. (12)

Der KABD machte daraufhin im gesamten Bundesgebiet Veranstaltungen zu den "Liquidatoren" um Günther Jacob und Gerd Flatow, auf denen beide in "Schauprozessen" gegeißelt und vorgeführt wurden. Eine solche erlebte ich in Gelsenkirchen. Ein Haufen von schwäbischen Stalinisten unter der Führung von Stefan Engel (ehemaliger Vorsitzender der MLPD und verantwortlicher Redakteur des "Revolutionären Weges") meinte den Marxismus erklären zu müssen. Dabei waren diese nichts anderes als Wiederkäuer der Dickhutschen Formel: "Nieder mit der kleinbürgerlichen Überwucherung"! "Nieder mit den Liquidatoren! Es lebe die proletarische Linie!"

Teil II

Bernd Ziesemer macht sich auf die Suche nach dem Mythos Gerd Flatow. Und aus heutiger Sicht kommt nun ein ganz anderer Mensch zum Vorschein, der die Frage aufwirft: Wie war es möglich, dass seine entscheidenden Lebensabschnitte, seine Tätigkeiten, seine Geschäfte in China und darüber hinaus in Teilen Westeuropas, seine Kontakte im In- und Ausland solange im Dunkeln waberten? Und wie der Autor meint: "völlig unbekannt" bleiben konnten? Wer war Gerd Flatow eigentlich? Und warum nun eine Biografie über ihn?

Die Beschäftigung mit ihm ist mehr oder weniger auch ein Hinweis auf die Fragen: Wie kam der Maoismus eigentlich in die BRD? Welchen Anteil hatten die Altvorderen an dieser Entwicklung? Was war der Motor? Warum nahmen Tausende von Menschen an der Bewegung teil? Warum ließen sie sich auf ein eine Mitzuarbeit ein, wenigstens eine Zeit lang, teils in führenden Positionen, als Komiteemitglieder oder als einfache Betriebsarbeiter? Letztlich gehören die Lebensstationen von Gerd Flatow, der schon weit vor der Gründung der KPD/ML chinesische Schriften in der BRD orderte (S. 162ff.), mit in die Frage hinein: Was geschah in den 1970er Jahren eigentlich? Welche Eindrücke brachte Flatow aus China mit? Verhalfen sie ihm dazu, sich nahezu unkritisch der KPD/ML und dann dem KABD anzuschließen? (S. 159f.)

Beginnen muss man mit der wenig belegten Aussage von Mao nach der Abkehr von der Sowjetunion und der Debatte um die "revisionistische Entartung", die die vor allem in der "Großen Polemik" ausgetragen worden war, "wahrhafte marxistisch-leninistische Parteien zu gründen". Dazu Ziesemer: "Seit den frühen sechziger Jahren bauten sie (die Chinesen, d. Verf.) maoistische Parteien in fast allen kapitalistischen Ländern Europas auf (…), die ihre Ideologie unter die Jugend und in die ganze Gesellschaft tragen sollten". (S. 9). Wollten die Chinesen tatsächlich mit "maoistischen Miniparteien", die "öffentlichen Meinung in der Bundesrepublik erobern"?

Zumindest muss das gefragt werden können. "Schon lange vor der KPD/ML-Gründung in Hamburg hatten die Chinesen die Entwicklung der maoistischen Szene in Westdeutschland genau beobachtet und auf verschiedenen Wegen gefördert", meint Bernd Ziesemer (S. 162). Als Beleg dafür gibt er die "Nachrichtenagentur Xinhua in Bonn-Bad Godesberg an" (ebd.). Was war der Antrieb für die Chinesen, sich nonchalant auf einem Terrain zu bewegen, das ihnen eher unbekannt gewesen sein sollte? Ob es deren Auftrag war, "Informationen aller Art" (über die ML-Szene?) zu sammeln, ist unbekannt. Dafür gibt es sicherlich Anzeichen (ebd.). Womöglich fehlte ihnen aber ein Stab von Mitarbeitern, der die Gruppen hätte observieren müssen, was mehr als fraglich erscheint. Die "genauste Entwicklung" und die "abwartende Haltung" gegenüber den maoistischen Gruppen" (S. 164f.) ist somit eher eine Vermutung.

Flatows unbekannte Aktivitäten in China (S. 14 bis 116) sind gut recherchiert, reichhaltig mit Fakten belegt und gut lesbar. Die Verwandlung Flatows zu einem "kapitalistischen Kaufmann" (S. 30ff.) mit China-Verehrung, der als "Einflussagent" (S. 184) und "Spion" (S. 46ff.) seine Strippen zog, bleibt jedoch etwas zu dünn. Ein Mensch ohne große Ambitionen und Kenntnisse in wirtschaftlichen Dingen steigt unaufhörlich auf. Das ist beeindruckend geschildert, wirft gleichzeitig die Frage nach den Zufälligkeiten und Bekanntschaften im Leben auf. Wie war das möglich, dass ein eher unbedarfter Mensch zum "wichtigsten Agenten der Chinesen in Deutschland" (S. 45ff., Cover-Rückseite) wurde, der mit "klassischem Doppelagentenspiel" (S. 101) sich über viele Jahre hinweg "als kongenialer Strippenzieher" für Otto Wolff "im China-Geschäft" (S. 67, 116ff.) durchsetzte? Und, wie es in der "Weißen Verschwörung hieß, "Millionen Profite für ihn zu machen", indem er "sein Blech verkaufte". (13)

Flatow als emsiger Missionar, der mit Finten Handelsbrücken aufbaute, "illegale Geschäfte betrieb, sich mit dubiosen Machenschaften um Geschäftsverbindungen" bemühte (S. 116ff.), ein "Doppelleben führt(e)", mit Geheimdiensten an einem Tisch saß und in das süße Leben eintauchte, das Auf und Ab an den persönlichen Fronten, Bekanntschaften mit ranghohen chinesischen Politikern, den Wirrwarr der damaligen politischen Situation Rotchinas versus Kuomintang unter Chiang kai-shek, zeigt einen Teil des Lebenswegs von Flatow auf, der uns bisher unbekannt war.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht von der Hand zu weisen, dass es ihm gelingen konnte, ein "großes China-Netzwerk" (Einband) aufzubauen. Ob seine Fähigkeiten soweit tragen konnten? Netzwerke benötigen nun mal eine marktorientierte Beziehung (Handel, Gesellschaften, Kenntnisse in wirtschaftlichen Abläufen, Beziehungen zu internationale Organisationen, Know How, Staaten, Ministerien etc.). Ob Gerd Flatow in der Lage war, den "wirtschaftlichen Aufstieg Chinas" (in der BRD!) zu beflügeln? Hatte er die Kenntnisse, die so ausgebildet waren, dass er über alle Grenzen hinweg, Seilschaften bilden konnte, die im ökonomischen Bereich über so viel Macht und Einfluss verfügten, um weitreichende wirtschaftliche Entscheidungen zu treffen? Wurde Gerd Flatow tatsächlich "zum wichtigsten Agenten der Chinesen in Deutschland"?

Natürlich hat die These des Autors über Netzwerke (China-Lobby) etwas für sich. Der Rekurs auf Putin (S. 9) wäre nur in diesem Zusammenhang zu verstehen. Im Hinterkopf sollte man dabei die Bemerkungen des Autors auf Flatows umspannende "Agententätigkeit" und die "Netztwerktheorie" im Kopf haben, die sich m. E. auch an den Mini-Parteien der Maoisten in Westeuropa herausschälen lassen, die übrigens als erste von Schlomann/Friedlingstein 1970 (14) analysiert worden waren. Nur so ist auch sein Hinweis zu verstehen: "Diktaturen brauchen Menschen und Netzwerke (wohl auch Geheimdienste und Verfassungsschützer, d. Verf.) in den Ländern, die sie für ihre Zwecke einsetzen" und: "Durch Putin haben wir gelernt, dass ein totalitärer Staat Wirtschaft als Waffe bedenkenlos einsetzt, wenn es seinen eigenen Interessen dient". (ebd.) Das wäre dann wohl die "internationale Einheitsfrontarbeit" (ebd.), die der Autor meint.

Flatow, so Ziesemer, wurde wegen "Konterrevolution" verhaftet (S. 85), ein Vorwurf, der mit einer langjährigen Haftstrafe verbunden war und erst mit seiner Entlassung 1956 endete. Diese Periode ist beeindruckend geschildert (S. 85ff.) und ruft in Erinnerung, dass die Chinesen bei dieser Art von Vergehen keinesfalls zimperlich vorgegangen sind. Die Gefängnisjahre lassen daher nur erahnen, was er erlebt hat.

Zweifellos hatte Flatow, nach der Lektüre des Buches zu urteilen, die Möglichkeiten, die sich für ihn ergaben, am Schopf gepackt und war schnell aufgestiegen. Seine Kontakte und seine Geschäfte (in der BRD ab den 1950er/1960er Jahren), sein ständiges Lavieren mit Größen des bundesdeutschen Wirtschaftslebens (etwa: Wolff, Beitz, Abs und andern), mit windigen Personen, Firmen, Politikern und Gesellschaften, wie etwa die DCG, in der sich ein Sammelsurium von Rechten und Linken zusammengefunden hatte (u. a. mit Wolf Schenke, der auch mit Anna Wang befreundet war und die "Neue Politik" herausgab), ist gut recherchiert und mit Fakten und vielen Dokumenten belegt.

Man kommt um die Quintessenz des Buches nicht herum: War Gerd Flatow tatsächlich "Maos deutscher Top-Agent" (Cover)? War er wie Richard Sorge? Hatten die ZBler aus den 1970er Jahren nicht schon damals die "Agenten- und Spionagetheorie" ausgegraben? Fast scheint sie nun als Bumerang und Ironie der Geschichte nach mehr als 50 Jahren zurückzukommen, was mich persönlich in Erstaunen versetzt.

Die Geschichte der maoistischen Gruppen endet bei Bernd Ziesemer mit der Behauptung, dass die Drei-Welten-Theorie" der "Anfang vom Ende der K-Gruppen" gewesen sein soll (S. 176ff.) Die Rede Dengs, in der er diese erklärte, wurde auf der UN-Vollversammlung im April 1974 vorgetragen, also zu einer Zeit, in der die maoistische Bewegung in der BRD noch nicht einmal die Hälfte ihres Zenits überschritten hatte. Die Debatten begannen erst weit nach dieser Rede. Die KPD/ML eliminierte den Kopf Maos von der Titelseite des "Roten Morgen" mit der Nr. 32 vom 11.8.1978, die "Wind-Broschüren" des KABD erschienen erst im August 1977. Die Vorreiter der Debatten waren eigentlich der "Westberliner Kommunist" (WBK), "Gegen die Strömung" (GDS) und die Franz-Strobl-Partei, die auch sofort "Einheitsfronten" aufbauten.

Im Zuge dieser kruden Vereinheitlichung lieferten sich die KPD/ML, KPD, KBW, KABD, KB und die MLD stetige Gefechte um die "Drei-Welten-Theorie". Die Bildung von neuen Gruppen, Abspaltungen und Restbeständen befand sich in der Konsolidierungsphase. Gruppen, wie etwa der spätere KAB (RW), der sich in seiner Lektüre absichtlich verhalten zur "Drei-Welten-Theorie" geäußert hatte, begannen sich kritisch mit ihrer Mutterpartei auseinanderzusetzen und sich wiederum später zu fraktionieren. (15) Neue Gruppen aus der Konkursmasse des KABD, der KPD/ML usw. entstanden. Und nicht zu vergessen waren es zig Theoriegruppen, die ab der Mitte der 1970er Jahre wie "Pilze aus dem Boden" schossen. Es entstanden etwa die Münchner Gruppe "Erobert die Theorie", die Gelsenkirchener "Aufsätze zur Diskussion" oder die "Marxistische Kritik" aus Nürnberg/Fürth/Erlangen mit dem verstorbenen Robert Kurz, die alle mit der "Drei-Welten-Theorie" nichts am Hut hatten.

Streng genommen, waren bis zur Auflösung des gesamten Arsenals (als letzte Gruppe löste sich der Kommunistische Bund, wenn von den Fraktionierungen einmal abgesehen wird, erst im April 1991 auf; der KBW bestand bis 1985), all die Fragen vakant, die sich seit der Gründung der KPD/ML hochschaukelten, etwa: Parteiaufbau, Hauptfeind in der BRD, Einheitsfront gegen den sowjetischen Sozialimperialismus (wo die MLD und die KPD-ex AO eine Vorreiterrolle einnahmen), Einheit der Marxisten-Leninisten mit Demonstrationen und Konferenzen etc. Die Theorie der "Drei-Welten" war somit ein Knackpunkt unter vielen, sicherlich aber nicht "der Anfang vom Ende der K-Gruppen" (S. 176).

Gerd Flatow, der in der "Roten Studentengruppe" in den 30er Jahren aktiv war (S. 14ff.), hätte sicherlich schon viel früher eine Würdigung verdient. Erst durch Bernd Ziesemers Buch sind wichtige Stationen seines Lebens erhellt worden. Dafür kann man ihm nur dankbar sein. Rückblickend auf seine Zeit und sein Engagement in der ML-Bewegung soll Gerd Flatow gesagt haben: "Was mich angeht, so schäme ich mich bis tief in meine Socken meiner 'Nibelungentreue' oder auch meines Gehorsams, das heißt meines Mangels an kritischem Denken" (Brief von Gerd Flatow an G. Jacob vom 3.10.1978).

Anmerkungen:

(1) Proletarische Linie, Unione dei Communisti Italiani (ML)

(2) Das trojanisch-trotzkistische Pferd in den Mauern der KPD/ML, Sondernummer, 1/1971

(3) Ebd. und Revolutionärer Weg 5/1970

(4) Vgl. Datenbank MAO: "Zerschlagt die weiße Verschwörung" (fragmentarische Datensätze, Online nicht verfügbar)

(5) Vgl. Revolutionärer Weg Nr. 5/1970, S. 39 und 42/43, Ziesemer, 162f.

(6) Zusammenfassung aus Datenbank MAO, etwa: Initiativausschuss zur Gründung einer Sozialistischen Partei, Freie Sozialistische Partei

(7) KAB/ML und KPD/ML (RW ) vereinigten sich im August 1972 zum KABD

(8) Über die Gründung der RJ/ML und des KAB/ML 1968/69

(9) Vgl. Revolutionärer Weg 5/1970

(10) Der Briefwechsel zwischen Aust und Strobl liegt zum Teil im "Archiv für alternatives Schrifttum" (afas) in Duisburg

(11) ZL und ZKK des KABD: Mitteilungen, Protokolle, Beschlüsse 1978/79 (zu den Ausschlüssen und Austritten im LV Bayern u. a.); Dokumente des KAB (RW); Beiträge zur Diskussion, Nr. 1, o. O., Feb. 1981, S. 10ff.; KABD-ZKK: Beschluss, o.O., 5.8.1978; KABD-ZKK: Beschluß, o. O., 5.8.1978; MLPD-ZK: Geschichte der MLPD, II. Teil, 2. Halbband, Düsseldorf 1986, S. 395; Dokumente, Protokolle, ZL- und ZKK Verlautbarungen; ZL und ZKK des KABD: Mitteilungen, Protokolle, Beschlüsse 1978/79 (zu den Ausschlüssen und Austritten im LV Bayern u. a.)

(12) Revolutionärer Weg 15/1976

(13) Datenbank MAO, online nicht verfügbar

(14) Vgl. Friedrich-Wilhelm Schlomann/Paulette Friedlingstein: Die Maoisten. Pekings Filialen in Westeuropa, Frankfurt/M. 1970

(15) In "Durch Klarheit zur Einheit" 11/1977 wurde dieser Schritt noch einmal begründet: "Warum wir uns weigern müssen, die Internationale Lage in den Mittelpunkt zu stellen".

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Letzte Änderung: 23.10.2023