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Die Gross Gerauer Schülerzeitung 'Vesper', die hier leider nur unvollständig dokumentiert werden kann (wir bitten um Ergänzungen), erschien zunächst für das Prälat-Diehl-Gymnasium (PDG), dehnte sich aber dann auch auf die Berufsschule und weitere Schulen des Kreises Gross Gerau aus.
Mai 1969:
In Groß Gerau erscheint erstmals die Schülerzeitung 'Vesper' am Prälat-Diehl Gymnasium (vgl. 26.5.1969), die uns bisher nicht zugänglich war. Enthalten ist ein Vietnam-Artikel, gefordert wird das Recht auf Nicht-Teilnahme am Religionsunterricht. Die 'Vesper' entwickelt sich bald zu einer Schulzeitung für Gymnasium und Berufsschule.
Quelle: Vesper Nr. 2, Groß Gerau Mai 1969
26.05.1969:
In Groß Gerau erscheint frühestens heute die zweite Maiausgabe der Schülerzeitung 'Vesper' am Prälat-Diehl Gymnasium (vgl. 26.5.1969, Juni 1969), die uns nur teilweise zugänglich war. Das Titelbild wird geziert von einem Büchnerzitat (u.a. 'aber wer die Wahrheit sagt wird gehenkt') und einer Comicbildfolge, in der dem Zitat Zustimmende von einem Polizisten gehenkt werden. Herausgeber ist die SMV, das Redaktionskollektiv besteht u.a. aus R. Merz, G. Schulmeyer, K.-J. Rücker, D. Treber, N. Schwappacher, R. Himmel und B. Heyl.
In einem weiteren Comic, der "Aktion Lust ohne Reue - Jüngste Weisung des Vorsitzenden Paul", fragt ein Sektenvorsitzender (Papst) "Have you had your pill today?"
In "Mißbrauch ministerieller Erlasse?" geht es um diesen widersprechende Erteilung von Hausaufgaben über das Wochenende und die Anwendung von 'Erlassen', bei denen es sich erst um Entwürfe handele, gegen Schülerzeitungen. Die Fragebogenaktion der SMV in der Oberstufe ist abgeschlossen. Angegeben wird Sekundärliteratur zum Vietnam-Artikel in der Nr. 1.
Neben weiteren ketzerischen Comics, Witzen und Lehrersatiren wird auch gefragt "Wer war Gustav Landauer?" und von Volker von Törne erscheint "Ein neues Löbtau-Lied" über Fritz Teufel.
Ein Leserbrief von Pfarrer K. H. Geil wendet sich gegen einen Artikel der Nr. 1, in dem ein "Buhmann Kirche" aufgebaut werde, den es gar nicht gäbe.
Q: Vesper Nr. 2, Groß Gerau Mai 1969
Juni 1969:
In Groß Gerau erscheinen vermutlich diesen Monat am Prälat Diehl Gymnasium (PDG) eine zweiseitige Sonderausgabe der 'Vesper' (vgl. 26.5.1969, 1.7.1969) und zuvor ein Flugblatt ihres Redaktionskollektivs:"
DIESES BLATT SOLL DEM HESSISCHEN LANDE DIE WAHRHEIT MELDEN, ABER WER DIE WAHRHEIT SAGT WIRD GEHENKT.
Diesen Ausspruch Georg Büchners konnte man auf der Titelseite der zweiten Ausgabe der Vesper lesen; jetzt wurde die Vesper 'gehenkt'. Die Redaktion sieht sich außerstande dem immer stärkeren Druck der Schulbürokraten und reaktionären Elternvertreter standzuhalten. Die Anzeigen, die gegen die Vesper gestellt wurden, konnte man noch verkraften, untragbar ist aber, wenn Herr Dr. Klingler die Eltern von Redakteuren zu sich bestellt und ihnen von den 'Schandtaten' ihrer Kinder berichtet. Im Schülerzeitungserlaß (vgl. 13.8.1964, d. Vf.) heißt es, daß den Schülerzeitungen volle Pressefreiheit zu gewährleisten ist; Herr Klingler denkt aber nicht daran, Kritik zu dulden. Bisher konnte man die Vesper noch ertragen, aber als sie daran ging schulische Mißstände aufzuzeigen wurde sie untragbar. Man wies ihr einen Verstoß gegen das Pressegesetz nach und erklärte einfach, sie sei keine Schülerzeitung! Eine sehr einfache Methode unliebsame Kritiker mundtot zu machen.
An diesem Beispiel sehen wir deutlich, welche Aufgabe die Schule in der BRD hat. Ihr offizielles Ziel, nämlich mündige Menschen, verdeckt nur den wahren Charakter der Schule. In der Schule herrscht nicht Meinungsfreiheit, geduldet werden nur die Kräfte, die das bestehende System anerkennen. …
Diese Vorgänge am PDG passen genau in die Hetze des aus CDU/CSU, NLA, NPD und anderen reaktionären Kräften bestehenden Rechtskartells, gegen alle Demokraten und fortschrittlichen Kräfte.
An der Spitze dieses Rechtsblocks steht an unserer Schule der Vorsitzende des Elternbeirats Dr. Klotz, zweiter Direktor der Wick, und Dr. Klingler, der sich um den Posten des Konrektors bewirbt. Diese Leute haben gesellschaftliche Veränderungen zu fürchten, sie stemmen sich mit allen Mitteln gegen diese Veränderungen und dagegen, daß die Schüler ihre Interessen selbst vertreten. Deshalb mußten sie die Vesper entweder ganz ausschalten oder zähmen, und dies war ihnen trotz der 'fortschrittlichen' hessischen Schulgesetze möglich!
SOLCHE ÜBERGRIFFE AUF UNSERE DEMOKRATISCHEN RECHTE DÜRFEN WIR UNS NICHT LÄNGER GEFALLEN LASSEN, WIR MÜSSEN ORGANISIERT DEN KAMPF GEGEN DIE REAKTIONÄRE AUFNEHMEN!!"
Verantwortlich zeichnet G. Dotzauer in Groß Gerau.
In der zweiseitigen Sonderausgabe befaßt man sich mit einem Artikel von Rainer Neuderth im 'Fenster', einer weiteren Schülerzeitung, vermutlich an der Berufsschule, der die Nr. 2 der Vesper u.a. dahingehend kritisierte, daß sie Protest um des Protestes willen übe. Die 'Vesper'-Redaktion erklärt sich zunächst zur Diskussion bereit und führt u.a. aus:"
Einige Berufsschullehrer haben festgestellt, daß das Niveau der Vesper zu hoch sei! Auf viele Schüler, vor allem Berufsschüler trifft zu, daß sie unfähig sind, die zu lösenden Probleme überhaupt zu erkennen. Das ist in keiner Weise die Schuld der Schüler! Von der Schule (miserabler
Sozialkundeunterricht) nicht vorbereitet, gehen sie ins öffentliche Leben; werden mit 'BILD, den vielen Illustrierten und Zeitschriften wie dem 'Fenster' konfrontiert. Wie sollten sie sich gegen diese Manipulation der Hinterwelt (…) wehren?"
Q: Vesper Sdr.ausgabe, Groß Gerau o. J. (1969); Vesper-Redaktionskollektiv: Dieses Blatt soll dem hessischen Lande die Wahrheit melden, aber wer die Wahrheit sagt wird gehenkt, Groß Gerau o. J. (1969)
01.07.1969:
In Groß Gerau erscheint am Prälat Diehl Gymnasium (PDG) die Nr. 3 der 'Vesper' (vgl. Juni 1969, Sept. 1969) in einem Umfang von 16 Seiten, von denen uns leider die Seiten 7 bis 10 und 13 fehlen. Das Titelbild wendet sich gegen Vorbeugehaft und Notstandsgesetze. Die Auflage beträgt ca. 150 Stück. Man befaßt sich mit sexueller (Nicht-)Aufklärung und läßt den Arbeitskreis Kriegsdienstverweigerung (KDV) zu Wort kommen (vgl. 12.6.1969), berichtet von der eigenen Diskussion mit den Religionslehrern (vgl. 25.6.1969), vom Thadden (NPD) Besuch in Darmstadt (vgl. 26.6.1969) und kündigt für Mitte Juli eine NPD-Versammlung in Mörfelden an.
In "Kirche - progressiv?" wird die Diskussion mit Pfarrer Geil fortgeführt, indem diesem konkrete Beispiele für die begründete Ablehnung der Kirche aus Frankfurt (vgl. 31.5.1969) und Rüsselsheim (vgl. 1.6.1969) bekanntgemacht werden. An diesen Beispiele zeige sich:"
Die Kirche versucht 'modern' zu sein, um verlorene Aktualität zurückzugewinnen. Sie proklamiert 'Demokratie' oder sogar 'Revolution'. Wenn aber tatsächlich versucht wird, etwas zu kritisieren oder zu ändern, treten die autoritären, hierarchischen und faschistoiden Strukturen der Kirche deutlich zutage. Einerseits würgt man wirklich kritische Fragen ab und versucht sie in der Diskussion zu umgehen, andererseits holt man die Polizei und glaubt dadurch das Problem zu lösen. Auch diese Veranstaltungen zeigen, daß man in der Kirche nicht ernsthaft bemüht ist, sich mit der Jugend auseinanderzusetzen, die Probleme werden nur oberflächlich behandelt, aber es wird nicht versucht wirklich etwas zu ändern. Die reaktionären und autoritären Kräfte der Kirche behalten nach wie vor die Oberhand, und solange sich dies nicht ändert, ist es vielleicht besser aus der Kirche auszutreten, als weiterhin im alten Trott mitzumachen und ein veraltetes System durch Reformen zu stützen."
Über die Abiturfeier heißt es:"
Schon von der formalen Seite her, machte die Abiturabschlußfeier einen denkbar antiquierten Eindruck; sogar die ehemaligen 'USSB-Revolutionäre' saßen in Anzug und Krawatte, durchaus bürgerlich, unter den übrigen Abiturienten und warteten darauf, vom 'verhaßten Establishment' die Bestätigung ihrer Reife entgegenzunehmen. Einzig Christa Sickert raffte sich auf, die Schule einer letzten Kritik zu würdigen. Sie bemühte sich dabei allerdings peinlichst, allgemein zu bleiben und ihre 'Kritik' in einem, wie in der Heimatzeitung zu lesen war, versöhnlichen Ton abzufassen. Ganz bewußt bot sie keine Alternativmöglichkeiten an, so daß sich jeder zu ihrer Forderung nach einer 'gewissen Mitbestimmung' seinen Teil denken konnte." Man selbst fordert u.a. die Bekanntgabe der Abiturnoten.
In "Gerücht" heißt es:"
Nach Angaben aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen soll demnächst 'quem iuccet' Nr. 2 erscheinen. Wir rufen alle Schüler auf, sich mit der nur noch dreiköpfigen Redaktion zu solidarisieren. KAUFT 'quem iuccet'. Wenn sie überhaupt noch erscheint."
Q: Vesper Nr. 3, Groß Gerau Juli 1969
September 1969:
In Groß Gerau erscheint die Nr. 4 der Schülerzeitung 'Vesper' (vgl. 1.7.1969, Nov. 1969) in einem Umfang von 16 Seiten. Auf dem Titelbild sitzt Orge aus Bertolt Brechts "Baal" auf der Toilette und ißt. Die Auflage wird mit 500 Ex. angegeben. Als Mitglieder des Redaktionskollektives werden benannt vom Prälat Diehl Gymnasium (PDG): H. Merz, G. Schulmeyer, K.J. Rücker, D. Treber, N. Schwappacher, R. Himmel, B. Heyl, W. Rühl, U. Pietz und A. Reichstein; und von der Kreisberufsschule Groß Gerau u.a.: B. Melchior, W. Gimbel, K. Gimbel, B. Benz, G. Schaub, J. Goetz und H. Ruchelshaußen.
Man befaßt sich mit dem Hunger in der Dritten Welt, dem Lied des NPD-Ordnungsdienst Hessen und der al-Fatah in Palästina, deren Bezeichnung als 'verbrecherisch' hinterfragt und dadurch abgelehnt wird. Der AK KDV (vgl. 12.6.1969, 1.10.1969) kündigt regelmäßige Beratungen im Anne-Frank-Heim an. Weitere Ankündigungen, nebst einem Artikel, kommen von der späteren Sozialistischen Arbeitergruppe (SAG) Groß Gerau (vgl. 20.9.1969) und dem Marxismus-Seminar (vgl. 17.10.1969).
Berichtet wird vom Kirchentag in Stuttgart (vgl. 16.7.1969) und dem Auftritt von Franz Josef Strauß in Bamberg (vgl. 18.7.1969). "Ho Chi Minh - Ein Leben für das Volk" befaßt sich mit dessen Biographie.
In "Bundestagswahl - Wahl ohne echte Alternative" heißt es neben Schilderungen über die NPD in Frankfurt (vgl. 25.7.1969) u.a.:"
Natürlich läßt sich nicht bestreiten, daß es einige 'Unterschiede' zwischen NPD und CDU/CSU gibt, aber gerade darin liegt auch die Gefährlichkeit der CDU/CSU: im Gegensatz zur NPD verstehen es die Christdemokraten, die Wähler über ihre wahren Ziele und Absichten im Unklaren zu lassen und ihren teilweise schon faschistischen Charakter zu verschleiern. … Die verhängnisvolle Rolle der SPD während der Weimarer Republik ist hinreichend bekannt, aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg erhebt diese Partei keinen revolutionären Anspruch, sondern sie paßt sich nach einigem Hin und Her den gegebenen REALITÄTEN an, um noch hier und da einmal als 'reformerische Kraft' in Erscheinung zu treten, die aber faktisch nichts oder nur sehr wenig bewirken konnte. … Auch die SPD stellt keine echte Alternative dar, sie kann n u r das kleinere Übel sein. … Aber auch die FDP bietet berechtigten Anlaß zur Kritik, denn das 'linke' Image der FDP täuscht nicht darüber hinweg, daß hier nur versucht wird, sich der linken Bewegung z.T. anzuschließen, um damit Jungwähler und auch Unzufriedene zu 'fangen'. Die Tatsache, daß die FDP die Mitbestimmung ablehnt, zeigt, daß sie nach wie vor die Partei der Unternehmer, Wirtschaftsbosse und Kapitalisten ist; auch die Schwierigkeiten der FDP mit ihrem Studentenverband (LSD) werfen ein bezeichnendes Licht auf diese Partei. Bleibt die ADF, ein Bündnis von DKP und DFU, sowie anderen linken Gruppierungen: über diese Partei läßt sich bis jetzt recht wenig sagen, es gibt gewiß einige Ansätze, die deutlich zeigen, daß es der ADF um eine Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse geht. Andererseits aber läßt sich eine gewisse Anlehnung an Moskau und Ostberlin (SU bzw. DDR,d.Vf.) nicht leugnen, was in der Billigung des Sowjet-Einmarsches in der CSSR zum Ausdruck kommt. Man kann vielleicht mit Professor Abendroth sagen: 'Jede Stimme für die ADF würde mindestens helfen, einen Druck auf die SPD dahin auszuüben, daß sich in ihr wieder Kräfte entfalten können, die den Kampf gegen die Gefahren des Faschismus und das Wiedererwachen von Vorstellungen des deutschen Imperialismus für wichtiger halten, als opportunistische Unterordnung unter die CDU/CSU.' Nun, warten wir diese Entwicklung ab, versprechen wir uns aber nicht allzuviel davon. … Die große Ratlosigkeit und die allgemeine Unzufriedenheit, die seit Bildung der Großen Koalition herrscht, besteht auch weiterhin, eine grundlegende Änderung scheint sich auch in absehbarer Zukunft nicht zu zeigen. Deshalb heißt die Parole für diese Bundestagswahl: W A H L B O Y K O T T und Intensivierung des außerparlamentarischen Kampfes."
Ein weiterer Artikel ist:"
Die SMV des Prälat-Diehl-Gymnasiums möchte an dieser Stelle ein Mitbestimmungsmodell zur Diskussion stellen, daß sie am Gymnasium zu verwirklichen gedenkt. Es wird bereits an einer Darmstädter Schule praktiziert. Wesentlicher Bestandteil ist die Vollversammlung, an der alle Schüler teilnahmeberechtigt UND stimmberechtigt sind. … Nicht in der Vollversammlung erfaßte Personen (Lehrer, Direktor etc.) können durch Abstimmung (einfache Mehrheit) ausgeschlossen werden. … Besondere Aufgaben (wie z.B. Protokoll führen, Resolutionen verfassen, Rechtsfragen klären, Parties organisieren etc.) übernehmen spontan gebildete Ausschüsse, denen sich jeder Schüler anschließen kann. Diese Ausschüsse arbeiten befristet und weisungsgebunden. … Die SMV ist abgeschafft."
"An alle Mädchen" wendet sich ein Artikel "Schülerinnen, Sexualität - Pille", in dem kein Anhalt für medizinische Risiken der Pille gefunden wird:"
Zum ersten Mal steht uns ein Mittel (außer der Sterilisation) zur Verfügung, daß gestattet, nicht auf Lust zu verzichten, weil ständig die Gefahr besteht, daß ein Kind gezeugt wird. … Elternhaus, Schule und Kirche predigen dagegen auch heute noch für uns alle die sexuelle Enthaltsamkeit. … Bei uns Schülerinnen ist der Zwang sexuelle Gefühle zu unterdrücken, wesentlich größer als bei einer Jungarbeiterin, die sich in einer materiell unabhängigen Situation von den Eltern befindet. Von uns dagegen verlangt man, solange wir uns in der Ausbildung befinden, Enthaltsamkeit zu üben, d.h. einen Teil unserer Persönlichkeit zu verleugnen und zu unterdrücken. … Es ergeben sich aus alledem zwei Konsequenzen: Einerseits den Prozeß der Aufklärung fortzuführen, der immer mehr Schülern den Zusammenhang zwischen schulischer, sexueller und politischer Unterdrückung klarmacht; dadurch emanzipatorisch zu wirken, dahingehend, daß immer mehr Schüler ein unverklemmtes Verhältnis zur Sexualität finden, aus den Mechanismen der Unterdrückung ausbrechen und sich gegen die Unterdrückung behaupten. Andererseits durch praktische Hilfe bereits emanzipierte Schülerinnen zu unterstützen, dazu gehören Beratungen und Adressen von Ärzten, die beim Redaktionskollektiv zu erfahren sind."
Q: Vesper Nr. 4, Groß Gerau Sept. 1969
November 1969:
In Groß Gerau erscheint die Nr. 5 der Schülerzeitung 'Vesper' (vgl. Sept. 1969, Dez. 1969) in einem Umfang von 20 Seiten, von denen uns leider die Seiten 5 bis 10 fehlen. Auf dem Titelbild hetzt F.J. Strauss einen Schäferhund auf. Die Auflage wird mit 630 Ex. angegeben. Als Mitglieder des Redaktionskollektives werden benannt vom Prälat Diehl Gymnasium (PDG): Gertrud Bischoff, Heiner Scherer, Harald Merz, Kl.-Jürgen Rücker, Dirk Treber, Norbert Schwappacher, Susi Himmel, Bernd Heyl, Wulf Rühl, Uschi Pietz und Angelika Reichstein, von der Kreisberufsschule Groß Gerau u.a.: Bernd Melchior, Wolfgang Gimbel, Klaus Gimbel und Burkhard Benz, andere Mitarbeiter sind Ernst Sperling, Gerda Meinelschmidt, Angelika Stork, Jürgen Goetz und Dagmar Dotzauer.
"In eigener Sache" wird erklärt:"
1. Als wir im Mai dieses Jahres die erste Ausgabe der Vesper herausbrachten, war es unser Ziel, die Schüler, die unsere Zeitung lesen, anzuregen kritisches Bewußtsein zu entwickeln. Weiter war es unsere Absicht 'allen Schülern die Möglichkeit zu bieten ihre Meinung zu Problemen, die für sie von Interesse sind, darzulegen' (Vesper 1). Damit die Schüler keine Angst vor Repressalien zu haben brauchen verzichten wir auf den Abdruck der Namen. Wir stellen noch einmal fest, daß wir alle uns zugesandten Artikel ohne Zensur drucken (Wenn Kürzungen wegen Platzmangel notwendig sind, werden wir den Verfasser bitten diese selbst vorzunehmen). Bisher erhielten wir lediglich eine Zuschrift; sie war von einem Pfarrer. Wir fordern a l l e Leser dazu auf mitzuarbeiten und kritisch Stellung zu nehmen.
2. Es ist unerträglich und schlicht als Schweinerei zu bezeichnen, wenn Lehrer Artikel von uns im Unterricht in diffamierender Weise besprechen und uns nicht die Möglichkeit zur Gegendarstellung bieten. Das ist Manipulation und Verdummung übelster Machart, und wir sind nicht gewillt das hinzunehmen. Wir fordern alle Schüler auf uns zu berichten wenn Lehrer unsere Zeitung im Unterricht besprechen und von dem betreffenden Lehrer zu verlangen, daß ein Mitglied des Redaktionskollektivs an der Besprechung teilnehmen kann.
3. Das Redaktionskollektiv hat sich seit der ersten Ausgabe stark vergrößert; trotzdem sind wir auch weiterhin an der Mitarbeit anderer Schüler interessiert. Auch das neuentstandene Redaktionskollektiv an der Berufsschule fordert die Schülerschaft zu verstärkter Mitarbeit auf."
Zur Bundestagswahl äußert sich "Wahlwittchen" frei nach den Brüdern Grimm. In "Phrasen, Schlagwörter, dummes Gewäsch, z.B.: Faschismus" heißt es u.a.:"
Uns geht es aber nicht darum, irgendwelche 'Traumtänzer' zum mitträumen zu gewinnen, sondern unser Ziel ist es vielmehr, dem Einzelnen aufzuzeigen, in welchem 'Scheißstaat' er eigentlich lebt, anders ausgedrückt: in einem spätkapitalistischen Staat mit faschistischen Tendenzen".
In "Über die Funktion der Betriebshierarchie" heißt es:"
Insgesamt ist zu erkenn, daß die autoritär hierarchische Gesellschaftsordnung Ursache für ständigen Unfrieden in der breiten Masse ist. Die Lohnabhängigen sind so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß sie nicht in der Lage sind, die eigentlichen Ursachen, die für ihre jetzige, unbefriedigende Lage verantwortlich sind, zu erkennen. … Es ist jedoch auf jeden Fall notwendig, daß die Arbeiter i h r e Betriebe selbst leiten und die Betriebshierarchie durch ein System der Arbeiterselbstverwaltung ersetzt wird (Jugoslawien-Modell). … Jetzt ist noch die Frage zu klären, wie man die bestehenden Verhältnisse verändern kann. … Die Gewerkschaften können uns hier nicht viel helfen, sie sind bereits so mit der Betriebshierarchie verbunden, daß sie unfähig sind wirksame Kritik zu üben. Es ist daher dringend erforderlich, daß wir uns selbst organisieren." Eine Möglichkeit dazu sei der Arbeitskreis Betrieb Groß Gerau, der sich jeden Samstag im Schloß Dornberg trifft.
In "Die Stellung der Frau in Beruf, Familie, Politik und Sexualität" wird u.a. auf den Paragraphen 1356 BGB eingegangen.
In "Vom Parlamentarismus zur autoritären Demokratie" befaßt man sich mit Carl Schmitt und stellt fest:"
Manipulation hat ja nur dann langfristigen Erfolg, wenn sie auf die Bereitschaft stößt, sich manipulieren zu lassen, wenn ihr bestimmte Bedürfnisse der Masse entgegenkommen. Das ist ohne Zweifel in Deutschland zur Zeit der Fall."
Q: Vesper Nr. 5, Groß Gerau Nov. 1969
Dezember 1969:
In Groß Gerau erscheint die Nr. 6 der Schülerzeitung 'Vesper' (vgl. Nov. 1969, Jan. 1970) in einem Umfang von 24 Seiten. Die Auflage wird mit 600 Ex. angegeben. Als Mitglieder des Redaktionskollektives werden benannt vom Prälat Diehl Gymnasium (PDG): Gertrud Bischoff, Heiner Scherer, Kl.-Jürgen Rücker, Dirk Treber, Norbert Schwappacher, Bernd Heyl, Wulf Rühl, F. Schopf, Uschi Pietz und Angelika Reichstein, von der Kreisberufsschule Groß Gerau u.a.: Bernd Melchior, Wolfgang Gimbel, Klaus Gimbel und Burkhard Benz, andere Mitarbeiter sind Ernst Sperling, G. Dewald, U. Müller, R. Brückner, H. Graf, C. Drott, Gerda Meinelschmidt, Angelika Stork, Jürgen Goetz und Dagmar Dotzauer.
Das Titelbild wird von einem Phantasiewesen eingenommen, man befaßt sich mit Musikkritik (Bob Dylan, Amon Düül II, Canned Heat), mit der Stellung der Frau in der Familie und veröffentlicht einen "Leitfaden für Junglehrer". In "Zur Problematik der SMV" befaßt man sich mit der derzeitigen Diskussion eines 4. Entwurfes (vgl. 31.7.1969) zu einem neuen SMV-Erlaß:"
Am Prälat Diehl Gymnasium wurde ein Ausschuß aus Lehrern und Schülern gebildet, der die Aufgabe hat, Verbesserungsvorschläge auszuarbeiten und ein Modell für eine Satzung zu entwerfen. Von Schülerseite wurden Forderungen vorgebracht, ohne die ein wirklich demokratisches Mitbestimmungsmodell für die Schule undenkbar ist." Hierzu zählen das allgemeinpolitische Mandat, paritätisches Mitbestimmungsrecht bei allen Konferenz bzw. falls dieses nicht gewährt wird, Vetorecht des Vermittlungsausschusses.
Man wendet sich gegen Nazis, Christen und Sozialdemokraten und veröffentlicht "Alle Macht den Räten!!! - Eine Analyse des Rätesystems von der Pariser Kommune bis zum rätedemokratischen Modell Jugoslawiens", wobei Jugoslawien quasi als Vorbild dargestellt wird, da dort die Arbeiter den wirtschaftlichen Entscheidungen ausdrücklich oder stillschweigend zustimmen müssen:"
Insofern sind die Jugoslawen auf dem Weg zur realen Demokratie den kapitalistischen Ländern und den Ländern des autoritären Kommunismus ein weites Stück voraus."
Die SDAJ Mörfelden ruft zum Vietnam-Aktionstag vgl. 13.12.1969) auf. Abgedruckt werden auch verschiedene eher unpolitische Beiträge aus der Schülerschaft.
Q: Vesper Nr. 6, Groß Gerau Dez. 1969
Januar 1970:
In Groß Gerau erscheint vermutlich im Januar die Nr. 7 der Schülerzeitung 'Vesper' (vgl. Dez. 1969, Feb. 1970) am Prälat Diehl Gymnasium (PDG) und der Berufsschule, die uns bisher leider nicht zugänglich war.
Q: Vesper Nr. 9, Groß Gerau Mai 1970
Februar 1970:
In Groß Gerau erscheint vermutlich im Februar die Nr. 8 der Schülerzeitung 'Vesper' (vgl. Jan. 1970, 4.5.1970) am Prälat Diehl Gymnasium (PDG) und der Berufsschule, die uns bisher leider nicht zugänglich war. Eingegangen wird u.a. auf den Tod von Hans Jürgen Krahl (SDS Frankfurt).
Q: Vesper Nr. 9, Groß Gerau Mai 1970
04.05.1970:
In Groß Gerau erscheint vermutlich in dieser Woche die Nr. 9 der Schülerzeitung 'Vesper' (vgl. Feb. 1970, 29.6.1970) am Prälat Diehl Gymnasium (PDG) und der Berufsschule. Über "Die neue Vesper" heißt es:"
Aufgrund des sehr schlechten Echos auf die letzte Vesper kam es in der Redaktion zu sehr starken Differenzen. Ein Teil war der Auffassung, daß die Vesper politische Information bringen sollte und auf Satiren und Witze ganz verzichten sollte. Die andere Gruppe vertrat die Auffassung, daß die Vesper ja schließlich eine Schülerzeitung sei und daher auf die Interessen der Schüler eingehen müsse. Und da es nun einmal nicht hauptsächliches Interesse der Schüler ist, sich über politische Fragen zu informieren (wen interessiert schon der Tod von H.J. Krahl?), müsse die Zeitung mindestens wieder auf den alten Kurs gebracht werden, wenn nicht sogar noch mehr auf allgemein interessierende Dinge eingehen. Es wurde dann eine Abstimmung durchgeführt, bei der sich diejenigen, die sich für eine radikale Politisierung der Vesper einsetzten, nicht durchsetzen konnten. Der andere Teil ging nun daran eine neue Konzeption für die Vesper zu entwickeln. Daraufhin zogen sich diejenigen, die für eine politische Vesper eintraten, zurück. (Ein Teil dieser Schüler hätte sowieso mit Abschluß der Schule seine Mitarbeit beendet.) Es wurde im allgemeinen die Auffassung vertreten, daß sich die Vesper mehr mit schulischen Fragen beschäftigen sollte, und die Schüler mehr an der Vesper zu beteiligen seien. … Das neue Redaktionskollektiv bemüht sich darüber hinaus, Themen aufzugreifen, die für die Schüler von Interesse sind (Sexualaufklärung, und ansonsten wie bisher kein Blatt vor den Mund zu nehmen)."
Als Mitglieder des Redaktionskollektives werden benannt vom Prälat Diehl Gymnasium (PDG): M. Passet, Gertrud Bischoff, Kl.-Jürgen Rücker, Wulf Rühl, H. Pietz, H. Lipp, R. Hanus, S. Himmel und G. Breidert, von der Kreisberufsschule Groß Gerau u.a.: G. Melchior, Klaus Gimbel und M. Klier, andere Mitarbeiter sind C. Drott, Gerda Meinelschmidt, Angelika Stork, Jürgen Goetz und Dagmar Dotzauer. Die Auflage wird mit 600 angegeben.
Berichtet wird u.a. von einzelnen Lehrerübergriffen gegen Schüler, wobei die Redaktion auffordert Berichte über derlei Umtriebe am PDG, der Berufsschule und der Angelusschule zu verfassen. Begonnen wird mit einer Serie zur Sexualaufklärung, die in Groß Gerau fast nur am PDG halbwegs ordentlich betrieben, an der Berufsschule, der Angelusschule und der Schillerschule aber vernachlässigt werde. Eingegangen wird auch das Rauchen am PDG, die Prüfungsangst, Diskotheken und den SV-Satzungsentwurf am PDG, zu dem der Arbeitskreis SV bereits ein 'Info' herausgegeben habe. Derzeit beschäftige sich der Arbeitskreis mit der Prüfungsangst. In einem vermutlich für die Berufsschule geschriebenen Artikel heißt es u.a.:"
Die Gewerkschaften machen zwar hin und wieder Verbesserungsvorschläge für die Berufsausbildung, aber andererseits tun sie nichts für die Durchsetzung dieser Vorschläge. Sie sind nicht bereit, die Unzufriedenheit der Lehrlinge zu organisieren.
Die Lehrlinge müssen ihre Probleme selbst in die Hand nehmen. Deswegen müssen sie ihren Widerstand überbetrieblich organisieren."
Q: Vesper Nr. 9, Groß Gerau Mai 1970
29.06.1970:
In Groß Gerau erscheint spätestens heute die Nr. 10 der Schülerzeitung 'Vesper' (vgl. 4.5.1970) mit einem Umfang von 20 Seiten u.a. am Prälat Diehl Gymnasium (PDG) und der Kreisberufsschule (KBS). Dies ist die letzte uns bisher bekanntgewordene Ausgabe. Die Auflage beträgt 700 Exemplare.
Vom Redaktionskollektiv werden nicht mehr die Mitglieder aufgeführt, sondern es wird nur bekanntgegeben:"
Das Redaktionskollektiv setzt sich aus Berufsschülern, Gymnasiasten und freien Mitarbeitern zusammen.
In eigener Sache heißt es:"
Die Vesper wird so gut, wie die Schüler sie machen! Unser Redaktionskollektiv ist von Euren Informationen abhängig! Nur Ihr könnt die Vesper zu einer Zeitung machen, die allen Leser aktuelle Informationen bietet. Ihr wißt selbst, daß viele miese Pauker nur deswegen so überheblich und autoritär auftreten können, weil ihnen die Noten die Möglichkeit bieten, sich immer durchzusetzen, selbst wenn sie im Unrecht sind. Jetzt könnt Ihr Euch endlich durch die Vesper gegen solche Typen zur Wehr setzen. Schreibt sofort Protokolle, wenn Eure Lehrer Euch ungerecht behandeln oder autoritäre und faschistische Äußerungen von sich geben. Dies ist die einzige Möglichkeit um den Druck dieser Lehrer zu brechen!"
Genau solche Berichte finden sich denn auch mehrere vom PDG, einer von der Johannes Angelus Schule und auch ein Artikel "Mißstände an der KBS" beginnt:"
In der Kreisberufsschule gibt es einige sehr autoritäre Lehrer."
Eine Anzeige wirbt für den Arbeitskreis Kriegsdienstverweigerung (AK KDV) Groß Gerau, der Beratungen zur KDV durchführt. Dem selben Thema widmet sich auch ein Artikel "Praktisches über Kriegsdienstverweigerung".
In "Berufsschüler dürfen keine Sexualität haben" wird auf die Strafen für unerlaubte Körperlichkeit während der Pausen und Freistunden eingegangen und gefolgert:"
Die Lehrer versuchen uns zu nicht kontaktfähigen seelischen Krüppeln zu erziehen, im Geiste der Großväter und das nur, weil es ein paar Leuten nicht in den Kram paßt, daß es ihre antiquierte Welt nicht mehr gibt, sie in unsere, in die neue Welt nicht mehr hineinpassen!"
Weiter befaßt man sich satirisch mit der Kirche und mit dem örtlichen Freibad. Die Serie zur "Aufklärung" wird fortgesetzt.
Über den Verkauf der 'Vesper' am PDG berichtet die Projektgruppe Schule der Roten Zelle Groß Gerau (ROTZEGG) in ihrem 'Info' (vgl. Juli 1970):"
Die Tatsache, daß der stellvertretende Direktor Jung am Montag, den 29.6.1970 16 Exemplare der Vesper Nr. 10 mit den Worten: 'Ich beschlagnahme diese Zeitungen, Herr Adamiak, sie sind mein Zeuge!' sicherstellte und offiziell ein Verkaufsverbot aussprach, zeigt deutlich, daß der mit allen Mitteln verschleierte Konflikt zwischen dem reaktionären Teil der Lehrerschaft und den Schülern, der Masse der Schülerschaft nicht durch differenzierte politische Argumentation, sondern nur durch relativ unsachliche Angriffe auf die autoritären Methoden einzelner Lehrer bewußt gemacht werden kann. Nachdem dieser Konflikt nun offen ausgebrochen ist, ergibt sich für den bewußten Teil der Schülerschaft die Aufgabe, die bisherigen Ereignisse kritisch zu verarbeiten und Konsequenzen für die Praxis zu ziehen. Dazu ist es nötig, die Ereignisse der letzten Tage kurz darzustellen, um den Schülern ein selbständiges Urteil zu ermöglichen.
Am Montag den 29.6.1970 waren bereits 250 der 700 Exemplare verkauft, als der Vertrieb auf dem Schulgelände untersagt wurde. Das Verbot begründete der Direktor dem Vesperkollektiv gegenüber in einem ersten Gespräch mit dem Fehlen der Namen der verantwortlichen Redakteure im Impressum. Weiter stellte der Direktor fest, daß die Vesper seit mindestens zwei Ausgaben keine Schülerzeitung mehr sei, da, wie er behauptete, der Verkauf der Vesper nicht mehr offiziell auf dem Schulgelände stattgefunden habe. Er führte weiterhin als Rechtfertigung für seine Behauptung an, daß im Redaktionskollektiv auch freie Mitarbeiter tätig sind. In einem zweiten Gespräch vor einem Teil der Schülerschaft wiederholte er diese 'Argumentation'. Es stellt sich jetzt die Aufgabe, durch eine Analyse des Vesperstils bzw. Inhaltes, sowie seine Änderung in den letzten beiden Ausgaben, im einzelnen aufzuzeigen, durch welche Methoden die Reaktion gezwungen werden kann, ihre Verschleierungstaktik aufzugeben und ihr wahres Gesicht zu zeigen. Die Schülerzeitung Vesper begriff sich lange Zeit als rein politische Zeitung und brachte dementsprechend im wesentlichen nur rein politische Artikel. Diese Artikel hatten zwar oft einen der Meinung von vielen Lehrern nicht entsprechenden Inhalt, doch wurden sie von dem Inhalt nicht viel berührt, da sich auch die Masse der Schülerschaft nicht weiter um den Inhalt der Zeitung kümmerte. Als nun in der vorletzten Vesper fast nur die Schule betreffende Artikel standen, gab es unter den Lehrern große Aufregung, denn nun sahen sich viele persönlich, in ihrem Unterrichtsstil und ihrem allgemeinen Verhalten angegriffen. Diese Tendenz verstärkte sich in der letzten Ausgabe der Vesper noch erheblich. Die Artikel griffen oft in Form von Polemik einzelne Lehrkräfte scharf an, und zeigten anhand von bestimmten Ereignissen klar deren autoritäres bzw. deren völlig unpädagogisches Verhalten auf. Die Reaktion dieser Lehrkräfte konnte nur sein, den sich anbahnenden Konflikt, der ihre fragwürdigen Unterrichtsmethoden entlarvt hätte, dadurch zu beenden, daß sie den weiteren Verkauf der Vesper untersagten. Man zog sich zunächst auf rein formale Rechtfertigungen für das Verbot zurück, um sich bei einer Argumentation gegen den Inhalt nicht in Widersprüche zu verstricken. Die Absicht, die hinter dem Verkaufsverbot stand, ist also klar: Einige Lehrer sehen sich in ihrer ohnehin fragwürdigen Autorität angegriffen, und mußten feststellen, daß die Vesper sehr wesentlich am Abbau ihrer Autorität beteiligt war, in dem sie ihre Fragwürdigkeit anhand von Beispielen für jeden klar erkennbar darlegte. Um weiterhin auf ihrem Unterrichtsstil und ihren Methoden beharren zu können, war es für diese Lehrer notwendig, den Zerfall ihrer Autorität zu stoppen; um dies wirkungsvoll erreichen zu können, mußte als erstes etwas gegen die Vesper unternommen werden. Daraus folgt auch, daß alle offiziell gegen die Vesper ergriffenen Maßnahmen nur zur Verschleierung des wahren Sachverhalts dienen. Das Versehen der Redaktion, nämlich im Impressum keine Namen zu nennen, kam daher der Schulbürokratie nur gelegen, sie hatte so einen billigen Vorwand, um gegen die Zeitung vorgehen zu können. Die Einschaltung des Regierungspräsidiums in Darmstadt, mit dem Ziel, die Vesper zumindest auf Zeit zu verbieten, dient offensichtlich dazu, den innerschulischen Konflikt aus der Schule hinaus den Bürokraten zu übertragen und so eine Grundsatzdiskussion über Pädagogik zu verhindern. Denn den reaktionären Lehrern ist an der Vermeidung dieser Diskussion, in die dann selbstverständlich auch die Schüler miteinbezogen würden (bzw. sich einschalten würden) sehr viel gelegen, da sie in keiner Weise daran interessiert sind ihren Unterrichtsstil aufzugeben, wozu sie im Laufe einer solchen Diskussion vielleicht gezwungen werden könnten. … Es geht jetzt hauptsächlich darum, den Konflikt nicht in schlichtender Weise beizulegen, sondern in seiner vollen Breite auszutragen. Bei geschicktem Vorgehen dürfte dann durch die Diskussion eine Aktivierung und Politisierung von zumindest einem Teil der Schülerschaft möglich sein."
Q: Vesper Nr. 10, Groß Gerau o.J. (29.6.1970); ROTZEGG-PG Schule: Info Nr. 1, Groß Gerau 1970, S. 3ff
Juli 1970:
Vermutlich im Juli gibt die Projektgruppe Schule der Roten Zelle Groß Gerau (ROTZEGG) erstmals ihr 'Info' mit einem Umfang von 12 Seiten DIN A 4 heraus. Das Deckblatt wird eingenommen von einer Faust. Verantwortlich zeichnen W. Kirstein und G. Schulmeier. Der Leitspruch wird von Wilhelm Reich übernommen:"
Der Wille der Jugend zur Lebensfreude wird die gewaltigste Revolution sein!"
Einleitend wird bemerkt:"
Nachdem die Vesper lange Zeit vergeblich versuchte, die Verschleierungsmechanismen, die dem Prälat Diehl Gymnasium sein liberales Gepräge geben, zu durchbrechen, ist es ihr durch formale und inhaltliche Änderungen gelungen latente Konflikte zu aktualisieren. Da die Zeitung ihre Hauptaufgabe darin sieht, der Masse der Schülerschaft die reaktionären und faschistoiden Strukturen bewußt zu machen, ist sie
gezwungen, sich am Bewußtseinsstand der Schüler zu orientieren; sie kann also nicht die Aufgabe erfüllen, politisch bewußten Schülern als Diskussionsforum zu dienen, und ihnen Zusammenhänge zu vermitteln. Daraus ergab sich die Notwendigkeit für die politisch bewußten Schüler ein Informationsorgan zu schaffen, das diese Aufgaben erfüllt. Dem Info fällt es zu, die politischen Hintergründe schulischer Fragen aufzuzeigen und darüber hinaus zu allgemeinen politischen Fragen Stellung zu nehmen.
Eingegangen wird auf das Vertriebsverbot der 'Vesper' (vgl. 29.6.1970) auf dem Gelände des Prälat Diehl Gymnasiums (PDG) und Aktionen der Schüler am Hessenkolleg Rüsselsheim (vgl. 22.6.1970).
Zugunsten dieses 'Infos' wurde die bisherige Schülerzeitung 'Vesper' für das Prälat-Diehl-Gymnasium eingestellt, aber dafür auch noch 'SV-Informationen' (vgl. Nov. 1971) herausgegeben. Damit setzte sich, laut ehemaligen Mitgliedern, eine 'Mehr-Politik-Linie' in der Schülerarbeit durch.
Damit setzt nun allerdings auch ein Fraktionierungsprozeß ein. Die Suche nach Orientierung innerhalb der Rotzegg, die einzelne Arbeitskreise aufgebaut hatte (AK Jugendclub, AK Schule, AK Berufsschule/Betrieb), führte zu einer Favorisierung des AK Berufsschule/Betrieb. Ende 1970 wurde die Rotzegg vor die Alternative gestellt, entweder in den KJVD einzutreten, oder den "Misthaufen der Geschichte" zu bevölkern. Eine Mehrheit blieb zunächst indifferent. Aufgrund der Kontakte zur RJ/ML in Darmstadt, entschied sich dann später ein Teil der Rotzegg für den KAB/ML und dessen RJ/ML, ein kleiner Rest für den KJVD.
Q: Eigener Bericht, o.O. 1986; ROTZEGG-PG Schule: Info Nr. 1, Groß Gerau 1970
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