Vesper - Schülerzeitung, Jg. 1, Nr. 4, Sept. 1969

September 1969:
In Groß Gerau erscheint die Nr. 4 der Schülerzeitung 'Vesper' (vgl. 1.7.1969, Nov. 1969) in einem Umfang von 16 Seiten. Auf dem Titelbild sitzt Orge aus Bertolt Brechts "Baal" auf der Toilette und ißt. Die Auflage wird mit 500 Ex. angegeben. Als Mitglieder des Redaktionskollektives werden benannt vom Prälat Diehl Gymnasium (PDG): H. Merz, G. Schulmeyer, K.J. Rücker, D. Treber, N. Schwappacher, R. Himmel, B. Heyl, W. Rühl, U. Pietz und A. Reichstein; und von der Kreisberufsschule Groß Gerau u.a.: B. Melchior, W. Gimbel, K. Gimbel, B. Benz, G. Schaub, J. Goetz und H. Ruchelshaußen.

Man befaßt sich mit dem Hunger in der Dritten Welt, dem Lied des NPD-Ordnungsdienst Hessen und der al-Fatah in Palästina, deren Bezeichnung als 'verbrecherisch' hinterfragt und dadurch abgelehnt wird. Der AK KDV (vgl. 12.6.1969, 1.10.1969) kündigt regelmäßige Beratungen im Anne-Frank-Heim an. Weitere Ankündigungen, nebst einem Artikel, kommen von der späteren Sozialistischen Arbeitergruppe (SAG) Groß Gerau (vgl. 20.9.1969) und dem Marxismus-Seminar (vgl. 17.10.1969).
Berichtet wird vom Kirchentag in Stuttgart (vgl. 16.7.1969) und dem Auftritt von Franz Josef Strauß in Bamberg (vgl. 18.7.1969). "Ho Chi Minh - Ein Leben für das Volk" befaßt sich mit dessen Biographie.

In "Bundestagswahl - Wahl ohne echte Alternative" heißt es neben Schilderungen über die NPD in Frankfurt (vgl. 25.7.1969) u.a.:"
Natürlich läßt sich nicht bestreiten, daß es einige 'Unterschiede' zwischen NPD und CDU/CSU gibt, aber gerade darin liegt auch die Gefährlichkeit der CDU/CSU: im Gegensatz zur NPD verstehen es die Christdemokraten, die Wähler über ihre wahren Ziele und Absichten im Unklaren zu lassen und ihren teilweise schon faschistischen Charakter zu verschleiern. … Die verhängnisvolle Rolle der SPD während der Weimarer Republik ist hinreichend bekannt, aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg erhebt diese Partei keinen revolutionären Anspruch, sondern sie paßt sich nach einigem Hin und Her den gegebenen REALITÄTEN an, um noch hier und da einmal als 'reformerische Kraft' in Erscheinung zu treten, die aber faktisch nichts oder nur sehr wenig bewirken konnte. … Auch die SPD stellt keine echte Alternative dar, sie kann n u r das kleinere Übel sein. … Aber auch die FDP bietet berechtigten Anlaß zur Kritik, denn das 'linke' Image der FDP täuscht nicht darüber hinweg, daß hier nur versucht wird, sich der linken Bewegung z.T. anzuschließen, um damit Jungwähler und auch Unzufriedene zu 'fangen'. Die Tatsache, daß die FDP die Mitbestimmung ablehnt, zeigt, daß sie nach wie vor die Partei der Unternehmer, Wirtschaftsbosse und Kapitalisten ist; auch die Schwierigkeiten der FDP mit ihrem Studentenverband (LSD) werfen ein bezeichnendes Licht auf diese Partei. Bleibt die ADF, ein Bündnis von DKP und DFU, sowie anderen linken Gruppierungen: über diese Partei läßt sich bis jetzt recht wenig sagen, es gibt gewiß einige Ansätze, die deutlich zeigen, daß es der ADF um eine Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse geht. Andererseits aber läßt sich eine gewisse Anlehnung an Moskau und Ostberlin (SU bzw. DDR,d.Vf.) nicht leugnen, was in der Billigung des Sowjet-Einmarsches in der CSSR zum Ausdruck kommt. Man kann vielleicht mit Professor Abendroth sagen: 'Jede Stimme für die ADF würde mindestens helfen, einen Druck auf die SPD dahin auszuüben, daß sich in ihr wieder Kräfte entfalten können, die den Kampf gegen die Gefahren des Faschismus und das Wiedererwachen von Vorstellungen des deutschen Imperialismus für wichtiger halten, als opportunistische Unterordnung unter die CDU/CSU.' Nun, warten wir diese Entwicklung ab, versprechen wir uns aber nicht allzuviel davon. … Die große Ratlosigkeit und die allgemeine Unzufriedenheit, die seit Bildung der Großen Koalition herrscht, besteht auch weiterhin, eine grundlegende Änderung scheint sich auch in absehbarer Zukunft nicht zu zeigen. Deshalb heißt die Parole für diese Bundestagswahl: W A H L B O Y K O T T und Intensivierung des außerparlamentarischen Kampfes."

Ein weiterer Artikel ist:"
Die SMV des Prälat-Diehl-Gymnasiums möchte an dieser Stelle ein Mitbestimmungsmodell zur Diskussion stellen, daß sie am Gymnasium zu verwirklichen gedenkt. Es wird bereits an einer Darmstädter Schule praktiziert. Wesentlicher Bestandteil ist die Vollversammlung, an der alle Schüler teilnahmeberechtigt UND stimmberechtigt sind. … Nicht in der Vollversammlung erfaßte Personen (Lehrer, Direktor etc.) können durch Abstimmung (einfache Mehrheit) ausgeschlossen werden. … Besondere Aufgaben (wie z.B. Protokoll führen, Resolutionen verfassen, Rechtsfragen klären, Parties organisieren etc.) übernehmen spontan gebildete Ausschüsse, denen sich jeder Schüler anschließen kann. Diese Ausschüsse arbeiten befristet und weisungsgebunden. … Die SMV ist abgeschafft."

"An alle Mädchen" wendet sich ein Artikel "Schülerinnen, Sexualität - Pille", in dem kein Anhalt für medizinische Risiken der Pille gefunden wird:"
Zum ersten Mal steht uns ein Mittel (außer der Sterilisation) zur Verfügung, daß gestattet, nicht auf Lust zu verzichten, weil ständig die Gefahr besteht, daß ein Kind gezeugt wird. … Elternhaus, Schule und Kirche predigen dagegen auch heute noch für uns alle die sexuelle Enthaltsamkeit. … Bei uns Schülerinnen ist der Zwang sexuelle Gefühle zu unterdrücken, wesentlich größer als bei einer Jungarbeiterin, die sich in einer materiell unabhängigen Situation von den Eltern befindet. Von uns dagegen verlangt man, solange wir uns in der Ausbildung befinden, Enthaltsamkeit zu üben, d.h. einen Teil unserer Persönlichkeit zu verleugnen und zu unterdrücken. … Es ergeben sich aus alledem zwei Konsequenzen: Einerseits den Prozeß der Aufklärung fortzuführen, der immer mehr Schülern den Zusammenhang zwischen schulischer, sexueller und politischer Unterdrückung klarmacht; dadurch emanzipatorisch zu wirken, dahingehend, daß immer mehr Schüler ein unverklemmtes Verhältnis zur Sexualität finden, aus den Mechanismen der Unterdrückung ausbrechen und sich gegen die Unterdrückung behaupten. Andererseits durch praktische Hilfe bereits emanzipierte Schülerinnen zu unterstützen, dazu gehören Beratungen und Adressen von Ärzten, die beim Redaktionskollektiv zu erfahren sind."
Q: Vesper Nr. 4, Groß Gerau Sept. 1969

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