Zur Geschichte der KPD/ML (Zentralkomitee)

Von Mitte der 60er Jahre bis 1970

Von Dietmar Kesten, Gelsenkirchen


Inhalt


Teil 1: Die Frühphase

Die zugespitzte Frage nach der „proletarischen Denkweise“, die einst der Gralshüter des Marxismus-Leninismus in Westdeutschland, Willi Dickhut, als bedeutsame Weiterentwicklung für soziale Klassen und möglicher Klassenkonflikte in die Debatte einwarf, sollte sich für die jungen maoistischen Gruppen zum Ende der 1960er Jahre gar nicht stellen; denn sie waren eher davon beseelt, sich in internen Machtkämpfen aufzureiben. Man kann auch nicht sagen, dass sie sich dabei besonders „proletarisch“ gaben. Wenn im Gegensatz dazu, eine „bürgerliche Denkweise“ konstruiert werden sollte, dann träfe sie hier eher zu. Es war der Umgang mit- und untereinander, der schnell zur Entsolidarisierung führte, und der gleich, aufgrund von „unüberbrückbaren Differenzen“, zur Gründung neuer Gruppen führen sollte.

Worte des Vorsitzenden Mao Tse_tung (so genannte Mao_Bibel)
So genannte Mao-Bibel

Dass die ersten maoistischen Gruppen in Westdeutschland besonders intensiv durch den Kampf gegen die Bourgeoisie geprägt waren, gehört in den Bereich der Fabeln. Vielmehr ging es um fraktionelle Kämpfe, um Familienklüngel und Wichtigtuerei. Die politische Linie dieser Gruppen wurde zum Sozialfall, die die Teilnahme an gesellschaftlichen Bewegungen nahezu verunmöglichte. Sie wurden mit einer gesellschaftlichen Realität konfrontiert, in die sie blind hineinliefen, in der kein Platz für die Selbstvernichtungswut von Revolutionen war. Sie starteten gewissermaßen als Embryo und blieben auch Embryos. Sie wurden zu Objekten der kapitalistischen Selbstzweckmaschine, die selbst die „aufrechtesten“ Maoisten zu Konsumenten-Individuen mit Mao-Button und Mao-Fibel machten. Man kann sagen, dass sie zu Charakterdarsteller wurden, die sich anschickten, eine gesellschaftliche Ordnung zu verändern, in der ihre Aufmärsche dem Kult der „geheimen Verführer“ (Vance Packard) entsprachen.

Die Erfolgsgeschichte der westdeutschen maoistischen Gruppen begann im fernen China. Dort waren es Mao Tse-tung und seine Roten Garden, die Mao nach heftigen internen Macht- und Parteikämpfen einst vorgeschickt hatte, um eine sog. „Kulturrevolution“ zu starten, die u. a. unter der Parole „Das Hauptquartier bombardieren“ stand, und die die „kapitalistischen Renegaten“, „Revisionisten“ und Autoritäten, die das Rad der Geschichte in China zurückdrehen wollten, mit Papierhüten durch die Straßen Pekings jagten, um sie anzuprangern und zu verurteilen. Die „Kulturrevolution“ war ein geschickter Schachzug Maos, der schon kalt gestellt, noch einmal einen letzten Versuch startete, um mit ihr die politische Macht in seinen Händen zu vereinigen. Tatsächlich sollte im Umkehrverhältnis nun wirklich die „politische Macht aus den Gewehrläufen“ kommen.

Stets propagierte Mao auch eine sog. „Massenlinie“, die zusammen mit der Theorie „Dem Volke dienen“, die Hirne und Herzen des chinesischen Volkes erreichen sollte, die aber in sich nur ein Hoffnungsmodell war, dass das hohle Machtsystem in ein irrationales und selbstmörderisches Spiel verwandelte, das zwar vorgab, von hehren Idealen motiviert zu sein, die eigentlichen Absichten jedoch verschleierte. Dass die westdeutschen K-Gruppen Anhänger dieser Denkrichtung wurden und von diesem neuen fanatischen Glauben angetrieben worden waren, war mehr als nur leichtgläubiger Idealismus. Vielmehr sollte sich zeigen, dass sie beliebige Szenarien der KP Chinas nicht als bevorstehenden Zusammenbruch deuteten, sondern sie als Aufforderung, gar „Aufbruch“ verstanden, jene krude maoistische Philosophie mit den viel gelesenen Schriften „Über die Praxis“ und „Über den Widerspruch“ als Weiterentwicklung des Marxismus-Leninismus zu würdigen. Über die Auswüchse der „Kulturrevolution“ soll hier nicht weiter geredet werden, auch nicht über deren Gewalttaten, ohne die dieser ganze Prozess womöglich nicht zu verstehen wäre. Literatur darüber gibt es in Hülle und Fülle. Einer der ersten, die über die „Kulturrevolution“ berichteten, war übrigens der Journalist Klaus Mehnert. (1)

Die Weltlage, so die KP Chinas in ihren einschlägigen Schriften, stellte sich zu Beginn der 1960er Jahre als „glänzend“ dar. Überall auf der Welt würden die Völker „von Sieg zu Sieg schreiten“, und der Sozialismus würde nun „greifbar werden“. Die „wahrhaften Marxisten-Leninisten“ würden neue Parteien gründen, und den Revisionismus Moskauer Prägung mit Schimpf und Schande davonjagen. So oder ähnlich konnte man das auch kurze Zeit später in der „Peking Rundschau“ nachlesen und über „Radio Peking“, später auch über „Radio Tirana“, hören.

Sozialistisches Deutschland. Zentralorgan der Marxistisch_Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD), 4. Jg., Nr. 32, Berlin, 1. Juni 1968
Icon Zentralorgan der MLPD

In Westdeutschland soll es die ersten Regungen von Marxisten-Leninisten zum albanischen Nationalfeiertag am 29.11.1964 gegeben haben. Die Gruppe, die ein Grußtelegramm vorbereitet hatte, nannte sich „Westdeutsches Marxistisch-Leninistisches Komitee“. Einige Monte später soll daraus das „Komitee der Marxisten-Leninisten Deutschlands“ geworden sein. Um welche Gruppierung es sich hierbei handelte, ist nach wie vor ungeklärt. Es gibt nahezu keine Spuren, die helfen könnten, diesen Dunstkreis aufzulösen. Es sollte sich aus diesem Komitee am 5. März 1965 - dem Todestag Stalins - die „Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands“ (MLPD) gründen, die sogar über ein ZO verfügte, das sich „Sozialistisches Deutschland“ nannte und deren letzte Ausgabe vermutlich im Frühjahr 1967 oder im Herbst 1968 erschien. Wie Schlomann/Friedlingstein berichteten, gipfelten ihre Parolen in „Verteidigt die DDR, befreit Westberlin, erkämpft die Volksrepublik Deutschland!“. Ziel der MLPD soll es gewesen sein, eine „Volksrepublik Deutschland“ zu errichten. Am 31. Oktober 1967 soll das „Sozialistische Deutschland“, laut KPD/ML, gar behauptet haben, dass es „mehr als 5.000 deutsche Marxisten-Leninisten“ gäbe. (2)

Nun wäre die einzige nachprüfbare Quelle für diese Gruppe die „Geschichte der MLPD“ (I. Teil, Entstehung, Entwicklung und Ende der marxistisch-leninistischen Bewegung), die 1985 vom ZK der MLPD herausgegeben wurde, gewesen. Dort hatte das ZK einst sämtliche Dokumente von Willi Dickhut über die Entstehungsphase der ML-Bewegung veröffentlicht. Interessanterweise lassen die Autoren diese Geschichte mit den Worten: „Bereits vor dem Ende der Studentenbewegung bildeten sich hier und dort Gruppen oder Grüppchen“, Revue passieren, um dann im gleichem Atemzug auf die Gründung des „Initiativausschuss zur Gründung einer sozialistischen Partei“, kurz: „Markowski-Kreis“, zu verweisen. (3)

Weder die oben genannten Gruppen noch deren Propaganda waren den Verfassern einen Verweis wert. Es böte sich die Erklärung an, dass sie davon keine Kenntnis hatten. Doch wäre die einzig mögliche Sichtweise die, dass Dickhut, der einst Leiter der Kaderabteilung der KPD war und somit wohl über ausreichende Kenntnisse marxistisch-leninistischer Strömungen in der damaligen BRD verfügte, sie als „Verfassungsschutzgründungen“ abtat. Damit versiegelte sich jede Debatte von selbst. Mögliche andere diverse Gruppen konnten so schnell als „Spekulationen der Kleinbürger“ abgetan werden.

Die erste Ausgabe des „Sozialistischen Deutschlands“ der MLPD soll Mitte August 1965 erschienen sein. Schlomann/Friedlingstein berichteten, dass sich die Redaktion womöglich „im Raum Frankfurt/Main-Heidelberg“ (4) befunden haben soll und dass sie in einer Fehde mit der illegalen KPD stand, die mehr und mehr auf „den Sowjetrevisionismus“ einschwenkte. Das ZO soll darüber hinaus ziemlich nationale Töne angeschlagen haben und die „Rückgabe der deutschen Ostgebiete“ (5) eingefordert haben. In der Ausgabe Nr. 32 vom 1. Juni 1968 (4. Jahrgang) war zu lesen: „Verteidigt die DDR. Befreit Westberlin. Erkämpft die Volksrepublik Deutschland!“ (6) Der Hinweis der Autoren, dass wegen der Konkurrenz zum späteren „Roten Morgen“ Ernst Aust darauf gedrängt haben soll, „das Organ einzustellen“ und dass diese MLPD, die nicht mit der heutigen zu verwechseln ist, später in verschiedenen „Roter Morgen“-Gruppen aufgegangen sein soll, ist äußerst fraglich. (7)

Jener „Markowski-Kreis“, der mit einem „Manifest einer neuen sozialistischen Partei“ bekannt geworden war und der im Herbst 1962 mit seinem „Initiativausschuss zur Gründung einer sozialistischen Partei“ an die Öffentlichkeit trat, ist heute kaum noch bekannt. Die Bekenner des Kreises waren ehemalige SPD-Mitglieder, vielleicht sogar eine kleine Sammlungsbewegung von Linken, die in etwa mit der jetzigen Partei „Die Linke“ zu vergleichen wäre. Besonders taten sie sich nicht hervor. Zwar beriefen auch sie sich auf den Marxismus, aber das taten viele; es stellte keine Besonderheit dar. Zumindest im März 1966 fanden sich deren Delegierte zusammen, um eine Übergangsgruppe zu bilden, die die Partei „Sozialistische Front“ oder ein „Komitee sozialistische Front“ organisieren wollten, wobei es aber nie zu einer Gründung kam.

Der „Rote Morgen“ kommentierte, nach den bisherigen Kenntnissen, diesen Kreis nicht, wobei hinzugefügt werden muss, dass der Aufruf im „Roten Morgen“ vom Januar 1968, „Marxisten-Leninisten Westdeutschlands, vereinigt euch“, (8) schon zu einem Zeitpunkt erschien, als es diesen Kreis nicht mehr gab. Ob Ernst Aust sich auf eine andere Weise mit Markowski und der Gruppe  auseinandersetzte, ist nur aus den persönlichen Aufzeichnungen von Dickhut bekannt. Die „Geschichte der MLPD“ lässt allerdings durchblicken, dass es einen solchen Kontakt gegeben haben soll. (9)

Vermutlich konstituierte sich am 22. April 1967 die „Freie Sozialistische Partei/Marxisten-Leninisten“ (FSP/ML), nach Schlomann/Friedlingstein im Käthe-Kollwitz Haus in Frankfurt/M., laut „Frankfurter Rundschau“ im „Bürgergemeinschaftshaus des Frankfurter Industriehofs“. Rund „siebzig Anhänger, von denen die meisten KPD-Mitglieder waren“, sollen sich getroffen haben, die „in handgreifliche Auseinandersetzungen“ verwickelt gewesen sein sollen. (10) Zum sog. ZK der FSP/ML soll danach auch Ruth Heuzeroth gehört haben, die mit Gerhard Lambrecht 1965 bis 1966 das Organ „Die Unbequemen“ von der „Arbeitsgemeinschaft für deutsche Politik-Siegerland-Westerland“ herausgegeben haben soll. (11)

Mir liegt die Ausgabe vom Dezember 1966 (Folge 12) mit dem Titel „Was sagt die Deutsche Friedensunion zu den Morden an der Mauer“ vor. Dort hieß es u. a. vollmundig: „Die ehemaligen KPD-Funktionäre haben die Parole ausgegeben: Über China wird nicht gesprochen, über die Jugoslawienfrage wird nicht gesprochen, über den Fall Havemann wird nicht gesprochen, über das sowjetisch-vietnamesische Verhältnis wird nicht gesprochen, über Rumänien wird nicht gesprochen, über Albanien wird nicht gesprochen, über Ulbricht wird nur in positivem Sinne gesprochen, über die Mauer wird nicht gesprochen. Natürlich wird auch über die Themen Kapitalismus und Sozialismus nicht gesprochen … Natürlich wird auch über die Morde an der Mauer nicht gesprochen …“. (12)

Erster Vorsitzender soll Günter Ackermann, der heute in „Kommunisten online - Kommunistische Internet-Zeitung“ (13) involviert ist, gewesen sein, der 2. Vorsitzende Werner Heuzeroth aus Niederschelderhütte, der später verschiedene K-Gruppen durchlief. Das Organ der FSP/ML war „Die Wahrheit“, das er in den 1990er Jahren wieder herausgab.

Nachricht in der Frankfurter Rundschau vom 24.4.1967: Gründungsversuch gescheitert. Keine prochinesische Partei
Icon Nachricht in der FR vom 24.4.1967

Die „Frankfurter Rundschau“ schrieb am 24. April 1967 über diese Gründung: „Keine prochinesische Partei. Gründungsversuch gescheitert. Der Versuch, eine neue, prochinesische Linkspartei mit dem Namen ‚Freie Sozialistische Partei‘ zu gründen, ist am Samstag in Frankfurt gescheitert. Bereits wenige Stunden nach Beginn der Tagung im Bürgergemeinschaftshaus des Frankfurter Industriehofs hatten sich die 65 Teilnehmer in zwei konträre Gruppen gespalten. Die weitaus stärkste Gruppe um das das KP-Mitglied Kurt Müller verließ unter Protest den Saal, nachdem sie ein ‚Gegenpräsidium‘ gewählt hatten. Die eigentlichen Initiatoren der Tagung, Werner Heuzeroth (48), ebenfalls ehemaliges aktives KP-Mitglied, der 28 Jahre alte, frühere Volkspolizist Günter Ackermann aus Frankfurt und Gerhard Lambrecht (33) blieben mit nur wenigen Teilnehmern zurück, um, wie sie Pressevertretern später erklärten, ‚doch noch die neue Partei zu gründen‘. Allerdings liegen weder ein Gründungsprotokoll noch irgendwelche Unterschriften von Gründungsmitgliedern vor. Damit scheitert nach den gesetzlichen Bestimmungen auch die Eintragung in das gerichtliche Vereinsregister.

Grund der harten Auseinandersetzungen waren Unstimmigkeiten über die Ziele der neu zu gründenden Partei. Die Gruppe um Müller beschuldigte die Initiatoren der Tagung, Ackermann und Heuzeroth, sie wollten eine pseudokommunistische Partei gründen, die unter Kontrolle der Bundesregierung stehe. Ackermann und Heuzeroth erklärten dagegen, mit Müller habe die illegale Führung der Kommunistischen Partei Deutschlands durch eine gezielte Aktion die Gründungstagung der zukünftigen ‚Frei(en) Sozialistischen Partei‘ gesprengt, die einen prochinesischen Kurs in der Bundesrepublik verfolgen wolle.“ (14)

Der  2-seitige „Aufruf zur Gründungskonferenz“, der vermutlich auf den März 1967 zu datieren ist, hatte nicht mehr zu bieten als den Berührungspunkt „Sozialismus“, der zusammen mit der Einforderung nach „der internationalen Solidarität“ und der „Befreiung der Menschheit“ vom „Joch des Kapitalismus“ den „unbeirrbaren Sieg … unserer gerechten Sache“ prophezeite. Er schloss mit der Aufforderung: „Genossen! Die Zeit ist reif. Schließt Euch zusammen. Schreitet zur Tat. Auf zur Gründungskonferenz der Freien Sozialistischen Partei nach Frankfurt im April 1967.“ (15)

Ein Dokument von unbekannten Verfassern vom 17. Mai 1967 mit dem Titel: „Stalinisten und Bundesverfassungsschützer Hand in Hand“ berichtete wie folgt über die Gründung:

Stalinisten und Bundesverfassungsschützer Hand in Hand
Icon Bericht von der Gründungskonferenz am 22.4.1967

„Am 22. April sollte in Frankfurt/M., Käthe Kollwitz Haus, eine neue sozialistische Partei gegründet werden. Unterzeichnet mit dem Gründungsaufruf von Günter Ackermann, Frankfurt/Main, Werner Heuzeroth aus Niederschelderhütte/Sieg und Gerhard Lambrecht aus Ludwigshafen (der nicht an wesend war). Vielleicht 50 bis 70 Anwesende, vorzugsweise aus der KPD gekommene DFU-Anhänger, waren gekommen.

Die Versammlung wurde kurz eröffnet und schon ging der Krawall los, mit dem sie dann auch geendet hat. Versammlungsteilnehmer riefen, jeder der Einberufer solle sich mit einem kurzen Lebenslauf vorstellen, was sie auch taten und durch Abstimmung wurden sie alle, bis auf 2, vom Vorstandstisch weggeholt, was natürlich ein heilloses Spektakel gab. 3 bis 5 Mann sprachen auf einmal, die meisten, die die Mehrheit waren gegen die Gründung einer neuen sozialistischen Partei, um die Wiederzulassung der KPD sollten sie sich kümmern, die ganze Aktion sei ein Dreh vom Bundesverfassungsschutz, Arbeiterspalter, Agenten und Wirrköpfe waren die gängigen Parolen, die die DFU-KPD-Anhänger der Versammlungsleitung laufend ins Gesicht schleuderten. Tumultartige Szenen gab es, nur zum Stören und Zwietracht waren die DFU-KPD Anhänger gekommen, was sie auch fast vollkommen erreichten, womit sie ihre ‚demokratische Gesinnung‘ wieder klar unter Beweis gestellt hatten, auch dem Bundesverfassungsschutz, der doch bei diesen und ähnlichen Veranstaltungen massig vertreten ist.

Und diese ‚demokratische Gesinnung‘, in Deutsch Terror und Massenmord stalinistischer Art gegen unschuldige Menschen war auch einer der Gründe, warum das Bundesverfassungsgericht die KPD seinerzeit verboten hat. Nach ‚demokratischen Spielregeln‘ kann jeder Mensch, jede Gruppe eine Partei gründen, einen anderen geht das überhaupt nichts an, gehört sofort furchtbar zur Rechenschaft gezogen, wenn er sich aufregt über Sachen, die ihn überhaupt nichts angehen. Diese ganze Aktion vom 22. April 1967 bewies dem Bundesverfassungsschutz wieder, dass das ganze Demokratiegefasel von KPD-DFU nur Deckmantel über ihrem stalinistischen Terror ist.

Nach der Abwahl der meisten Einberufer wählten die meisten DFU-Leute einen neuen Vorstand. Dieser löste die Versammlung einfach auf, unter dem Vorsitz eines Bundesverfassungsschützers, Kurt Müller, nannte sich dieses Schwein. Er hatte schon von aller Anfang die Versammlung geleitet, die Einberufer sollten ihn schon zu Beginn schon vom Tisch fortjagen, aber er ging nicht weg, redete immer weiter, typisches NS-Zeug, war dann auch noch Versammlungsleiter bei den DFU-KPD-Anhängern, die dann unter der Führung eines Bundesverfassungsschützers die berechtigte Gründung einer neuen sozialistischen Partei verhindert und sabotiert haben.

Dieser Kurt Müller hat sich schon bei der marxistischen Arbeitstagung vom 7. bis 9. April 1967 in Ffm. durch seine saublöde Ausfragerei als Bundesverfassungsschützer entlarvt, sagte dort, er sein von Gelnhausen, am 22. April sagte er, er sei von Hanau und dieser Drecksack und Lügner segelte sehr wahrscheinlich unter falschem Namen und hatte Ausweis oder Erkennungsmarke vom Bundesverfassungsschutz in der Tasche stecken, was man bei einer gewaltsamen Untersuchung hätte feststellen können. Er bezeichnete sich selbst als Kommunist und die Frage, ob er ein Mitgliedsbuch der KPD habe, verneinte er.

Nach der Auflösung der Versammlung, so gegen Mittag, tagte dann nach dem Mittagessen ein kleineres Gremium, etwa 15 Leute, zur Gründung einer neuen sozialistischen Partei weiter. Günter Ackermann hielt ein wunderbares Referat, das jeder Sozialist und Kommunist akzeptieren konnte, ein ZK und ähnliches wurde gewählt, was wegen den wenigen und nicht richtig bekannten Leuten nicht richtig zustande kam. Anschließend gabs Pressekonferenz. Wieder wurden die Einberufer schwer in die Mangel genommen, wieder gab es tumultartige Szenen, zwei kurz vorher gewählte ZK-Mitglieder verließen gleich zu Beginn der Pressekonferenz unter Protest Vorstandstisch und neue Partei, ein Protest gegen die neue Partei, was sehr wahrscheinlich auch ein vorgesehener und geplanter Akt dieser Bundesverfassungsschützer gewesen ist. Denn dieser DFU- und illegale KPD-Apparat ist doch vom Bundesverfassungsschutz vollkommen durchsetzt, hat die vollkommene Mitgliederliste beider Parteien … Diese Pressekonferenz endete wie der Vormittag, Tobsuchts- und Schreianfälle der Stalinisten noch und noch, die gleichen Vorwürfe, die das bürgerliche Geschmeiß gegen KPD und DFU macht, machten diese Leute nun selbst gegen die Gründer der neuen Partei, wer bezahlt euren Saal, ist er überhaupt schon bezahlt, woher bekommt ihr das Geld für die Gründung dieser neuen Partei, Bundesverfassungsschutz und die Drahtzieher, warum wurde die KPD verboten und ihr mit eurem viel radikaleren Programm nicht (obwohl die neue Partei noch gar nicht gegründet ist) und ähnlichen Schund und Plunder. Wie im spanischen Bürgerkrieg haben während dieser Gründungsversammlung am 22. April 1967 diese Stalinisten gehaust, Sabotage noch und noch betrieben. Sie haben in Spanien und bei dieser Gründungsversammlung ihr Ziel erreicht, nämlich alles kaputt gemacht, was nach Sozialismus riecht.

Die Wahrheit. Organ des ZK der FSP/ML, Folge 5, September 1967
Icon Organ des ZK der FSP/ML

Unbeschreibliche Fratzen machten diese Pressevertreter bei dieser Pressekonferenz … wie noch nie. Das Recht schaute ihnen wie Glut aus der Fratze heraus. Dieser ganze Zirkus, morgens und mittags wäre 1000-mal eher bei der Gründung der DFU angebracht gewesen. Aber die DFU ist eine Gründung von der DDR, ein revisionistischer und konterrevolutionärer Dreckhaufen, kein Haar besser als die SPD. Auch die DFU verwässert nur Marxismus und Kommunismus und muss deshalb von jedem echten Sozialisten abgelehnt und bekämpft werden. Hat die DDR ihre Existenz diesem saublöden Friedensquatsch oder dem Angriffskrieg Hitlers zu verdanken ? ? ? ? ? so gehört die Frage gestellt …

Georg Politikeil, auch Energiegeladener Pressevertreter, soll bei seiner nächsten Pressekonferenz einmal zuallererst klipp und klar sagen, von wem er bei Referaten und Diskussionsbeiträgen bei der marxistischen Arbeitstagung in Ffm. vom 7. bis 9. April 1967 die Instruktion bekam, laufend mit einem anderen auf der Bühne zu quasseln und so diese Arbeitstagung zu stören versuchte. Wenn Instruktionen, dann vom Bundesverfassungsschutz. Weiter war bei dieser marxistischen Arbeitstagung von Demokratie hinten und Demokratie vorne die Rede. Am ersten Tag lag chinesische Literatur am Saaleingang, an den beiden nächsten war sie verschwunden. Warum wohl??? Die gleichen Marotten wie bei den stalinistischen Säuberungsprozessen, die gleiche Methode wie bei der stalinistischen Massenmenschenschlächterei.“ (16)

Was hier neben der haarsträubenden Grammatik auffällt, ist der Trend des Berichts, die Gründung der FSP/ML in die Nähe einer Verfassungsschutzgründung zu stellen und den eigentlichen Gründungsakt als „Stalin-Schock“ zu bezeichnen. Die Versammlung setzte sich nach diesem Bericht offenbar aus ehemaligen KPD- und DFU-Mitgliedern zusammen, die sich wohl über die Gründung einer „neuen sozialistischen Partei“ nicht einigen konnten. Daneben schien, was aus einigen anderen Verlautbarungen hervorging (vgl. etwa „Frankfurter Rundschau“) das Chaos regiert zu haben, was zum damaligen Zeitpunkt sicher nicht als außergewöhnlich galt.

Die anberaumte „Pressekonferenz“, über die übereinstimmend auch andere Autoren berichteten, sollte in eine Farce einmünden, die auch tiefe Einblicke in das politische Umfeld der damaligen FSP/ML hinterlässt. Ob es sich überhaupt hierbei um Marxisten-Leninisten im späteren Sinne gehandelt hat, ist äußerst fraglich. Allein das Bekenntnis zum Sozialismus und die „Verteufelung“ des Revisionismus dürften als alleinige Gründe kaum ausreichend gewesen sein. Wichtig erscheint zusätzlich der Hinweis auf einen Büchertisch mit „chinesischer Literatur“. Zumindest der Kreis um diese Gruppe dürfte auch zu denjenigen gehört haben, die mit als erste Literatur aus der VR China vertrieben haben. Das widerspricht der These Gerd Koenens, der in „Das rote Jahrzehnt“ meinte, dass der Vertrieb dieser Literatur der „Kommune 1“ um Kunzelmann, Langhans und Teufel zuzuordnen gewesen sei und sich damit zeitlich deutlich festgelegt hatte. (17)

In der Ausgabe Nr. 31/05 vom 4. August 2005 berichtete die „Rote Fahne“ der MLPD über den Gründungsprozess der FSP/ML:

„Vor Gericht bewarfen sich Ackermann und Heuzeroth wegen eines Vervielfältigungsapparats anschließend gegenseitig mit Schmutz - schon damals wurde das Niveau dieses geltungssüchtigen, Phrasen dreschenden Sektierers deutlich. In der 1968 neu gegründeten KPD/ML beteiligte sich Ackermann dann im April 1970 wieder aktiv an deren erster Spaltung. Inzwischen von Frankfurt nach Köln umgezogen, richtete sich sein Intrigantentum speziell gegen Willi Dickhut, der den Landesverband NRW der KPD/ML auf eine proletarische Linie ausrichtete (siehe dazu: REVOLUTIONÄRER WEG 4/1970, ,,Der Kampf um die proletarische Linie“). Seine nächste Station war das KPD/ML-Zentral-Büro, eine kleinbürgerliche Gruppe, die sich im Januar 1973 auflöste. Er schrieb das Buch ,,Wir gehen nach vorn“ über den Streik bei Mannesmann in Duisburg und wandte sich dann 1975 einer Hochschulkarriere zu, die er 1984 in Polen abschloss …“ (18)

Die Vita von Günter Ackermann beginnt interessanterweise erst mit der Gründung der KPD/ML. Über die Gründung der FSP/ML berichtet er in „Kommunisten Online“ nicht - und auch nicht über jene diversen Auseinandersetzungen, die ihm später in der KPD/ML den „Opportunismus“-Vorwurf einbrachten. Ackermann, der Gründungsmitglied der KPD/ML war, tauchte im „Roten Morgen“ erstmals in der Januar-Ausgabe 1968 auf. Dort verfasste er einen Leserbrief zu Kerenski. (19) Seit dieser Zeit schrieb er dort regelmäßig. Im August 1968 erschien bei den Ford-Werken in Köln, die vermutlich von Günter Ackermann herausgegebene „Rote Ford Arbeiter Zeitung“, später wurde diese (ab Dezember 1968) von den „Marxisten-Leninisten Köln“ herausgegeben.

Kollegen! Was seid Ihr den Kapitalisten wert? NICHTS! Flugblatt des Gründungskomitees der FSP
Icon Flugblatt der FSP

Daneben ist zumindest ein Flugblatt der Gruppe bekannt. Wann und wo es verbreitet wurde, entzieht sich meiner Kenntnis: „Kollegen! Was seid Ihr den Kapitalisten wert? Nichts! Sie fragen nicht danach, ob Ihr Eure Familie ernähren könnt. Wenn Ihr in Not und Elend geratet, sie kümmern sich nicht darum. Die Profite sind für sie nur wichtig. Durch die Arbeit von Millionen Arbeitern machen sie sich ein schönes Leben. Wenn sie Euch nicht mehr brauchen, jagen sie euch davon, wie räudige Hunde behandeln sie Menschen, die oft jahrelang für sie geschuftet haben. Man redet von Freiheit und meint die Freiheit von Wenigen, über Millionen arbeitende Menschen zu herrschen und sich an deren Hände Arbeit zu bereichern. Kollegen, besinnt euch auf Eure Kraft, wenn Ihr Euch wehrt, seid Ihr die Stärkeren! Herausgeber: Gründungskomitee der Freien Sozialistischen Partei. Verantwortlich für den Inhalt, Günter Ackermann, Frankfurt.“ (20)

Im 1. Zentralkomitee der KPD/ML war er verantwortlich für Betrieb und Gewerkschaft, später sollte er als Mitglied der Dortmunder „Bolschewistischen Linie in der KPD/ML“ (ab dem Januar 1972) zur KPD/ML-Zentralbüro wechseln. Ackermann sollte noch einmal durch das Buch „Wir gehen nach vorn“, dem (autorisierten?) Bericht über den Mannesmann-Streik 1974, in Erscheinung treten.

Die Autoren der „Maoisten. Pekings Filialen in Westeuropa“ berichteten weiter, dass das ZK der KP Chinas und die chinesische Botschaft in Bern der FSP/ML die „offizielle Anerkennung“ (21) versagten. „Hingegen erhielt sie im Juni 1967 Besuch von den späteren „Marxist-Leninist-Organisation of Britain“, den Ackermann und das Ehepaar Heuzeroth drei Monate später in London erwiderten.“ (22) Aus dem September 1967 ist mir auch eine Ausgabe der „Wahrheit“ (Nr. 5) mit dem Titel „Vorwärts im Kampf für ein sozialistisches Deutschland. Die revolutionäre Bewegung greift um sich“ bekannt. Es beschäftigte sich mit dem „Volkskrieg in Vietnam“ und bezeichnete den „US-Imperialismus als den Hauptfeind der Völker“.

In dieser Zeit soll Ackermann auch Kontakte zur „Oktober-Gruppe“ (Biel/Schweiz) gepflegt haben. Von einem Besuch bei der „Roten Fahne“ in Wien und von einem Besuch bei der „Partei der Arbeit Albaniens“ (PdAA) vom 14. - 21. November 1967 berichteten die Autoren ebenfalls. (23)

Vermutlich im Spätsommer 1967 erschien die Nr. 1/1967 der „Spartakus-Briefe“ mit dem Zusatz „Stimme der Marxisten-Leninisten in der KPD von NRW“ oder „Probleme der Marxisten-Leninisten der BRD“, die illegal vom KPD-Mitglied Klaus Schaldach (später auch Mitglied des 1. ZK der KPD/ML) herausgegeben worden waren. (24)  Heiner Karuscheit meinte, dass sie bereits im „November 1966“ erschienen. (25) Wie „GDS“ berichtete, soll im November/Dezember 1967 die Ausgabe Nr. 4/5 der „Spartakus-Briefe“ erschienen sein. Schwerpunktmäßig soll sich die Ausgabe mit „der russischen Oktoberrevolution von 1917“ und „mit der deutschen Novemberrevolution von 1918“ beschäftigt haben. Vermutlich gab es nur 2 oder 3 Ausgaben, die spätestens ab Anfang 1969 keinerlei Bedeutung mehr hatten. Das ZB der KPD/ML druckte später die erste Ausgabe nach. Die Briefe wollten mit „dem Revisionismus abrechnen“ und eine „marxistisch-leninistische Plattform erarbeiten“. (26) Seit 1969 sollen auch Ausgaben der „Spartakus-Briefe“ von der MLPÖ in ihrer „Roten Fahne“ nachgedruckt worden sein.

Verbreitet wurde am 15. März 1967 in der BRD der von der MLPÖ herausgegebene Aufruf „An alle marxistisch-leninistischen Parteien, Organisationen und Gruppen (Internationales Rundschreiben) der MLP“. (27) Vermutlich ging es hierbei um die Verlautbarung der KP Chinas, die an „alle wahrhafte Marxisten- Leninisten“ gerichtet war, die „Gründung neuer revolutionärer Arbeiterparteien auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus“ anzustreben. (28) Interessant war hierbei, dass die „Sturmzentren der Weltrevolution“ für die KP Chinas nun gerade nicht in Europa lagen. Der allgemeine Widerspruch zwischen den beiden Weltsystemen, des Kapitalismus und des Sozialismus, verlagerte sich 1967 bereits eindeutig nach Afrika, Asien und Lateinamerika. Geografisch betrachtet, war somit die BRD ein „unterentwickeltes“ Land in Sachen Revolution. Das führte dann wohl auch dazu, dass die KP Chinas die kommenden (westdeutschen) Studentenunruhen falsch einschätzte.

Die „studentische Rebellion“ sei von „Mao und der Kulturrevolution inspiriert worden“, meinte Klaus Mehnert einst in „Peking und die Neue Linke“ und charakterisierte damit wohl treffend die „Pekinger Position“, die „14 Wochen hintereinander in der Peking Rundschau“ die „Schauplätze der studentischen Rebellion“ nannte, wobei Westdeutschland an erster Stelle erwähnt worden war. Später, ab Ende 1968, wurde diese Position korrigiert, reduziert und abgeschwächt. „Riesige Porträts von Marx, Engels, Lenin, Stalin und dem Vorsitzenden Mao“ seien „von den ausländischen Demonstranten mitgeführt worden“, hieß es dann abgeschwächt. (29)

Exkurs: Die Vorgeschichte der Differenzen zwischen der KP Chinas und der KPdSU

Um überhaupt einen Erklärungsversuch über die ersten Schritte des Maoismus in der BRD starten zu können, sollte in Erinnerung gerufen werden, dass mit der Auflösung des Kominform (Kommunistisches Informationsbüro bzw. Informationsbüro der Kommunistischen und Arbeiterparteien) am 17. April 1956 eine neue politische Situation in den Ostblockländern entstand, (30) die nach den polnischen und ungarischen Ereignissen von 1956 einen gewissen Höhepunkt erreicht hatte. Zuvor, als bereits ab März 1948 Jugoslawien unter Tito in Ungnade fiel und sich im „Rajk-Prozess“ (September 1949) und „Slansky-Prozess“ (20. bis 27. November 1952) das ganze Ausmaß des Desasters der sowjetischen Hegemonie zeigte, begann der „proletarische Internationalismus“ zu bröckeln. Die Zulassung „besonderer Wege zum Sozialismus“ in der kommunistischen Weltbewegung war seit dieser Zeit in der Diskussion.

Der XX. Parteitag der KPdSU (14. bis 26. Februar 1956) mit der berühmten „Geheimrede“ Chruschtschows („Über den Personenkult und seine Folgen“), die mit der Verurteilung Stalins und des „Personenkults“ endete, markierte den endgültigen politischen Wendepunkt, aber auch das eigentliche Schisma, wobei u. a. auch die „Stalinfrage“ zum Dreh- und Angelpunkt werden sollte.

Am 1. Oktober 1949 rief Mao Tse-tung die Gründung der VR China aus. Im November 1949 reiste er zu Stalins 70. Geburtstag nach Moskau. Dort soll ihm ein Platz an der rechten Seite Stalins zugewiesen worden sein. Manche Autoren sahen das als Hinweis darauf, dass er in der Rangordnung  der kommunistischen Führer unmittelbar hinter Stalin rangieren würde. (31) Stalins Tod und die sog. „Entstalinisierung“ erhöhten somit möglicherweise die Chancen Mao Tse-tungs. Bei den Feiern zum 40. Jahrestag war er der angesehenste ausländische Gast. Die „Bauernpolitik“ Maos und der eigenständige Weg zur Industrialisierung, der zunächst durch russische Spezialisten, die zu Tausenden nach China gesandt worden waren, unterstützt wurde, stieß in der sowjetischen Führungsspitze auf Ablehnung, da dies dem „proletarischen Internationalismus“ widersprach. Doch weigerten sich Stalin und Chruschtschow noch, den endgültigen Bruch zu vollziehen.

Die Widersprüche spitzten sich mit den Verlautbarungen der chinesischen Kommunisten zu, denen zufolge revolutionäre „Unabhängigkeitstendenzen“ (in Anspielung auf Jugoslawien) unterstützt werden müssen und eine „friedliche Koexistenz“ (so Chruschtschow auf dem XX. Parteitag) abzulehnen sei. Nach dem XX. Parteitag veröffentlichte das chinesische ZK zunächst in „Renmin Ribao“ die Schrift „Über die historischen Erfahrungen der Diktatur des Proletariats“, die weiter an den Grundprinzipien des Marxismus-Leninismus und deren „Weiterentwicklung“ durch Stalin festhielt und sich kritisch mit Chruschtschows Behandlung der „Stalin-Frage“ auseinandersetzte. Im Dezember 1956, anlässlich des 80. Geburtstages von Josef Stalin, erklärte das ZK erneut, dass „die Fehler Stalins hinter seinen Verdiensten den zweiten Platz einnehmen“. (32)

Die eigenständige Politik der VR China mit seiner radikalen Außenpolitik (Kämpfe in Tibet, Auseinandersetzungen auf indischem Gebiet) führte zu weiteren Spannungen mit Moskau. Chruschtschow übte unverhohlen Kritik an den chinesischen „Friedensstörern“, die auch durch die Reise der chinesischen Delegation vom 7. bis zum 19. Januar 1957 unter Führung Tschou En-lais nach Moskau nicht gemindert wurde. Diese Reise dürfte den Beginn eines neuen Formierungsprozess in der kommunistischen Weltbewegung markiert haben.

Der Dissens zwischen Moskau und Peking konnte auch auf den Moskauer Beratungen vom 14. bis 16. November 1957 nicht beigelegt werden. Die sog. „Spaltungskonferenz“, die die verschiedenen Formen der Widersprüche zwischen der KP Chinas, der KPdSU, aber auch den jugoslawischen Kommunisten noch einmal auf den Prüfstand brachte, war von zwei Resolutionen gekennzeichnet. Zum einen die von der KPdSU entlang ihres XX. Parteitages vorgelegte, zum anderen eine von der KP Chinas, die die (grundsätzliche) Kritik an dieser Linie noch einmal hervorhob. Zwar kam es zu einem „Kompromissentwurf“, doch dieser war recht widersprüchlich formuliert. Und lässt bis heute alle Interpretationen offen.

Doch die KP Chinas bekräftige weiter ihren Standpunkt, der den Marxismus-Leninismus Stalinscher Prägung verteidigen sollte. Mao Tse-tung soll sich während der Tagung noch konziliant in der „Stalin-Frage“ gezeigt haben, jedoch die Frage der „neudemokratischen Revolution“ klar zum „offizielleen strategische Konzept der internationalen kommunistischen Bewegung im antikolonialen Kampf“ erhoben haben. (33)

Mao propagierte damit den „nationalen Sonderweg“, den die chinesische Delegation auch auf den Beratungen vom Frühjahr 1958 verteidigen sollte. Der Spaltungs- und Auflösungsprozess der internationalen und kommunistischen Weltbewegung ging hier seinem Höhepunkt entgegen. Der Streit mit Tito konnte eben sowenig beigelegt werden wie der mit der PCI (unter Togliatti). Der BdKJ orientierte sich im Anschluss an ihren VII. Kongress auf „Blockfreiheit“, das „Recht eines sozialistischen Landes auf außenpolitische Neutralität“. Doch „Blockfreiheit“ bedeutete einen Angriff auf außenpolitische Grundsatzpositionen der Hegemonialzone der UdSSR. (34)

Doch nicht nur die KPdSU richtete vehemente Angriffe auf den BdKJ, sondern, wie bekannt, auch die VR China und die PdAA. Es war „Zeri i Poppulit“, das albanische (offizielle) Parteiorgan, dass erstmals am 4. Mai 1958 den „jugoslawischen Revisionismus“ kritisierte. Einige Tage später erfolgte ein ähnlicher Angriff in der „Pekinger Volkszeitung“. Man könnte sogar sagen, dass sich in der Kampagne gegen Tito die alten Vorbehalte gegen ihn aus der Kominformzeit  wiederholten. Hinzu kam die Janus-Köpfigkeit dieser Debatte. Zum einen der Konflikt zwischen der KPdSU und der KP Chinas bzw. der PAA, zum anderen die Kritik an Tito, die von den Chinesen und den Albanern zum Anlass genommen wurde, die Linie des XX. Parteitages zu kritisieren.

Im April 1960 wurde von Peking der Artikel „Lang lebe der Leninismus“ veröffentlicht. Dort wurden die differenten Positionen dargestellt, die später u. a. auch zur Grundlage der theoretischen Debatte wurden (u. a. die Vermeidbarkeit von Kriegen, der Weg zum Sozialismus). Im Juni 1960 antwortete Moskau darauf und ließ ein Dokument auf dem III. Kongress der Rumänischen Arbeiterpartei veröffentlichen, in dem die chinesischen Positionen kritisiert wurden. Auf einer weiteren Konferenz, die kurze Zeit später stattfand, griff Chruschtschow Mao scharf an und nannte ihn u. a. einen „Ultra-Linken“.

Am 12. Juni 1960, zum 40. Jahrestag von Lenins Schrift „Der linke Radikalismus - die Kinderkrankheit im Kommunismus“, kritisierte Martkowski in der „Prawda“ den „linken Kommunismus“ der KP Chinas, die ganze „historische Etappen zu überspringen“ gedenke, und wandte sich gegen die chinesischen Experimente der Volkskommunen. Am 21. Juni erschien ein „Rundbrief“ der KPdSU, der in den Ländern der Volksdemokratie Verbreitung fand. Die Chinesen wurden darin beschuldigt, gegen die Übereinkünfte, die auf der Moskauer Konferenz vom November 1957 erzielt worden waren, verstoßen zu haben. Erneut verteidigte dort Chruschtschow seine „Koexistenzpolitik“. Am 24. Juni 1960 erschien ein Kommuniqué von 12 kommunistischen Parteien. Hier wurden die Prinzipien vom November 1957 bestätigt und Chruschtschow der Rücken gestärkt.

Schon während der Vorbereitungen zur Moskauer Konferenz, die am 10. November 1960 offiziell eröffnet wurde und am 16. November 1960 endete, zog die Sowjetunion (ab dem August) alle Techniker aus der VR China ab. Die Chinesen wiesen die Vorwürfe der Sowjetunion am 21. Juni erneut zurück, die auch auf der Moskauer Konferenz zur Sprache gebracht wurden. Bereits im Oktober kamen Vertreter von 26 kommunistischen Parteien zusammen, um unter dem Vorsitz von Suslow eine Erklärung zu redigieren. Auf der November-Sitzung kam es dann zum Eklat. Chruschtschow griff Mao persönlich an: Er sei „ein zweiter Stalin“ und lasse „Personenkult mit sich treiben“, er ignoriere „die Realitäten der modernen Welt, insbesondere die Gefahren des Atomkrieges“, er betreibe „Aggressionspolitik gegenüber Indien“. Aber auch die Chinesen waren unter dem Vorsitz von Liu Schao-schi nicht zimperlich und intervenierten heftigst. Der Hauptredner Deng Xiao-ping ging seinerseits in die Offensive, fächerte die „Grundfragen der Epoche“ auf und griff seinerseits Chruschtschow an. Er habe auf dem „XX. Parteitag Stalin herabgesetzt“, eine „neue politische Linie eingeführt, ohne die Bruderparteien zu befragen“. Enver Hoxha attackierte Chruschtschow heftig und warf ihm vor, die „Stalin-Frage“ nur als Vorwand benutzt zu haben, um von innerparteilichen Kämpfen, die seine Position bedrohten, abzulenken.

Die Moskauer-Beratungen vom November 1960 hatten nachhaltig gewirkt. Dolores Ibarruri soll gesagt haben: „Heute habe ich die beschämendste Rede gehört, die in der kommunistischen Weltbewegung seit den Tagen Trotzkis gehalten worden ist.“ (35). Die offene Kritik an der offiziellen Parteilinie der KPdSU war gänzlich neu. Sie hatte es in der gesamten Kominternzeit seit den Linienkämpfen der 1920er Jahre nicht gegeben. Für die VR China endete die Konferenz in einem gewissen Desaster: Neben den Projekten der UdSSR in China, die gestoppt worden waren, wurden auch Kredite eingefroren, die VR China zahlte mit Lebensmitteln zurück, was zum „Großen Sprung nach vorne“ führte, der in eine Reihe von Hungersnöten einmünden sollte.

Als dann auf dem VI. Parteitag der SED, der vom 15. bis 21. Januar 1963 tagte,  der chinesische Delegierte Wu Hsiu-tjün erbarmungslos ausgepfiffen und niedergeschrien wurde und es zu tumultartigen Szenen kam, war das Fass dem Überlaufen nahe. Die chinesische Botschaft in Ostberlin schmückte sich daraufhin mit Transparenten, auf denen zu lesen war: „Nieder mit dem Revisionismus“, „Blut wird mit Blut vergossen“. Die „Polemik über die Generallinie der internationalen und kommunistischen Bewegung“, die im Frühjahr 1965 ersts in deutscher Sprache erschien, stellte die eigentlichen Differenzen noch einmal heraus. (36)

Zusammenfassend ist zu sagen: Chruschtschow warf Mao vor, dass er in der „Stalin-Frage“ eine abweichende Position vertrete, dass er alle anderen Interessen vergesse, nur seine eigenen nicht, dass er die Realitäten der modernen Welt ignoriere, insbesondere die Gefahren eines Atomkrieges, dass er gegenüber Indien eine Aggressionspolitik betreibe. Mao warf Chruschtschow vor, dass er Stalin „verraten“ habe und durch den XX. Parteitag eine neue politische Linie innerhalb der kommunistischen Weltbewegung durchsetzen wolle, er habe 1956 zu Unrecht gegen Polen mobilisiert. An der Spitze der SU habe er eine „revisionistische Politik“ betrieben, wobei interessant ist, dass Mao diese „revisionistische Politik“, außer in den bekannten plumpen Vorwürfen, nicht näher charakterisierte. Letztlich sei die sowjetische Hilfe für Indien und Ägypten ein schwerer Fehler gewesen. Um der „friedlichen Koexistenz“ mit den USA habe er China „geopfert“ und somit die von ihm geleitete KPdSU aus der Verantwortlichkeit als führende Partei unterminiert.

Die wahren Gründe des Konflikts dürften vielfältig gewesen sein. Gemeinhin gelten die ideologischen Differenzen als die entscheidenden. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass durch die persönlichen Angriffe beider Parteiführer die Risse zwischen beiden Parteien und Ländern noch mehr vertieft wurden. Möglich ist, dass die wahren Gründe irgendwo im Widerstreit der nationalen Interessen Chinas und der Sowjetunion lagen. Der spätere Streit am Ussuri, der ab dem 2. März 1969 die Zerwürfnisse zwischen beiden Staaten noch einmal mit bewaffneten Scharmützeln eskalieren ließ, markierte territoriale Ansprüche auf beiden Seiten. Vor diesem Hintergrund spiegelte der Konflikt auch die chinesische Haltung in der Frage eines Atomkrieges wider, aber auch den Widerspruch gegen die Politik der friedlichen Koexistenz und den Protest gegen die sowjetische Hilfe für Indien und Ägypten.

Warum die die westdeutschen maoistischen Gruppen sich vor diesem Hintergrund dazu entschlossen hatten, den Kurs der offiziellen Linie Pekings mitzutragen, ist nicht gänzlich nachzuvollziehen. Den „Aufbruch“ nur mit kulturrevolutionären Aspekten (Kampf gegen „Autoritäten“ etc.) erklären zu wollen, greift erheblich zu kurz. Schließlich unterstützten sie eine Kultur, die nun gar nichts mit der berühmten „Kulturrevolution“ zu tun hatte und im engeren Sinne auch gar nichts mit „Revolution“. In China unter Mao ging es in erster Linie um aktuelle Machtkämpfe, die vom Präsidenten der VR China ausgelöst worden waren, um seine ins Wanken geratene Machtposition zu stärken und durch die „Revolution von oben“ zu erneuern und zu retten, wobei die „Roten Garden“ als (unschuldige) Hilfstruppen, die im Chaos und der Unordnung hantierten und möglicherweise dem bürokratischen Despotismus der Manipulationen der informierten Kader der Partei ausgesetzt waren, nur ihre Rolle zu spielen hatten und später, als die Illusion der unbedingten „Treue zu Mao“ verflogen war, sie sich der militärischen Repression des Mannes ausgeliefert sahen, dem sie einst blindlings, das „Rote Buch“ schwenkend, folgten. Sollten am Ende die westdeutschen K-Gruppen nur der Propaganda für neue (autoritäre) Machtstrukturen aufgesessen sein, die sie doch eigentlich zu bekämpfen gedachten? (37)

Doch zurück nach Westdeutschland. Neben der Amerikanerin Anna Luise Strong, die durch ihre Übersetzung der „Briefe aus China“ Anfang der 1960er Jahre bekannt geworden war, war nach Schlomann/Friedlingstein auch Lisa Niebank aus Frankfurt/M. für diverse Übersetzungen chinesischer Publikationen verantwortlich. Im Fremdsprachenverlag „Guozi Shudian“ besorgte sie möglicherweise 1965 die ersten deutschen Ausgaben von „China im Bild“ mit glücklichen Bergbauern, lachenden chinesischen Kindern, landschaftlichen Schönheiten und abgebildeten Kunstgegenständen. Das alles wurde von Mao-Zitaten und Weisungen umrahmt. „China im Bild“, meisten zwischen 30 und 40 Seiten stark, wurde u. a. über die Buchhandlung „Pinkus und Co.“ in Zürich (Schweiz) als eine der ersten Buchhandlungen vertrieben. (38) Berichte über China wurden seinerzeit auch in der Zeitschrift „Neue Politik“ abgedruckt, die von dem Redakteur Wolfgang Schenke 1956 gegründet worden war und in der er regelmäßig über die VR China schrieb. Wer an den deutschen Übersetzungen chinesischer Literatur insgesamt beteiligt war, ist kaum noch auszumachen. Schlomann/Friedlingstein äußerten sich dahingehend, dass sie möglicherweise in Österreich von einem Redakteur des ehemaligen KPÖ-Organs „Volksstimme“ übersetzt wurden. (39)

Das komplette chinesische Material für Deutschland wurde zunächst im „Verlag für fremdsprachige Literatur“ gedruckt. Die Auslieferung erfolgte über „Guozi Shudian - Internationale Buchhandlung“. Die massive Propaganda ab dem März 1963 fällt damit zeitlich in die Nähe des VI. Parteitags der SED. Eine der ersten Einzelschriften dürften „Mehr über die Differenzen zwischen Genossen Togliatti und uns“ (1963), „Woher die Differenzen?“ (1963), „Über den Pseudokommunismus Chruschtschows und die historischen Lehren für die Welt“ (1964), „Antwort des ZK der KP Chinas auf das Schreiben des ZK der KPdSU vom 15. Juni 1964“, „Die Führung der KPdSU ist der größte Spalter der Gegenwart“ (1964), „Den Kampf gegen Imperialismus und Revisionismus zu Ende führen, Dokumente vom Besuch der Partei- und Regierungsdelegation Albaniens in China“ (1966) (40) gewesen sein. Insgesamt soll es zwischen 1963 und 1965 ca. 20 verschiedene Einzelbroschüren in Dünndruck gegeben haben. Die bekannteste Einzelbroschüre dürfte „Der Marxismus-Leninismus wird über den modernen Revisionismus siegen“ (1965) gewesen sein. Der Text der Broschüre war auch die Einleitung zu den Radiosendungen von „Radio Tirana“ in deutscher Sprache (laut „Roter Morgen“ Nr. 40 vom 5. Oktober 1974 ab dem 1. Oktober 1964 über Mittelwelle und Kurzwelle, laut Schlomann/Friedlingstein erst ab dem Frühjahr 1966). In diese Zeit fällt auch die Ausstrahlung von „Radio Peking“. Die erste Sendung in deutscher Sprache soll am 30. Oktober 1965 erfolgt sein. (41)

Ab 1966 gab es erneut eine Flut von Broschüren. Mit der „Kulturrevolution“ war aber vor allem das „Rote Buch“ auf dem Vormarsch, das es ab 1965 mit Mao-Versen in den verschiedensten Ausführungen gab. Lin Biao schrieb einst im Vorwort dazu: „Studiert die Werke des Vorsitzenden Mao Tse-tung, hört auf seine Worte, handelt nach seinen Weisungen und seid seine guten Kämpfer!“ (42) Seit dieser Zeit dürften auch die „Werke“ des Vorsitzenden Mao, „Ausgewählte Werke Bd. I – V“ und „Ausgewählte Militärische Schriften“ zur vermehrten Verbreitung gekommen sein. Und natürlich auch die berühmten „Mao-Button“, die es in unterschiedlichen Formen und Größen gab.

Indes ist es nicht einfach zu (er-)klären, auf welchem Weg chinesisches Material den Weg nach Westeuropa nahm. Zunächst käme die Luftpost in Frage, die leicht den Weg zu Verteilerstellen (etwa chinesische Botschaft in Ost-Berlin, Bern, Brüssel, Paris, Den Haag oder London, Verteilerstelle in Bad Godesberg) gefunden haben dürfte. Die Rechnungen sind meiner Erinnerung nach über verschiedene Filialen der Bank für Gemeinwirtschaft AG beglichen worden. Die Zusendungen liefen aber auch auf direkten postalischem Weg (etwa „An das Zentralbüro der KPD/ML, Germany, Bochum, Bongardstraße) oder postlagernd. Damit ist längst die Frage danach nicht geklärt, welche Versandart Peking favorisierte. Es käme weiter der Luftweg in Frage. Schlomann/Fridlingstein äußern sich auch dahingehend. (43) Peking via Karatschi, via Moskau, Moskau via Ostberlin - via Brüssel -via Paris usw. wäre sicherlich eine denkbare Route gewesen, da die chinesischen Airlines damals Westeuropa noch nicht direkt anflogen. Zweifel sind jedoch angebracht. Bei der massiven Propaganda der Chinesen gegen die Sowjetunion dürfte Moskau es nicht ohne Weiteres zugelassen haben, dass ausgerechnet in ihren Flugzeugen Material der Gegenseite lagerte (womöglich noch verplombt!) und dann auch noch zur Auslieferung gelangte. Ganz verwegen betrachtet, käme zuletzt der Seeweg in Frage. Doch auch hier brächten sich dann immer wieder der Zoll und die jeweiligen Verfassungsschutzorgane der Länder ins Gespräch, die wohl ein erhebliches Interesse daran hatten, dass das Material nicht zur Verteilung gelangte. Vieles dürfte also hier der Spekulation vorbehalten bleiben. Und so lange es keine eindeutigen Hinweise darauf gibt, die erklären könnten, auf welchem Weg Tonnen von Propagandaschriften Westeuropa tatsächlich erreichten, wird man sich nur Gedanken machen können. (44)

Bereits seit März 1958 existierte in London die Zeitschrift „Peking Review“, im März 1963 kam eine französische Ausgabe hinzu, im ersten Halbjahr 1963 eine deutschsprachige Ausgabe, die einen Teil der Rede des chinesischen Delegierten auf dem VI. Parteitag der SED enthielt. Seit September 1964 wurde in der BRD die Nr. 1 der „Peking Rundschau“ bekannt. Zu Beginn der 1970er Jahren sollten sich die verschiedene Grußadressen zu den verschiedensten Anlässen westdeutscher maoistischer Gruppen in der „Peking Rundschau“ wiederfinden, die um die Veröffentlichung sogar buhlten.

Ob und inwieweit das mutmaßliche Treffen im Oktober 1964 von Marxisten-Leninisten aus der DDR in der chinesischen Botschaft in Paris mit zur Verbreitung der „Peking Rundschau“ in der BRD beigetragen hat, ist nicht (mehr) zu klären. Helmut Müller-Enbergs, Historiker und Mitautor von „Wer war Wer in der DDR. Ein biographisches Handbuch“ (45), berichtet in seinen „Heften zur Geschichte der Marxisten-Leninisten“ (46) jedenfalls von einem solchen (illegalen) Treffen. Die Marxisten-Leninisten aus der DDR sollen von der Botschaft dazu aufgefordert worden sein, „Kontakte zu Marxisten-Leninisten in der BRD zu knüpfen, um Mitglieder aus der alten KPD zu gewinnen“. (47)

Auch Schlomann/Friedlingstein berichten von Treffen illegaler Marxisten-Leninisten. Im Januar 1965 soll „der  Generalsekretär der Schweizer maoistischen Organisation Parti Communiste Suisse (PCS), Gerard Bulliard, Kontakte zu dem in der BRD unter illegalen Bedingungen arbeitenden Zirkel marxistischer Arbeiter in Deutschland“ geknüpft haben. (48) Deutsche Marxisten-Leninisten sollen nach den „Heften zur Geschichte der Marxisten-Leninisten“ die „im Januar von Chruschtschow organisierten internationalen Konferenzen (am 30. Juli 1964 und am 1. März 1965 in Moskau, d. Vf.) abgelehnt“ haben. (49)

Zeri i Popullit. Organ des ZK der PdAA. Sonderausgabe für die Genossen in der DDR (Dezember 1961)
Sonderausgabe für die Genossen in der DDR (Dezember 1961)

Neben den Streitschriften der KP Chinas tauchten auch vermehrt ab 1963 in Westeuropa (vermutlich zunächst über London, d. Vf.) albanische Presseerzeugnisse auf. Wann genau die albanische Propaganda in der BRD einsetzte, ist eine offene Frage. „Naim Frasheri“, das albanische Verlagshaus, übersetzte schon früh ins Deutsche, Französische, Englische oder Italienische. „Zeri i Popullit“, das Organ des ZK der PdAA, ist meines Wissens allerdings nie komplett in die deutsche Sprache übersetzt worden. Es gab immer nur einzelne Artikel. Die damaligen Schriften richteten sich vor allem gegen den „Chruschtschow-Revisionismus“. (50)

Die albanische Agitation war ebenso hölzern wie die chinesische. Die gebetsmühlenhaften und Pistolen-Stakkato-Debatten erinnerten an Reizüberflutung und frühmorgendlichen alkoholisierten Zungenschlag. Die allgemeinen Floskeln waren, aus heutiger Sicht, schwer erträglich. Vor allem auch deshalb, weil sie sich ständig wiederholten. Und in einer Art und Weise zum Vortrag gebracht wurden, die eher auf emotionale Konflikte deuteten, aber nicht auf eine sachliche Auseinandersetzung. Der Weg der Verbreitung der albanischen Schriften dürften über die diplomatischen Vertretungen (etwa Paris und Wien) den Weg in die BRD genommen haben. Zu verweisen wäre hier auch auf die „Geschichte der Partei der Arbeit Albaniens“, jenes vielgelesene Werk der K-Gruppen, das Enver Hoxha verklärte und laut Kurt Seliger (51) erst 1971 (mit knallrotem Einband) in deutscher Sprache erschien.

„Deutsch-Chinesische Freundschaftsgesellschaften“ sollen sich in der BRD, wenn von den ersten „Nachkriegs-Freundschaften“ (ab 1947, die allerdings nur ein rein wirtschaftliches Interesse gehabt haben dürften) einmal abgesehen wird, ab dem Ende 1965 (52) gebildet haben. Die ersten marxistisch-leninistisch orientierten sollen von Gerd Klotsch und Helmut Günther (Mannheim) gegründet worden sein. (53) Beide sollen, so die Datenbank MAO, später „in der maoistischen Bewegung tätig“ gewesen sein. (54) Weitere Gesellschaften entstanden erst mit dem stärkeren Aufkommen der maoistischen Bewegung ab 1969/70, wobei die wohl bekanntesten die der KPDML (ZK), der KPD, aber auch Parteiunabhängige gewesen sein dürften. Von „Deutsch Chinesischen Freundschaftswochen“ berichtet ein Flugblatt der Ortsgruppe Köln der KPD/ML vom Oktober 1969 (55), die aber kaum etwas mit den DCFG zu tun hatten.


Teil 2: Vom Blinkfüer zum Roten Morgen, von der Roten Garde zur Gründung der KPD/ML

Mit der ersten Ausgabe des „Roten Morgen“, die im Juli 1967 12-seitig illegal mit der „Erklärung der Marxisten-Leninisten der Kommunistischen Partei Deutschlands“ (1) erschien und zunächst (nur) in Norddeutschland und Nordrhein-Westfalen Verbreitung fand, gingen die Auseinandersetzungen um einen zukünftigen Kurs der Marxisten-Leninisten unvermindert weiter, und sie sollten auch in ihrer gesamten Geschichte an kein Ende stoßen.

Die erste Nummer des Roten Morgen (Nr. 1, Juli 1967)
Icon Die erste Nummer des Roten Morgen, Juli 1967

Eingangs erklärte der „Rote Morgen“ damals: „Genossinnen und Genossen! Ihr haltet die erste Ausgabe unserer Zeitschrift ‚Roter Morgen‘ in den Händen. Und wer schon jetzt, nachdem er unsere Erklärung, die Erklärung einer nicht unbedeutenden Gruppe Marxisten-Leninisten der Wasserkante, gelesen hat, erschreckt davon eilt, um das Blatt in den nächsten Ofen zu werfen, dem ist schwerlich zu helfen … Als Marxisten-Leninisten haben wir die Pflicht, jedes an uns herangetragene Problem gründlich zu analysieren, zu durchdenken, und dann unser Urteil zu fällen. Parteidisziplin heißt nicht in sklavischer Unterwürfigkeit eine vorgefertigte Meinung gedankenlos zu akzeptieren.

Ihr alle wisst oder fühlt es zutiefst, mit unserer Partei, der KPD, ist etwas nicht in Ordnung. Verkehrte Einschätzung der politischen Lage. Funktionäre belügen sich selbst, um in aufgebauschten Berichten ihre Existenzberechtigung gegenüber dem ZK nachzuweisen. Sozialdemokratismus und Kapitulantentum. Alte Genossen werden müde, junge Genossen verlassen nach kurzer Zeit unsere Reihen. Karrieremacherei, Korruption und Vetternwirtschaft. Kleinbürgerliches Denken. Und das ZK selbst? Hilflosigkeit und offener Verrat. Demokratischer Zentralismus? Haben wir nicht. Es wird halt von oben, vom ZK der KPdSU über die SED bis hinunter zur KPD befohlen, und der ‚dumme Prolet‘ hat gefälligst zu gehorchen, denn er kennt die höheren Zusammenhänge nicht …Was ist aus unserer ruhmreichen Kommunistischen Partei Deutschlands, der Partei Karl Liebknechts, Ernst Thälmanns geworden? ... Noch nie war der Zustand unserer Partei nach innen und außen so schlecht wie zur Zeit. Sektierertum und Dogmatismus hindern uns, uns auf breiter Basis mit den Massen zu verbinden …

Wir haben beschlossen, als erstes die Euch vorliegende Ausgabe unserer Zeitschrift herauszugeben und alle Genossen aufzurufen, innerhalb und außerhalb der Partei eine breite Diskussion an der ideologischen Front zur Entlarvung des Revisionismus und um die richtige politische Strategie und Taktik unserer Partei zu beginnen …“ (2)

Zunächst fiel auf, dass die „Erklärung“ von einer „nicht unbedeutende(n) Gruppe Marxisten-Leninisten der Wasserkante“ sprach, die für die erste Ausgabe verantwortlich zeichnete. Das entsprach eigentlich schon den undeutlichen und unpräzisen Hinweisen, die phantasmagorisch auf der 1. Pressekonferenz nach der Gründung der KPD/ML noch einmal ins Absurde gedreht worden waren; denn dort soll der 1. Vorsitzende der neugegründeten KPD/ML, Ernst Aust, von „1.000 Mitgliedern in 122 westdeutschen Orten“ (3) geredet haben.

Schon emphatisch wurde dazu aufgerufen, mit „einer breite(n) Diskussion an der ideologischen Front zur Entlarvung des Revisionismus“ zu beginnen. Damit schob sich der „Rote Morgen“ zugleich in die vorderste Front, um im kalten Übergang die Bruchstücke der verblichenen KPD mit der neuen KPD/ML zu einigen und in Verbindung zu bringen. Was hier bereits verteidigt wurde, war die groteske politische Fehleinschätzung und das eigene (welt-)revolutionäre Phantasma, etwas, was die KPD/ML in der Folgezeit als Stigma immer begleiten sollte.

Viele Rätsel soll es um die erste Nummer des „Roten Morgen“ gegeben haben. Die konspirativ erscheinende hektographierte Zeitung konnte nur auf der Grundlage der umfassenden Kaderunterlagen, die Aust aus seiner Zeit des „Blinkfüer“ (4) für die Küste (Hamburg) in Besitz hatte, an eine Reihe von Adressen verschickt worden sein. So ist die Verbreitung der ersten „Roten Morgen“ wohl am ehesten zu erklären.

Unbestritten ist, dass mit Ernst Aust und dem „Roten Morgen“ die eigentliche Ära des Maoismus in der BRD erst beginnen sollte. Ob es (s-)ein „Verdienst“ war, soll hier nicht bewertet werden; denn schließlich geht es bei einer solchen Geschichte in erster Linie darum, die Grundzüge einer Analyse der maoistischen Bewegung festzuschreiben, und nicht darum, irgendwelchen Personen aus dieser Zeit zu huldigen.

Dat Blinkfüer
Dat Blinkfüer, 1961

Wer war Ernst Aust? Ernst Aus entstammte bürgerlichen Verhältnissen. Er wurde am 12. April 1923 in Hamburg (Eimsbüttel) geboren. Nach dem Krieg geriet er als Fallschirmjäger 1944 in britische Gefangenschaft und soll sich dort wohl mit marxistischer Literatur beschäftigt haben. Nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft (1948) trat der gelernte Bankkaufmann in Hamburg dem „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung“ bei, wurde Mitglied der KPD und betreute einen Teil der FDJ kulturell. Er leitete als verantwortlicher Redakteur die Küstenzeitschrift der KPD „Dat Blinkfüer“ (ab 1953). Knut Mellenthin berichtete, dass er im November 1965 als „verantwortlicher Chefredakteur des 'Blinkfüer' abgesetzt“ worden sein soll, bis „Ende 1966 (aber) noch bei der Zeitschrift“ blieb. Schlomann/Friedlingstein spekulierten, dass er möglicherweise aus „überspitztem Ehrgeiz“ einen Kurswechsel vollzogen habe, was nicht nachgeprüft werden könne. (5) Die Autoren verweisen auch darauf, dass er 1963 wegen „Zuwiderhandlung gegen das KPD-Verbot eine (nie verbüßte) Gefängnisstrafe erhalten hatte“. (6)

Über die FSP/ML lernte Ernst Aust Günther Ackermann kennen, der nach heftigen Differenzen zu Werner Heuzeroth die FSP/ML (vgl. Zur Geschichte der KPD/ML-ZK, Teil 1) verließ und im „Roten Morgen“ wohl eine neue Heimat sah. 1968 soll es zu einem Zusammenschluss mit der FSP/ML gekommen sein, was aus dem „Roten Morgen“ vom April und September 1968 hervorgeht. (7)

Im Mai 1968 erklärte der „Rote Morgen“, dass die „bestehenden marxistisch-leninistischen Gruppen Roter Morgen (Hamburg), Freie Sozialistische Partei/ML (Siegerland), Roter Morgen (Mannheim), Roter Morgen (Karlsruhe) und die Revolutionären Kommunisten Nordrhein-Westfalens auf ihrer Tagung am 27. April beschlossen (haben), ihre Arbeit politisch und organisatorisch mit dem Ziel der Gründung einer deutschen revolutionären marxistisch-leninistischen Partei zu koordinieren - ihr Organ ist der Rote Morgen“, (8) obwohl Ernst Aust noch im Juli 1967 erklärte, dass wir „nach gründlicher Beratung zu dem Schluss kamen, dass ein solches Vorgehen (Gründung einer neuen ML-Partei, d. Vf.) zur Zeit unter den in Westdeutschland waltenden Umständen nicht zweckmäßig wäre“. (9)

Die so genannten „Leserversammlungen“ waren damals nicht zwangsläufig ein Koordinationsgremium. Hier trafen sich Hinz und Kunz um über alle möglichen politischen Fragen zu debattieren, allerdings auch über die Frage „Liga oder Partei“. Diese Frage schien so wichtig, dass das Zentralorgan ihr in seiner „Gründungsnummer“ vom Dezember 1968/Januar 1969 einen eigenen Artikel widmete: „Liga oder Partei?“. Was der „Rote Morgen“ im Mai 1968 verschwieg, formulierte im Frühjahr 1973 die „Ortsgruppe Essen der RF-Organisation“ in ihrer „Stellungnahme“ zum Gründungsakt so:

„Im April 1968 setzten sich zum ersten Mal Vertreter der Gruppen Hamburg, Mannheim, Karlsruhe sowie Vertreter der FSP/ML zusammen. Der Charakter dieses Treffens wurde klar von der FSP/ML bestimmt und nicht etwa vom ‚Roten Morgen‘. Eine ideologische Vereinheitlichung kam nicht zustande. Die FSP/ML drängte darauf, entweder sofort eine neue Partei zu gründen, oder alle Gruppen sollten in die FSP/ML eintreten. Aust schwenkte zu dieser Zeit immer mehr auf die Linie der FSP/ML ein. Er wollte unbedingt (s-)eine Partei gründen. Nicht im entferntesten hatte die Herausgabe des ‚Roten Morgen‘ organisatorische Auswirkungen. Die Tatsachen sind genau anders herum: Die Gruppe Roter Morgen (Hamburg) schloss den Herausgeber des RM aus.“ (10)

Es ist mir nicht bekannt, dass der „Rote Morgen“ die „Erklärung“ aus dem Mai 1968 kommentierte. Nun kann angenommen werden, dass die damaligen Fakten nicht ausreichend recherchiert worden waren und dass sie dazu dienten, die KPD/ML-ZK, die sowieso in Teilen der „Rebellionsbewegung NRW“ und anderswo nicht mehr als zwingende politische Alternative angesehen worden war, auch auf diesem Wege zu diskreditieren. Vergessen werden sollte nicht, dass ein solches Dokument wie die „Stellungnahme der RF-Organisation Essen“ zeitlich näher an der Gründung der KPD/ML war, und wenn auch, mit vielen Untertönen formuliert, durchaus glaubhaft erscheint.

Glaubhaft erscheinen indes auch die Aussagen von Knut Mellenthin, der im Gründungsprozess der KPD/ML involviert war, und mit dem KAB und dem SALZ Hamburg davon sprach, dass der „Anlass für die erste Nummer (gemeint war der „Rote Morgen“, d. Vf.) die Demonstrationen in der BRD gegen den Schah-Besuch im Juni 1967, bei denen es zu heftigen Straßenschlachten zwischen der Polizei und Demonstranten kam“, gewesen war. (11)

Wie viele „Leserversammlungen des „Roten Morgen“ bzw. Treffen der Gruppen es gegeben hat, ist nicht bekannt. Es darf davon ausgegangen werden, dass es mindestens 3 gab und mindestens eine zentrale Konferenz. Am 27. April 1968 fand laut „Roter Morgen“ ein Treffen „der Gruppen Roter Morgen Hamburg, Mannheim und Karlsruhe, der Freien Sozialistischen Partei/ML Siegerland und der Revolutionären Kommunisten NRWs statt, auf dem eine Koordinierung der Arbeit auf eine Parteigründung beschlossen wurde. Organ dieser Bestrebungen solle der 'Rote Morgen' sein“. (12)

Von diesem Treffen berichtete neben der Ortsgruppe Essen der RF-Organisation auch die „Geschichte der MLPD“. Nach ihr fand dieses Treffen in Niederschelderhütte (bei Siegen) statt. Vertreten waren auf dieser Versammlung u. a.: Hans Kolbe (Hamburg), G. Ackermann (Köln), W. Heuzeroth (Siegen), Helmut Günther (Mannheim) und Rainer Strähle (Mannheim).

Knut Mellenthin berichtete, dass „etwa 40 Delegierte anwesend waren, die ein Redaktionskollektiv unter Führung von Ernst Aust bildeten und eine gemeinsame Leitung wählten“. Im „Roten Morgen“ hieß es dazu u. a.: „Ein entscheidender Schritt ist getan. Die zur Zeit stärksten marxistisch-leninistischen Gruppen Westdeutschlands haben beschlossen, ihre Kraft zu vereinen und zur Offensive überzugehen … Der Anfang ist getan. Das heißt jedoch nicht, dass andere marxistisch-leninistische Gruppen aus anderen Ländern und Städten, die zur Zeit noch im organisatorischen Aufbau begriffen sind, sich unseren Bestrebungen nicht anschließen können. Im Gegenteil, sie sind uns jederzeit als gleichberechtigte Gruppen willkommen. Das einzige Kriterium, das wir stellen, ist, dass sie revolutionäre Marxisten-Leninisten sind. Dass sie sich vorbehaltslos zu den Lehren Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao Tse-tung bekennen.“

Roten Morgen, 2. Jg., September 1968
Icon Roter Morgen, September 1968

Programmatisch wurde erklärt: „Die Hauptgefahr ist nach wie vor - und das trifft besonders auf Deutschland zu - der Reformismus, der Revisionismus aller Schattierungen, der die sich formierenden Reihen der Marxisten-Leninisten bedroht … Die andere Gefahr, mit der wir es beim Aufbau unserer Organisation zu tun haben, ist die Erscheinung des linken Radikalismus … Beide Abweichungen, dem rechten wie linken Opportunismus ist eines gemeinsam: die direkte oder indirekte Ablehnung des Prinzips des demokratischen Zentralismus … Wie wichtig der schnelle Aufbau einer revolutionären marxistisch-leninistischen Kampfpartei ist, zeigen uns die derzeitigen Ereignisse in Frankreich, wo der Klassenkampf, der Kampf um die Macht in voller Stärke entbrannt ist … Ihr heldenhafter Kampf sei uns Verpflichtung. Verpflichtung in täglicher, unermüdlicher Kleinarbeit, das revolutionäre sozialistische Bewusstsein der Menschen zu heben. Verpflichtung, bereit zu sein, für die Kämpfe, die in den nächsten Jahren auch in Westdeutschland auf uns zukommen werden.“ (13)

Laut KFR wurde am 29. September 1968 „eine Erklärung eines Teils der Gruppen Roter Morgen Hamburg, Mannheim, Karlsruhe und Tübingen“ verfasst, die sich „nicht an der späteren Gründung der KPD/ML beteiligen“. Laut Knut Mellenthin und MLPD wurde von der GRM Hamburg zur Bildung einer ML-Liga aufgerufen, wobei sich später die anderen Gruppen anschließen.

Laut SALZ und KAB Hamburg entstand die Erklärung erst am 28.9.1968. In der „Erklärung“ bzw. dem „Rundschreiben“ hieß es: „Die Auf den Roten Morgen orientierten Gruppen sind weder organisatorisch noch ideologisch (dazu) in der Lage, eine Partei zu gründen. Beweis dafür ist einerseits die innere Zerrissenheit der Gruppen, andererseits die meist persönlich motivierten Machtkämpfe zwischen einzelnen Gruppen. Wir sehen darin einen klaren Ausdruck mangelnder politischer Reife. Würde dennoch eine Gründung vollzogen, so würde dadurch der Sache der Arbeiterklasse unabsehbarer Schaden zugefügt … Die Bildung einer marxistisch-leninistischen Partei, die diesen Namen auch verdient, kann nur das Ergebnis eines langen Prozesses sein. Die Gründung muss genau zu dem Zeitpunkt vollzogen werden, wenn alle subjektiven und objektiven Bedingungen dafür herangereift sind, und nicht schon in einem Moment, der aus irgendwelchen anderen Gründen opportun erscheinen mag.“

Laut SALZ und KAB Hamburg schlug die Gruppe auch vor, die Diskussion um eine Reorganisierung der westdeutschen Marxisten-Leninisten zu eröffnen. Eine programmatische Erklärung zur Bildung einer marxistisch-leninistischen Liga wird gefordert. (14)

Hier wurde bereits sehr deutlich, dass es die Einheit der Marxisten-Leninisten nicht gab und dass alles seltsam durcheinander gemischt war. Das klingt zwar nach den bisherigen Erkenntnissen banal, ist es aber auch: Die Vorstufe der Gründung war so banal, dass man es nicht oft genug wiederholen kann. Es ging ja nicht (nur) um innere Zerwürfnisse, sondern um den Zerfall des ideologischen Scheins. Die Verführungskünste des Kreises um die Gründer der KPD/ML reichten nun mal nicht, und die Gründung zwang den Gründern das Bleigewicht der Reflexion auf. Es scheint sich der Eindruck zu erhärten, dass die Spruchbänder des „Roten Morgen“ wie aus einer chinesischen Wandzeitung kamen - ein Monstrum, dessen Grenzen 1967/68 bereits längst überschritten waren. Der Zugzwang zur Parteigründung war kaum noch aufzuhalten, und das mag diese gesamte Kulissenwelt zusammengehalten haben. Die Rivalitäten wurden zur Nebensache, und das Getöse wurde zur Lösung.

Interessant war nun, dass mit den „Leserversammlungen“ das Gerücht auftauchte, dass sich der „Rote Morgen“ auf  „21 Zirkel stützte“, die an der Gründung der KPD/ML beteiligt gewesen sein sollen. (15) Das kann so nicht bestätigt werden. Es gab eine Reihe von Zirkeln wie etwa den „Initiativausschuss zur Gründung (manchmal auch Bildung) einer marxistischen Liga für Westdeutschland und Westberlin“, die wie andere, die Gründung ablehnten. Trotzdem hielt sich bis weit in die 1970er Jahre hinein das Gerücht, dass der „Rote Morgen“ bei seiner Gründung (16) alle „relevanten Zirkel in der BRD vereinigt“ habe.

Interview mit Ernst Aust in der Frankfurter Rundschau vom 27.9.1968
Icon Interview mit Aust in der FR [M]

In diesem Zusammenhang sollte das Interview von Ernst Aust mit der „Frankfurter Rundschau“ vom 27. September 1968 erwähnt werden. Unter der Überschrift „Maos Mann in Hamburg ist mit seiner Partei noch nicht soweit“. „Während sich in Frankfurt a. M. eine kommunistische Partei neu konstituiert hat (gemeint war die DKP, die sich am 25. September 1968 gründete, d. Vf.), bemüht sich in Hamburg ein Mann um die Gründung einer ‚revolutionären marxistisch-leninistischen Partei‘ nach dem Vorbild der KP Chinas. Ernst Aust, ehemaliges KPD-Mitglied und früherer Chefredakteur der extrem linken Wochenzeitung ‚Blinkfüer‘, sieht die Ideen des Marxismus-Leninismus in den kommunistischen Parteien der UdSSR wie der DDR oder in der Bundesrepublik durch ‚Revisionismus‘ gefährdet und versucht Parteigänger des chinesischen Weges um sich zu scharen. Sein Sprachrohr: Die Monatszeitschrift ‚Roter Morgen‘. Ernst Aust beantwortete der ‚Frankfurter Rundschau‘ einige Fragen.

FR: Heute wurde in Frankfurt/M. eine kommunistische Partei gegründet. Aust: So. Frage: Werden sie mit einer Partei nachziehen? Aust: Unser Ziel ist, eine Partei zu gründen. Wie weit das Ziel gediehen ist, kann man noch nicht sagen. Frage: Das müsste man doch voraussehen können, besonders wenn sie demnächst nachziehen wollen. Aust: In diesem Jahr bestimmt, da können Sie ganz sicher sein. Frage: Haben sie schon konkrete Pläne? Wissen Sie, wie das Parteiprogramm aussehen wird? Wer mitarbeiten wird? Aust: Nein, da kann ich noch nichts sagen. Frage: Können Sie mir schon einige Namen von Mitbeteiligten nennen? Aust: Mich unterstützen 21 Gruppen. Frage: Die mehr oder weniger von Ihnen betreut werden? Aust: Nein, wir haben ein Zentralorgan, das treibende Organ ist der ‚Rote Morgen‘, darauf haben wir uns geeinigt. Die Gruppen treffen aber ihre Entscheidungen selbständig. Frage: Da sie ja der Kopf vom ‚Roten Morgen‘ sind, dürfte man sich doch wohl nach ihnen richten? Aust: Ja, aber wir besprechen uns ja. Natürlich habe ich Einfluss. Im Falle einer Äußerung zu zukünftigen Fragen und Aktionen muss ich mich jedoch erst absprechen, das kann ich nicht allein entscheiden. Unser Parteiprogramm, so viel kann ich schon sagen, wird auf marxistisch-leninistischer Grundlage basieren. Frage: Es gibt Stimmen, die behaupten, sie würden von China finanziert, würden aber nicht den rot-chinesischen Kurs einschlagen. Aust: Wir werden nicht von China finanziert …“ (17)

Das Interview mit der „Frankfurter Rundschau“ bestätigte einmal mehr die überraschende Nähe zur Gründung, die zunächst noch in weite Ferne gerückt worden war. Auch wenn die Antworten auf die Fragen der „FR“ relativ allgemein gehalten waren, so wurde auch deutlich, dass Aust der Krösus nicht nur des „Roten Morgen“, sondern auch der KPD/ML sein würde. Die Aust-Gruppe konnte sich in dieser Zeit im Prinzip nur auf Kader der Antiautoritären Studentenbewegung stützten, die wenigen „proletarisierten“ Kräfte, darunter sicherlich einige Altkader (wie etwa Hans Kolbe), verließen später schnell wieder die Organisation. Das sollte später für Dickhut ein gefundenes Fressen werden, hieß doch die dritte Ausgabe des „Revolutionären Weges“: „Antiautoritarismus und Arbeiterbewegung“. Und im September 1969 sollte eine Untersuchung der sozialen Zusammensetzung der KPD/ML, die die „kleinbürgerliche Überwucherung“ bestätigen, die in die „Septemberbeschlüsse“ einmündete, jenem Popanz, der eigentlich niemals etwas anderes war als eine reine Fraktionierungsdebatte.

In den Versammlungen traten Selbstdarsteller auf, Einzeldarsteller, die nicht Vertreter von relevanten Strömungen der Linken (etwa der KPD) waren und eigentlich nur von Crux beherrscht waren, sich mit der „internationalen kommunistischen und Arbeiterbewegung“ solidarisch zu erklären, zu betiteln und sich in deren „Tradition“ zu stellen, was das auch geheißen haben mag. Das erklärt auch, warum eigentlich keine Debatte über die „Entartung“ (allgemeinhin Revisionismus) der KPD, weder in der Phase 1965 bis 1967 noch 1967 bis 1969, geführt worden war. Die späteren Dokumente des „Kampfes gegen den Revisionismus“ (18) waren daher allenfalls als ein symbolischer Akt zu verstehen, um der anderen „legitimen Nachfolgerin der KPD“, der DKP nämlich, das Rekrutierungsfeld streitig zu machen, was den „Säulen“ der maoistischen Bewegung nicht gelingen sollte.

Am 26. Oktober 1968 fand in Köln eine „Konferenz der auf den Roten Morgen orientierten Gruppen“ statt. Dazu liegen verschiedene Berichte vor: Laut SALZ und KAB Hamburg waren u. a. neben Ernst Aust auch die FSP/ML und Personen aus Kiel und Berlin beteiligt, nicht aber, laut Knut Mellenthin, die Gruppen Roter Morgen (GRM) Hamburg, Mannheim und Karlsruhe. Ein vorläufiger Vorstand zur Gründung der KPD/ML konstituierte sich, laut Mellenthin allerdings nur gegen den Widerstand einer starken Minderheit.

Laut der „Stellungnahme der RF-Organisation Essen“ war es so: „In Köln … berief der (ausgeschlossene) Ernst Aust am 26. Oktober 68 eine Konferenz ein, die sich zum vorläufigen Vorstand der sich neu konstituierenden KPD/ML bestimmte. Diesen ersten Spaltungsakt machten die Mannheimer, die Hamburger und die Tübinger … nicht mit. Sie schlossen sich dem 'Rebell' an.“

Roter Morgen, Okt./Nov. 1968
Icon Roter Morgen, Okt./Nov. 1968

Ernst Aust wurde beauftragt, den Vorsitz des Vorstandes zu übernehmen. U a. legte Ernst Aust den später im 'Roten Morgen' veröffentlichten „Gründungsaufruf“ vor. Darin hieß es unter der Überschrift „Arbeiter, Bauern, Studenten, vereinigt Euch. Der Feind steht im Land.“ u. a.: „Alle, die Ihr sonst nichts besitzt, als Eure körperliche oder geistige Arbeitskraft, die Ihr Tag für Tag an die Kapitalisten verkaufen müsst, vereinigt Euch zur Gründung einer marxistisch-leninistischen Partei! Einer Partei, die allein in der Lage ist, Eure Interessen zu vertreten und imstande, die Arbeiterklasse, die werktätigen Massen des Volkes, zum Sieg über seine Unterdrücker zu führen. Der Feind steht im Land. Es ist der räuberische US-Imperialismus, dieser Hauptfeind aller Völker, die westdeutsche Monopolbourgeoisie und die ihr hörige Bundesregierung, die als treuer Vasall den US-Monopolen Tür und Tor öffnet und sklavisch den Befehlen aus Washington folgt. Es ist die sowjetrevisionistische Verräterclique, die das Erbe Lenins verriet, die große Sowjetunion auf den Weg des Kapitalismus zurückführte und die ihr willfährige Ulbrichtgruppe, die die revolutionäre Tradition der deutschen Arbeiterklasse verriet. Beide, die westdeutsche Monopolbourgeoisie und die in Ostdeutschland herrschenden Kreise, verraten die sozialen und nationalen Interessen des deutschen Volkes und haben die Wiedervereinigung unserer Heimat dem Streben des US-Imperialismus und des Sozialimperialismus der Sowjetunion nach Aufteilung der Welt in Interessensphären und gemeinsamer Weltherrschaft, zum Opfer gebracht. Was unterscheidet die Herrschenden in Ost und West denn noch voneinander? ... Es unterscheidet sie nichts, nur dass die einen am Ende des 'heißen' Drahtes ihrer Geheimabsprachen in Washington, die anderen im Kreml sitzen, dass die neuen Ausbeuter im Osten noch nicht ganz die Gewinne der im Westen erreichen, dass die US-Imperialisten ihre Aggressionen im Namen der 'westlichen Freiheit' führen, während die Sowjetrevisionisten vorgeben, im Sinne des Marxismus-Leninismus zu handeln … Ist es nicht höchste Zeit, dieser verfaulenden spätkapitalistischen Gesellschaft den Todesstoß zu versetzen?

Die internationale Lage ist ausgezeichnet für das Proletariat und die um ihre Befreiung vom Kolonialismus und Neokolonialismus kämpfenden Völker der Welt … Selbst Europa wurde im Frühjahr 1968 in seinen kapitalistischen Hochburgen, vor allem in Frankreich, von den Flammen revolutionärer Kämpfe erfasst … In ihrer Not hat sie als letzten Hilfstrupp im Lager der Arbeiterklasse die revisionistische Deutsche Kommunistische Partei (DKP) zugelassen. Was sich in Frankreich bewährte, der Verrat der KPF, die sich als Retter der französischen Monopolbourgeoisie anbot, soll sich auch in Westdeutschland bewähren. Die DKP, obwohl ihr noch viele aufrechte Kommunisten angehören, spielt heute die Rolle, die früher der SPD zufiel … Zerschlagen wir gemeinsam das Komplott des US-Imperialismus mit den sowjetischen Revisionisten und ihren Handlangern auf deutschem Boden. Ausgehend von den Bestimmungen des Potsdamer Abkommens, das Deutschland als wirtschaftliche und politische Einheit vorsieht, erkennen wir keine der durch die Politik der Westmächte geschaffenen Realitäten (zwei deutsche Staaten auf deutschem Boden) an.

Weder die Bonner Regierung noch die Ostberliner Volkskammer haben das Recht, im Namen des deutschen Volkes zu sprechen. Wir verlangen Annullierung aller von Ost- und Westdeutschland seit 1949 getroffenen staatlichen Vereinbarungen, vor allem Austritt Westdeutschlands aus der NATO und Ostdeutschlands aus dem Warschauer Pakt. Wir fordern den umgehenden Abzug aller fremden in Deutschland stationierten Truppen und werden unverzüglich den Kampf aufnehmen, um den Abzug dieser Verbände zu erreichen. Für uns gibt es nur einen Ausweg: Der Sozialismus … Wir deutschen Marxisten-Leninisten, die wir die Volksrepublik Deutschland anstreben, werden uns eng mit den 700 Millionen Volkschinas, dem tapferen albanischen Volk, den Marxisten-Leninisten und revolutionären Volksmassen aller Länder verbünden zu einer Macht, an der sich Imperialisten, Revisionisten und Reaktionäre aller Schattierungen die Zähne ausbeißen werden, einer Kraft, die das Ende des Weltimperialismus rasant beschleunigen wird.“

Der Aufruf war unterzeichnet mit: „Es lebe die Kommunistische Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten, die KPD (ML).“ (19)

Bis auf einige Veränderungen tauchte dieses Dokument dann als „Gründungsaufruf“ oder „Erklärung zur Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten (KPD/ML)“ im „Roten Morgen“ vom Dezember 1968/Januar 1969 auf. (20)

Wenige Tage später oder früher, was sich nicht mehr einwandfrei recherchieren lässt, soll die „Initiative der Gruppe Hamburg“ bezüglich dieser Konferenz von „einem gesteuerten Zersetzungsakt des modernen Revisionismus“ gesprochen haben. (21) Auch sonst waren diese zentralen Versammlungen wohl nichts anderes als die berühmte Spreu-Trennung vom Weizen. Neben der Frage „Liga oder Partei?“ soll die Hamburger Gruppe auch eine „programmatische Erklärung“ gefordert haben, die als „Grundlage vorhanden sein müsse“. (22)

„Die Mannheimer Gruppe stimmte dieser Auffassung … zu, ebenfalls die Gruppe in Karlsruhe und die Tübinger Gruppe … Sie schlossen sich dem ‚Rebell‘ an, der die Gründung ebenfalls als verfrüht und falsch ansah.“ (23)

So schlidderte der schon dezimierte „Rote Morgen“ auf seine dritte Versammlung (am 26. Oktober) zur Gründung der KPD/ML zu. Wo sie stattfand ist nicht bekannt. Auch gab es unterschiedliche Deutungen darüber, was aus den „abtrünnig“ gewordenen Gruppen Mannheim und Karlsruhe geworden war, wobei die Tübinger-Gruppe gar nicht mehr Gegenstand der Debatte war. Darüber berichtete nur die OG-Essen der RF-Organisation.

Laut KFR waren die Mannheimer sowie die Karlsruher Gruppen Roter Morgen hier nicht mehr erschienen. Laut Knut Mellenthin soll es Ernst Aust gelungen sein, „die Mehrheit der Mannheimer und Karlsruher Gruppe für die KPD/ML zu gewinnen“. Die MLPD meinte, dass die Hamburger Gruppe um Hans Kolbe, Knut Mellenthin und Peter Rosenberg nicht mehr erschienen, Differenzen gab es ebenfalls mit der Mannheimer Gruppe und Teilen der FSP/ML. (24)

Zur Vorbereitung der Gründung soll am 7. Dezember 1968 eine „zweitägige Konferenz in Hamburg“ stattgefunden haben. Daran schloss sich am 31. Dezember 1968 der Gründungsparteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten (KPD/ML) im Lokal Ellerneck in Hamburg an. Gründungsmitglieder waren u. a. Ernst Aust, Gerd Flatow, G. Ackermann, Ezra Gerhardt, Klaus Schaldach, insgesamt waren es 33 ordentliche und Gastdelegierte aus der ganzen BRD und Westberlin. Ernst Aust wurde 1. Vorsitzender der KPD/ML. Klaus Schaldach soll, laut OG Essen der RF-Organisation, Leiter der ZKK geworden sein. (25)

Gründungsdokumente: Grundsatzerklärung und Statut
Gründungsdokumente

Von der KPD/ML wurde zu ihrer Gründung u. a. bemerkt: „Am 31. Dezember 1968 konstituierte sich in Hamburg am 50. Jahrestag der Gründung der KPD durch Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg die Kommunistische Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten. Angesichts der revisionistischen und unterwürfigen Politik der DKP/KPD gegenüber der Monopolbourgeoisie hatten sich überall in Deutschland die bewussten revolutionären Kräfte der Arbeiterschaft und der Intelligenz zusammengefunden, um getreu der Lehre von Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao Tse-tung den revolutionären Befreiungskampf des Proletariats fortzusetzen, den die Revisionisten in Ost und West verraten haben. Sie waren sich bewusst, dass nur eine konsequente revolutionäre Partei den monopolkapitalistischen Staatsapparat zerschlagen und dessen reformistischen und revisionistischen Handlangern Einhalt gebieten kann. 33 Delegierte aus allen Teilen Westdeutschlands und Westberlin berieten auf dem Gründungsparteitag über die nach Diskussion in den einzelnen Gruppen vorgelegten Papiere: Erklärung zur Gründung der KPD/ML, Statut und Richtlinien für die einzelnen Kommissionen. Nach lebhafter Aussprache wurden die Entwürfe geringfügig geändert angenommen. Im Anschluss daran wählte der Parteitag die einzelnen Organe der Partei. Die KPD/ML, legitime Nachfolgerin der revolutionären Partei Karl Liebknechts, Rosa Luxemburgs und Ernst Thälmanns, war damit gegründet.“

Grußadressen wurden an die KP China und die PdA Albanien gerichtet.

In der „Erklärung zur Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten (KPD/ML)“ bzw. der „Grundsatzerklärung“ (GSE) der KPD/ML wurde u. a. ausgeführt: „Wie die Geschichte der Menschheit zeigt, führten stets die hart vor ihrem Untergang stehenden reaktionären Kräfte einen letzten Verzweiflungskampf gegen die revolutionären Kräfte, und es ließen sich wiederholt manche Revolutionäre eine Zeitlang dadurch irreführen, dass der innerlich Schwache äußerlich stark erscheint, und sie erkannten nicht das Wesen der Sache, dass nämlich der Feind seiner Vernichtung, sie selbst aber ihrem Triumpf entgegengingen.' (Mao Tse-tung).

Das internationale Proletariat und die internationalen revolutionären Kräfte stehen heute im Kampf gegen zwei Hauptfeinde: Den US-Imperialismus und den Sowjetrevisionismus. Beide haben die Welt zur Unterdrückung und Ausbeutung der Völker in Einflusssphären aufgeteilt. Zur Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeit der Völker bedienen sie sich rücksichtslos ihrer gewaltigen Militärapparate. Die einen reden von 'Freiheit' und 'Demokratie', die anderen missbrauchen das Wort Sozialismus zur Tarnung ihrer imperialistischen Ziele. Trotz dieses imperialistischen Komplotts greifen die revolutionären Befreiungsbewegungen der Völker immer mehr um sich und versetzen den reaktionären Kräften in der Welt ständig härtere Schläge. Die revolutionären Erhebungen der für ihre Befreiung kämpfenden Volksmassen zwingen den US-Imperialismus, seinen Militär- und Polizeiapparat ständig zu verstärken, um diese Bewegung auch im eigenen Land zu unterdrücken. Es zeigt sich immer deutlicher sein offen faschistischer Charakter.

Zur gleichen Zeit verstärken sich die Widersprüche auch im revisionistischen Lager. Die sowjetrevisionistische Führungsclique (der SU, d.Vf.) hat unter der Maske der Kritik an Stalin die Diktatur des Proletariats direkt angegriffen und sie in die Diktatur einer sich neu entwickelnden Bourgeoisie verwandelt. In ihren Beziehungen zu anderen Ländern unterscheidet sie sich nicht wesentlich von den USA-Imperialisten. Sie restauriert in der Sowjetunion offen den Kapitalismus und verstärkt ebenfalls ihren Militär- und Polizeiapparat, um ihre Vorherrschaft über die anderen Länder zu erhalten und die eigenen Volksmassen zu unterdrücken. Sie hat den proletarischen Internationalismus zugunsten des Großmachtchauvinismus verraten; sie hat das sozialistische in ein neokapitalistisches System verwandelt; damit offenbart sie immer deutlicher ihr sozialimperialistisches und sozialfaschistisches Gesicht. Durch den Verrat der revisionistischen Führungsclique am Marxismus-Leninismus haben die Sowjetunion und die KPdSU ihren Führungsanspruch innerhalb der proletarischen Weltbewegung verloren.

Im Gegensatz dazu hat die Kommunistische Partei Chinas unter Führung ihres Vorsitzenden Mao Tse-tung konsequent die Lehre von Marx, Engels, Lenin, Stalin schöpferisch angewandt und gegen alle Angriffe verteidigt. Genosse Mao Tse-tung hat die historischen Erfahrungen der Diktatur des Proletariats zusammengefasst, den Marxismus-Leninismus weiterentwickelt und ihn dadurch auf eine höhere Stufe gehoben. Die Große Proletarische Kulturrevolution unter der direkten Führung des Genossen Mao Tse-tung ist die konsequente Fortsetzung des Klassenkampfes unter den Bedingungen der Diktatur des Proletariats im Kampf gegen die bürgerlich-revisionistische Linie.

Die Lehre Mao Tse-tungs stellt daher den Marxismus-Leninismus in der Epoche des endgültigen Untergangs des Imperialismus dar. Sie ist die stärkste Waffe des internationalen Proletariats und der unterdrückten Völker in der ganzen Welt in ihrem gerechten Kampf gegen Imperialismus und Revisionismus. Sie versetzt die Völker der ganzen Welt in die Lage, ihren Kampf zu entwickeln, auszuweiten und siegreich zu führen. Die nationale Lage Deutschlands ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein getreues Abbild der Weltlage. Während der westliche Teil Deutschlands zum Einflussgebiet des US-Imperialismus gehört, gehört der östliche Teil zum Einflussgebiet des sowjetischen Sozialimperialismus. Die herrschende Klasse in Westdeutschland verschärft mehr und mehr ihren Terror gegen das Volk. Notstandsgesetze (NSG, d.Vf.), Einsatz von Schusswaffen und Tränengas gegen Demonstranten sowie Schutzhaftbestimmungen sind die Mittel, mit denen die herrschende Klasse ihre angeschlagene Stellung zu retten versucht. Während die Bourgeoisie ihre Profite ständig steigert, halten die Lohnerhöhungen für die Arbeiterklasse nicht einmal mit den Preis- und Mieterhöhungen Schritt. Die der Bourgeoisie hörige Führung der Gewerkschaften fordert die Arbeiterklasse zur 'Mitbestimmung' an der Profitsteigerung der Monopolbourgeoisie auf, um die Arbeiterklasse von ihren Klasseninteressen abzulenken, die Klassengegensätze zu verschleiern und den Klassenkampf abzuwürgen.

Flugblatt der Marxisten_Leninisten Westberlin vom 1. September 1968: Zur Aggression der sowjetischen Truppen in der CSSR
Icon Flugblatt der Marxisten-Leninisten Westberlins (1968)

In der DDR, auf die sich zum Zeitpunkt ihrer Gründung die hoffnungsvollen Blicke des westdeutschen und internationalen Proletariats richteten, ist durch die Führungsclique der SED die Weiterführung des Klassenkampfes verhindert worden. Sie hat versäumt, die alte Bourgeoisie restlos zu zerschlagen und hat es zugelassen, dass sich eine neue Bourgeoisie etabliert: Statt Klassenkampf Ökonomismus. Statt ideologischer Revolutionierung der Massen Bürokratismus und Förderung bürgerlichen Denkens. Darüber hinaus hat sie die nationalen Interessen der deutschen Arbeiterklasse in zunehmendem Masse an die sowjetischen Sozialimperialisten verkauft und schreckt nicht davor zurück, sich an deren militärischen Abenteuern zu beteiligen. Beide, die westdeutsche Monopolbourgeoisie und die in Ostdeutschland herrschenden Kreise, verraten die sozialen und nationalen Interessen des deutschen Volkes. Sie haben sie dem Streben des USA-Imperialismus und Sozialimperialismus der sowjetischen Führungsclique nach Weltherrschaft zum Opfer gebracht. Weder die Bonner noch die Ostberliner Regierung haben das Recht, im Namen des deutschen Volkes zu sprechen.

Deshalb ist die proletarische Revolution in ganz Deutschland eine objektive Notwendigkeit. Nach 1945 formierte sich die KPD auch in Westdeutschland als revolutionäre Vorhut der Arbeiterklasse mit dem Ziel eines einheitlichen sozialistischen Deutschlands. Nach Gründung der SED in Ostdeutschland entstand die Arbeitsgemeinschaft SED-KPD. Die im Ansatz positive Zusammenarbeit wurde später in ihr Gegenteil verkehrt, als die bürokratischen Methoden der SED auch auf die KPD übertragen wurden und die innerparteiliche Demokratie zerstörten. Die personelle und materielle Abhängigkeit des KPD-Apparates von der SED führte dazu, dass die KPD sich in gleicher Weise wie die SED auf einen revisionistischen Kurs begab. Statt die revolutionäre Tradition der KPD weiterzuführen und den Revisionismus der SED-Führungsclique zu verurteilen, machte sich die KPD-Führung diese Linie zu Eigen. Damit verlor die KPD die Berechtigung, als Vertreterin der deutschen Arbeiterklasse aufzutreten. Dieser Verrat zeigte sich in noch stärkerem Maße in der Gründung der DKP. Zum ersten Mal in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung hat eine Partei, die sich kommunistisch nennt, ihre Gründung der Absprache und Zusammenarbeit mit dem reaktionären bürgerlichen System zu verdanken.

Ohne die Führung durch eine revolutionäre Partei, die gemäß der revolutionären Theorie und dem revolutionären Stil des Marxismus-Leninismus aufgebaut ist, ist es unmöglich, die Arbeiterklasse und die breiten Volksmassen zum Sieg über den Imperialismus und seine Lakaien zu führen. Deshalb wurde die Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten eine objektive Notwendigkeit. Die KPD/ML steht fest auf dem Boden der revolutionären Theorie von Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao Tse-tung. Die KPD/ML ist die Avantgarde des Proletariats, die die Theorie mit der Praxis verbindet, enge Verbindung mit den Volksmassen aufrechterhält und den Geist der ernsten Selbstkritik hat. Die KPD/ML wird gemäß diesen Prinzipien das Klassenbewusstsein der deutschen Arbeiterklasse stärken und sie gegen ihre Ausbeuter und Unterdrücker zum Sieg führen. Die KPD/ML weiß, dass die herrschende Klasse ihre Machtpositionen nicht widerstandslos räumt. Sie zu zerbrechen kann nicht über das Parlament geschehen, sondern nur durch den revolutionären Akt der Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates und die Errichtung der proletarischen Diktatur, der Herrschaft der großen Mehrheit des Volkes.

Die KPD/ML ist sich im Klaren darüber, dass der Weg der Errichtung der Diktatur des Proletariats in ganz Deutschland lang, voller Schwierigkeiten und harter Kämpfe sein wird. Dieser Kampf wird von jedem einzelnen Genossen höchsten Einsatz, Mut und Opferbereitschaft erfordern. Wir können und werden diesen Kampf nur gewinnen, wenn wir uns eng mit den Massen verbinden und festes Vertrauen zu ihnen haben, von ihnen lernen und sie mit der scharfen Waffe der marxistisch-leninistischen Theorie wappnen. Gestützt auf die von uns selbst organisierten Kräfte können wir alle deutschen und ausländischen Reaktionäre in unserem Land besiegen. Kämpfen wir für ein einheitliches sozialistisches Deutschland! Kämpfen wir für die Stärkung der KPD/ML.“

Laut OG Essen der RF-O ging eine „Parteigründung über die Bühne, die nicht im entferntesten aus dem ideologischen Kampf … mit der alten Organisation resultierte.“ Die Gruppe berichtete auch: „Ezra Gerhard wurde von Aust nur deshalb ins ZK geholt, weil er noch vor der 'Gründung' in Westberlin eine Rote Garde (RG, d. Vf.) mit ca. 250 Mann aufgebaut hatte.“ Laut KPD/ML-ZB ist Gerhard als Vertreter der Roten Garde-MLJO Westberlin an der Gründung beteiligt.

Laut MLPD schloss sich auf dem Gründungsparteitag der KPD/ML in Hamburg die Rote Garde (RG) MLJO Westberlin als Jugendorganisation der neugegründeten KPD/ML an. Wahrscheinlich wurde bereits auf dem Gründungsparteitag, spätestens jedoch einige Wochen später, Ezra Gerhard (Westberlin), Jugendbeauftragter des ZK der KPD/ML. (26)

Nach Manfred Rowold besaß die KPD/ML „in ihrer Gründungsphase 1.000 Mitglieder in 122 westdeutschen Orten, dagegen nennen andere Quellen eine Zahl von nur 100 Mitgliedern“ … Obwohl sie einen Ergebenheitsbrief an das ZK der KP Chinas richtete und neben Stalin vor allem Mao Tse-tung als ‚größten Marxisten-Leninisten’ unserer Zeit sowie die ‚unbesiegbaren Maotsetungideen als ‚Marxismus-Leninismus unserer Epoche‘ rühmt, wurde die Partei bisher von Peking ignoriert. (27)

Wie viele Mitglieder die KPD/ML zu Zeiten ihrer Gründung tatsächlich hatte, ist tatsächlich äußert umstritten. Die hier vorgelegten Berichte geben einen Einblick in die divergierenden Zahlen. Schlomann/Friedlingstein meinten: „Die Mitgliederstärke betrug tatsächlich nur etwa 100 und dürfte sich auch seitdem (bis ca. Ende 1970, d. Vf.) nicht wesentlich verändert haben, da zwar etliche Anhänger der Partei beitraten, manche aber auch schnell wieder abfielen.“ (28)

Zusammenfassend meinte die Ortsgruppe Essen der RF-Organisation: „Der Popanz ‚Parteigründung‘ legte den Grundstein  für die weitere Entwicklung der KPD/ML … Ohne dass man sich kaum kannte, wurde das 1. ZK gewählt. Am 31.1.1969 log Aust sich in einer Pressekonferenz ‚1.000 Mitglieder in 22 westdeutschen Orten‘ zusammen. Im November 1969 hieß es mit Größenwahn in einer Grußbotschaft an das ZK der KP Chinas: ‚So waren die deutschen Revolutionäre gezwungen, eine neue revolutionäre Partei zu gründen, die KPD/ML nämlich, ‚Deutschlands revolutionäre Vorhut‘ … Als Ostern 1969 eine ZK-Delegation nach Wien reist, um dort mit den albanischen Genossen zu sprechen, log Klaus Schaldach auf die Frage der Albaner, wie viel Mitglieder die KPD/ML denn habe, ‚500 - 550‘ … Die Mitarbeit in der Organisation wurde ‚angeboten‘. Jeder, der auch nur in Worten den ML propagierte, wurde aufgenommen … Vetternwirtschaft und Gefolgschaftswesen herrschten vor … G. Ackermann, der sich aus rein karrieristischen Antrieben mit Aust zusammenschloss, kam, ohne irgendwelche Voraussetzungen mit sich zu bringen, ebenfalls ins ZK. (29)

Bereinigt man alle Unebenheiten, so bleibt von der Vorgeschichte bis zur Gründung der KPD/ML nicht viel über. Beide, die FSP/ML und die KPD/ML, standen sich mit manifesten „ideologischen“ Unklarheiten gegenüber. Die Parteien gingen nie über ein Provinzdasein hinaus. Sozialer und familiärer Knatsch legte einen diffusen Mantel aus bloßen Mitgliedern und Szene über die zu gründende Organisation. Wie die FSP/ML, so war auch die KPD/ML zu Zeiten ihrer Gründung keine Organisationskraft. Die OG-Essen der RF-Organisation meinte, dass die KPD/ML bis weit nach ihrer Gründung „noch nicht einmal ein paar Betriebszeitungen“ (30) hatte. Dem kann ich nach dem bisherigen Stand der Dinge nur beipflichten. Auch Rowold nannte nur Betriebszeitungen bzw. Gruppen in „Göttingen, Worms, Karlsruhe, Mannheim, Hannover (Linden), Düsseldorf, Tübingen, Offenburg, Augsburg, Hamburg, Bremen und Freiburg“. (31)

Von einer Kaderorganisation konnte man bei beiden Gruppen nicht sprechen. Statischer Bürokratismus wäre sicherlich noch untertrieben. Die stalinistische Underdogpartei, KPD/ML, zog um ihr Gebilde eine Art Künstlichkeit, die mit Märchen über den Organisationsgrad und -zustand angehäuft war. Der veränderte politische Realität zum Ende der 1960er Jahre stellte sie nur ihr starres Schema von revolutionsartigen Szenarien entgegen. Insofern war der zusammen gewürfelte Haufen bei der Gründung der KPD/ML in sich schon zur organisierten Auflösung bereit. Wenn daran gedacht wird, dass fast genau 2 Jahre später die Organisation in alle Winde zerstob, dann wird deutlich, wie weit die unterschwelligen Differenzen 1969 bereits schon gediehen waren.

Das Vorpreschen von Ernst Aust, nach einer „Ja-Nein“ Debatte im Vorfeld der Gründung, kann nur als komplette Düpierung all derjenigen, die ernsthaftes politisches Interesse anmeldeten, bezeichnet werden. Man bekommt nach dem Studium der Dokumente wirklich den Eindruck, dass er mit Faustformeln wie „Kampf dem Revisionismus“ und die „Arbeiterklasse und die breiten Volksmassen zum Sieg über den Imperialismus und seine Lakaien zu führen“ hantierte, um einem möglichen Missmut gegenüber der Gründung der KPD/ML zuvorzukommen. Auch wenn natürlich Aust nicht der alleinige Urheber der Gründung war, so war er doch (siehe z. B. Interview mit der „Frankfurter Rundschau“), überspitzt formuliert, „der Mann Pekings in Hamburg“.

Artikel aus der Welt vom 3.1.1969: Kommunisten kritisieren neue Mao_Partei
Icon Die Welt zur KPD/ML-Gründung (3.1.1969)

Über die zerstrittenen maoistischen Gruppen von 1967 bis 1969 liegt ein uneinheitliches Bild vor. Vieles ist nicht mehr bekannt. Und es bedarf großer Mühen, selbst die kleinsten Details zu recherchieren. Der „Hamburger Initiativausschuss zur Bildung einer marxistisch-leninistischen Liga für Westdeutschland und Westberlin“ sah in der KPD/ML-Gründung ein „völlig verfrühtes Verfahren“. In „Die Welt“ vom 3. Januar 1969 wurde dazu ausgeführt: „Kommunisten kritisieren neue Mao-Partei. Wieder Spaltung im Lager der Linken - Protest auch von Peking Anhängern: In der Bundesrepublik besteht, nachdem erst Mitte des vergangenen Jahres die Deutsche Kommunistische Partei gegründet worden ist, seit dem 31. Dezember des vergangenen Jahres eine neue kommunistische Partei. Am 50. Jahrestag der Gründung der seit 1956 in der Bundesrepublik verbotenen KPD, konstituierte sich in Hamburg die Mao-freundliche die Kommunistische Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten (KPD/ML). Die neue Partei, zu deren Gründern der ehemalige Chefredakteur der moskautreuen Hamburger Zeitung ‚Blinkfüer’ und gegenwärtige Herausgeber der maoistischen Zeitschrift ‚Roter Morgen‘, Ernst Aust, gehört, hat unter den Kommunisten chinesischer und sowjetischer Provenienz gleichermaßen Ärger und Verwirrung gestiftet.

Schnell reagierte der ‚Hamburger Initiativausschuss zur Bildung einer marxistisch-leninistischen Liga für Westdeutschland und Westberlin‘, selbst eine kleine, auf Mao-Linie eingeschwenkte kommunistische Splittergruppe. In einem öffentlichen Schreiben (gemeint war das Flugblatt vom 16. Dezember 1968, d. Vf.), ausgezeichnet mit einem mehr lila als roter Stern, werden die ‚hektisch betriebenen Vorbereitungen zur Gründung einer marxistisch-leninistischen Partei für Deutschland als völlig verfrüht und für die gesamte ML-Bewegung in Deutschland als abträglich‘ kritisiert.

Zwar hält auch dieser Initiativausschuss die politische Linie der neuen Mini-Partei für richtig: den Kampf gegen den ‚räuberischen US-Imperialismus als Hauptfeind aller Völker‘, den Kampf gegen den ‚Revisionismus‘ der moskaufreundlichen und maofeindlichen Kommunisten in der alten KPD und der DKP. Doch die Gründung einer Partei hält der Initiativausschuss für verfrüht, solange noch keine ‚gründliche Sammlung‘ der auf den Boden des Marxismus-Leninismus fußenden Gruppen stattgefunden habe. Der Initiativausschuss schlägt deshalb den Ausbau einer Liga vor, die diese Sammlung vollzieht und langsam, Schritt für Schritt, bis zur Gründung einer Mao-Partei voranschreitet. Versuche, eine an China angelehnte Partei zu gründen, hat es in der letzten Zeit in der Bundesrepublik oft gegeben.

Die ersten marxistisch_leninistischen (maoistischen) Betriebszeitungen, die vor der Gründung der KPD/ML erschienen sind.
Icon Betriebszeitungen, die vor der KPD/ML-Gründung erschienen sind.

Schon im Sommer 1965 wurde im Ruhrgebiet die Gründung einer Splittergruppe bekannt, die sich ‚Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands‘ (MLPD) nannte und Ulbricht, Stoph und Reimann als ‚Kapitulanten‘ und als ‚Lakaien des US-Imperialismus‘ beschimpfte. Verehrt wurden Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao Tse-tung.

Schon damals kamen scharfe Reaktionen aus der DDR. Im ‚Freiheitssender 904‘, dem Propagandasender Ostberlins für die Bundesrepublik warnte Max Reimann die im Untergrund agierenden ‚KPD-Genossen‘ vor der Peking-Gruppe.

Ebenfalls im Ruhrgebiet wurde von einem Klempner namens Heuzeroth und dem DDR-Flüchtling G. Ackermann zu Beginn des Jahres 1967 eine andere Mao-Gruppe, die ‚Freie Sozialistische Partei‘ (FSP) gegründet. Sie wurde sofort von der MLPD bekämpft. Die KPD/ML ist jetzt die neueste Schöpfung der Mao-Jünger. Ihre Gründung hat weniger die bürgerlichen Parteien, dafür aber umso mehr die DKP und die alte KPD erschreckt. Bereits im November bezeichnete der Sprecher der DKP, Bernd Hartmann, die Aufrufe zur Gründung einer Mao-Partei als einen Versuch, ‚mit linksradikalen Phrasen das Geschäft des Antikommunismus zu betrieben‘.

Solche abfälligen Bemerkungen können indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gründung einer Mao-Partei mit der Bezeichnung KPD/ML schon vom Namen her auf Verfassungstreue und politische Hoffähigkeit ängstlich bedachte Moskau-Kommunisten arg das Geschäft verderben kann: Denn der Name Mao wird in der Bundesrepublik selbst die dem Kommunismus freundlichen Gesonnenen abschrecken.“ (32)

Das schon genannte Flugblatt war von Dieter Schütt, Hans Kolbe und Inge Jahnke unterzeichnet. Zu den Unterzeichnern ist zu sagen: Dieter Schütt (ehemals FDJ und KPD) gab seit 1968 die Schrift „Rote Briefe“ heraus, „versöhnte“ sich im Mai 1969 mit Aust und gründete wohl den ersten Landesverband der KPD/ML (Wasserkante) mit. Es hielt sich das Gerücht, dass er seine „Roten Briefe“ einstellen müsse, um bei der KPD/ML mitarbeiten zu können.

Später, im Oktober 1969, soll er wieder ausgetreten sein, griff Aust heftig an und mokierte sich über sein „konterrevolutionäres Wesen“. (33) Im Dezember 1968 sympathisierte er (und Sigurd Debus) zumindest zeitweise mit dem „Rebell“ (ehemals Rote SDAJ-Opposition - Revolutionäre Jugend Marxisten-Leninisten), deren erste Ausgabe vermutlich am Tag der militärischen Intervention der UdSSR in die CSSR am 21. August 1968 in Mannheim erschien. Schütt und Debus arbeiteten im Frühjahr bis Sommer oder Spätherbst 1970 in der KPD/ML-ZB mit, bevor sie als „Schütt-Debus-Clique“ (34) gebrandmarkt wurden. Auch Aust schlug in der Rückschau vom 6. Juli 1970 in einer „Erklärung des Landesverbandes Wasserkante“ zurück und bezeichnete deren KPD/ML als „buntscheckigen Haufen“, der „ideologisch bekämpft werden müsse“. (35) Ab 1970 wurde Dieter Schütt mit der Zeitschrift „Der Funke - Undogmatisch, revolutionär, praxisbezogen. Zentrales Organ des Marxistisch-Leninistischen Zentrums (MLZ) Hamburg“ bekannt (ab der Nr. 11 „Zentrales Organ des Zentrums für undogmatische Diskussion und Verständnis des Marxismus-Leninismus“, mindestens bis Juni 1971). (36) Inge Jahnke war in Hamburg eine Zeit lang SDS-Mitglied. Ein Verweis auf sie konnte ich in der späteren maoistischen Bewegung nicht mehr finden.

Man kann es hier schon vorwegnehmen: Eine breite Auseinandersetzung mit anderen Gruppen fand nicht statt. Von einer ideologischen, geschweige denn theoretischen Auseinandersetzung mag man gar nicht reden. Weder der Kreis um die „Internationale Korrespondenz“, der schon erwähnte „Rebell“, der RJ/ML, der in der frühen Phase von Rainer Strähle (Mannheim) geführt worden war, erschienen den Gründern wichtig. Das bezieht sich auch auf „Was Tun?“, die bereits ab dem Januar 1968 aktiv waren, auf die „Junge Garde - Für den Aufbau einer revolutionären Organisation der Jugend“, die ab dem Februar 1968 bekannt geworden sein dürfe und die schon einen „Rundbrief“ herausgegeben hatte, auf den „Spartakisten“ mit seiner Zeitung „Klassenkampf“, der uns in der Ausgabe Nr. 2 vom Juli 1967 vorliegt, auf die deutsche „Sektion der Vierten Internationale“, die im Dezember 1967 aktiv waren, auf Anarchisten, Rätekommunisten usw. Für die KPD/ML waren das natürlich alles „Opportunisten, Spalter und Lügner“. (37)

Ob es das Ziel der sich formierenden KPD/ML war, sich von Anfang an mit den entstehenden „Roten Garden“ in Westdeutschland zu vereinigen bzw. sie als Jugendorganisation organisatorisch einzugliedern, darüber kann nur spekuliert werden. Zumindest ließ der spätere Streit im Frühjahr 1970 mit dem zunächst primär vom Landesverband NRW der KPD/ML um die „organisatorische Unabhängigkeit der Jugendorganisation“ geführte Auseinandersetzung erkennen, dass möglicherweise kein Interesse an diesen „Haschgruppen“, wie sie teilweise verächtlich genannt worden waren, bestand. (38)

Der Block der Rorgardisten auf der 1._Mai_Demonstration in Westberlin 1969
Der Block der Rotgardisten auf der 1.-Mai-Demonstration in Westberlin 1969

Die Rote(n) Garde(n) war(en) unabhängig von der KPD/ML entstanden. Die ersten Regungen kamen wohl aus (West) Berlin. Bereits am 17. Juni 1967 wurde im Frankfurter Haus der Jugend die 1. Delegiertenkonferenz des AUSS abgehalten, das wie die USG (Berlin) zumindest einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Bildung von Roten Garden hatte. Dort trafen sich Schüler aus 26 Städten. Der spätere RG-Initiator und deren führender Kopf Ezra Gerhard (Berlin) wurde Funktionär des AUSS. (39)

Vermutlich im April 1968 erschien ein Flugblatt mit dem Titel „Lehrlinge“, das zu einer Maidemonstration in Berlin-Neukölln aufrief. Mitunterzeichner war u. a. Ezra Gerhardt. Und ein weiteres mit dem Titel: „Was bedeutet der 1. Mai in Berlin?“. Möglich war, dass diese Flugblätter sich als Vorläufer einer Roten Garde (Berlin) verstanden – vor allem ein kurz vor der Demonstration erschienener „Aufruf zum 1. Mai“ und ein „Mailied“ erinnert durch Format und Aufmachung stark an die spätere Rote Garde. (40)

Vermutlich zum 27. August verteilte die Rote Garde (Berlin) eine „Solidaritätsadresse an die „Tschechoslowakische revolutionäre Jugend“. Ein gemeinsames Flugblatt wurde auch von ASH, KSG und Neuer roter Turm (NRT) verteilt, welches auch auf den Vietnamkrieg hinweist. Zum Ablauf der Verhandlungen gab die Rote Garde (Berlin) später ein Flugblatt heraus, das sich gegen die „Bürokraten“ richtete, die dort redeten. (41)

Über diese Entwicklung berichteten auch Schlomann/Friedlingstein. Sie verlegen die Entstehung der ersten Rote Garde überhaupt auf den August 1968. Die Rote Garde Berlin, so die Autoren, sei „nur über zwei Telefonnummern und das Schüler-Lehrlingszentrum (vermutlich meinten sie das AUSS, d. Vf.) zu erreichen“. Und sie hatten noch mehr zu berichten: „Ihre anonyme Führungsspitze stellt ein zehnköpfiges ‚Rote Garde Zentralkollektiv‘ (das berühmte „Zkoll“, der Vf.) dar, dessen wichtigster Funktionär … Volker Magdalinski … sein dürfte“. (42)

Im September 1968 gab die Rote Garde das Flugblatt „Mit dem ganzen Gerede gegen die Schülervereinigungen muss rasch Schluss gemacht werden“ heraus. (43) Dem dürfte zum 19. November 1968 das Flugblatt „Solidarität mit Jan K.“ (von der Kreuzberger Hermann-Hesse Schule) gefolgt sein. (44) Am 14. Dezember 1968 dürfte auf der Berliner Demonstration gegen das „Rehseurteil“ die Rote Garde ein Flugblatt verteilt haben, nachdem sie zuvor zu einem Block der Jungarbeiter, Lehrlinge und Schüler aufgerufen hatte. (45)

Wie viele Mitglieder die Gruppe zählte, ist nicht bekannt. Die OG Essen der RF-Organisation berichtete von „200 - 250“ Leuten. Allein diese Zahl scheint doch arg übertrieben. „Im Spätherbst“ 1969, so Schlomann/Friedlingstein, soll sie „130“ Mitglieder gehabt haben, der „aktive Kern umfasste davon etwa sechzig bis achtzig Jugendliche und diejenigen der Mitläufer circa 350“. (46) Die Rote Garde gab das Organ „Rote Garde - Marxistisch-leninistische Jugendorganisation“ im Januar 1969 heraus. Es soll „14-seitig“ gewesen sein und wurde in einer Auflage von ca. „40.000 Exemplaren“ unters Volk gebracht. Zur Herausgabe der ersten Ausgabe hieß es: „Wir müssen uns heute auf der Grundlage der Theorien von Marx, Engels, Lenin und Mao Tse-tung zusammenschließen, wenn wir uns mit den Massen verbinden und die herrschende Klasse vertreiben wollen. Nur so können auch für uns die nächsten rund 50 bis 100 Jahre ein großes Zeitalter der radikalen Veränderung des Gesellschaftssystems in der Welt sein. Nur so wird auch für uns das nächste Zeitalter ein weltumstürzendes Zeitalter sein, ein Zeitalter, mit dem sich keine der vergangenen Geschichtsepochen vergleichen kann.“

Der weitere Inhalt, in dem u. a. von der Thomas Morusschule, der Buchhandlung Elwert und Meurer (120 Beschäftigte, 15 Lehrlinge) und der AEG Ackerstraße berichtet wird, ist u. a.:

Verantwortlich für den Inhalt zeichnen Rainer Loska und Rainer Hillner. Die Rote Garde ist über das Schüler- und Lehrlingszentrum (SLZ) auf dem Kurfürstendamm zu erreichen. (47)

Am zweiten Weihnachtstag 1968 „wollten sie mit einigen APO-und SDS-Anhängern … zu Ehren des 75. Geburtstages Mao Tse-tungs das alte China-Botschaftsgebäude am Kurfürstendamm besetzen“. (48) Erst zum Frühjahr 1969 sollte sich vermutlich ein Teil der Roten Garde Berlin unter der Führung des Jugendbeauftragten des ZK der KPD/ML, Ezra Gerhardt, der KPD/ML unterstellen. Anfang 1969 entstanden weitere Rote Garden. Zunächst wohl die in Hamburg mit Wolf Lauchstaedt. Inwieweit sie bereits mit der KPD/ML zusammen hing, ist nicht mehr festzustellen. Im Laufe des Jahres 1969 bildeten sich vor allem: die Rote Garde Essen (mit Peter Weinfurth und Oliver Thomkins), die Rote Garde Köln, die Rote Garde Hannover, die Rote Garde Hildesheim, die Rote Garde München und die Rote Garde Wuppertal. Die Entwicklung der Roten Garden und dann des KJVD ist der „Geschichte der KPD/ML-Zentralbüro“ zu entnehmen.

Exkurs: Die Zeitschrift „Roter Morgen“ bis zur Ausgabe Dezember 1968/Januar 1969

Der „Rote Morgen“ mit seinen Ausgaben von Juli 1967 bis zur Dezember 1968/Januar 1969 soll „im harten Kampf zweier Linien um die korrekte marxistisch-leninistische Linie der Partei“ (ZK der KPD/ML zur Herausgabe des Sammelbandes „Roter Morgen 1967 - 1969) entstanden sein. Faktisch waren aber die DKP und ihre Ableger, etwa der MSB, die eigentlichen Gruppen, die von der Schwäche der KPD und dem Niedergang der Studentenbewegung profitierten konnten. Die DKP bot sich als politische Alternative und Organisation an, die gleichzeitig die sog. „Antirevisionisten“ auf den Plan rief, die ihr ratlos gegenüber standen und die in die politisch-organisatorische Krise geratenen „Radikalen“ unter Druck oder Zugzwang setzten. Die Wandlung vom Saulus zum Paulus war sicherlich mit Dornenwegen umgeben, am Ende stand jedoch der märchenhafte Aufstieg der ML-Gruppen, die sich aber um politische, theoretische und ideologische Klarheit kaum scherten. Daraus mag zu erklären sein, dass sich mit der maoistischen Bewegung Karrierismus, Opportunismus und Klüngelei verbinden lässt. Die maoistischen Gruppen kostümierten sich auf ihre eigene Art: Allein schon der Rückgriff auf die „reine“ KPD vor 1956 führte zur Einstellung jeder Theorie, die sich konsequenterweise in den ersten Ausgaben des „Roten Morgen“ niederschlug. Hier wimmelte es nur so von nationalistischen Auffassungen und jenen Organisationsvorstellungen, die bei näherer Betrachtung selbst NPD oder SPD unterschreiben könnten, wenn sie sich denn ein neues organisatorisches Gerüst geben müssten.

Roter Morgen, 2. Jg., Januar 1968
Icon Roter Morgen, Januar 1968

Es wäre somit nicht verkehrt, dieses Korsett als grundsätzliches Gerüst der KPD/ML zu betrachten. Der „Rote Morgen“ war keine Eigenproduktion, sondern er bestand vielmehr aus Reminiszenzen unverwechselbarer KPD-Theorien, wie sie nach 1945 von den Theoretikern der KPD aufgestellt worden waren. Faktisch las man im „Roten Morgen“ die bebilderte Geschichte der alten Arbeiterbewegung, deren Abbild die ML-Bewegung werden sollte. Der „Rote Morgen“ hatte allenfalls bekräftigt, eine „antirevisionistische“ Politik zu betreiben. Die dabei mitgeschleppten sozialdemokratischen und arbeiteraristokratischen Vorstellungen, die viel mit ökonomistischer und arbeiterbewegter Politik zu hatten und sich vom Traditionalismus der KPD kaum unterschieden, waren wie selbstverständlich Poltergeister, die die krude Politik der KP Chinas auf die BRD in ihrem kleinsten Nenner anwandte. Richtiges konnte vom Falschen daher gar nicht unterschieden werden.

Im „Roten Morgen“ Nr. 1/1967 hieß es dann gleich: „Unsere heißen, brüderlichen Kampfesgrüße entbieten wir dem Genossen Mao Tse-tung, der unter dem Banner seiner Lehren siegreich voranschreitenden Kulturrevolution, seinem engen Kampfgefährten Lin Biao, der ruhmreichen Kommunistischen Partei Chinas und dem das Banner der Sozialistischen Revolution zum endgültigen Sieg führenden chinesischen Volk.“ (49)

Diese theoretische Diffusität schlug sich in den organisatorischen Vorstellungen der KPD/ML nieder, die die Partei als Primat als Selbstzweck feierte und in der später die Thesen zur „Bolschewisierung der KPD“ in der Ausgabe Dezember 1968/Januar 1969 des „Roten Morgen“ zu seltenem Ruhm kommen sollten. (50)

Wenn der „Rote Morgen“ vom „Revisionismus“ sprach, dann gab es ihn nur in der „materiellen Abhängigkeit des KPD-Apparates von der SED“, wie es die „Grundsatzerklärung“ (51) zum Ausdruck brachte. Der Kampf dagegen erschöpfte sich in antirevisionistischen Willenserklärungen. Kurz, die Radikalität der Sprache entpuppte sich als Phrase, die als Ergebnis „nur“ ein „gegen den Revisionismus“ in jeder Form hervorbrachte, wobei die KPD/ML m. E. auch nicht wusste, was jener „Revisionismus“, den sie zu bekämpfen bereit war, eigentlich vom Inhalt her zum Ausdruck brachte.

Im Prinzip ging es ja nur um eine Frontstellung, die zwischen Organisationen und deren politischen Inhalten bestand. Dabei war frappant, dass (vgl. Nr. 1 des „Roten Morgen“) „für China“ oder „gegen China“ zur unverwechselbaren Auffassung geworden war. Dadurch wurde mehr und mehr Anspruch und Willen mit der Realität verwechselt. In der „Grundsatzerklärung“ wurde diese „richtige“ Linie mit grotesken Behauptungen noch einmal untermauert: „Die KPD/ML ist die Avantgarde des Proletariats, die die Theorie mit der Praxis verbindet, enge Verbindung mit den Volksmassen aufrechterhält und den Geist der ernsthaften Selbstkritik hat.“ (52)

Das proletenhafte Volksempfinden, das hier zum Ausdruck kam, repräsentierte die Auflösung des Proletariats ins „Volk“, die Reduktion der KP auf ihre organisatorische Vormachtstellung, die sich recht kontinuierlich in der Phrase des „Antirevisionismus“ und der Gewaltglorifikation, wie sie z. B. im „Roten Morgen“ vom Mai 1968 „Vorwärts auf dem Weg zu einem einigen sozialistischen Deutschland“ und in der „Grundsatzerklärung“ zum Ausdruck gebracht worden war. (53)

Roter Morgen, 2. Jg., Sonderausgabe August 1968
Icon Roter Morgen, Sonderausgabe August 1968

Berühmt, berüchtigt war die „Rote Morgen“-Sonderausgabe August 1968: „Auf Kautskys und Togliattis Spuren. Zum Programmentwurf der KPD“. Interessanterweise trug der RM ab dieser Ausgabe bis zur „Gründungsnummer“ (Dezember 1968/Januar 1969) den Untertitel „Deutsche marxistisch-leninistische Monatszeitschrift“. Dort wurde dem „friedlichen Übergang der sozialistischen Revolution“ mit Lenin und Mao Tse-tung der abstrakte „gewaltsame Sturz“ gegenübergestellt. Die „politische Macht“, so diese Ausgabe des „Roten Morgen“, käme aus „den Gewehrläufen“.

Der „Gewinnung der Mehrheit im Parlament“, so wie es im „Programmentwurf der KPD“ hieß, wurde die Theorie „der Schufte und Einfaltspinsel“ gegenübergestellt. Spätestens hier wurde der „Rote Morgen“ von seiner eigenen Vergangenheit eingeholt. Er war ja keine theoretische Zeitschrift, sondern eine politische mit sehr niedrigem Niveau. Grundsätzliche Fragen wurden gar nicht reflektiert, theoretische Aufgaben nicht gestellt und der „Revisionismus“ mit Prinzipienreiterei a la „Polemik über die Generallinie der Kommunistischen Partei“ behandelt und geschlagen.

Es bestand weitgehend Unklarheit über die Entwicklung der KPD und über mögliche nächste Schritte einer sozialistischen Alternative. Im „Roten Morgen“ Nr. 1 vom Juli 1967 hieß es: „Verbündet Euch mit den breiten Massen der Bevölkerung. Nehmt Verbindung auf zu den revolutionären Studenten an unseren Hochschulen, diskutiert in Betrieben, in der Gewerkschaft, befasst Euch mit den Sorgen und Nöten der Bauern.“ (54)

Einen Nachweis, warum das so sein musste, erbrachte der „Rote Morgen“ nicht. Im Gegenteil, dieser Passus setzte eine vollständig ausgeprägte Organisation voraus, die geprägt war von den Erfahrungen der KPD und ihrem Programm. Die „breiten Massen“ hätten nun nur noch die Aufgabe, das nicht existierende Programm in „die Massen zu tragen“. Die praktische und auch organisatorische Politik, die der Ableger, die KPD/ML-ZB, ohne Reflektion übernahm, setzte sich in der „Sammlungsbewegung“ des „Roten Morgen“ fort. Fakt war angeblich, dass die „nationale Lage Deutschlands zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein getreues Abbild der Weltlage ist“. (55) Daher wurde auch die Erfassung der „Marxisten-Leninisten“ als reines organisatorisches Problem aufgefasst.

„Als wir Hamburger Marxisten-Leninisten den Roten Morgen schufen, gingen wir aus von dem leninschen Prinzip: eine Zeitung hat kollektiver Agitator, Propagandist und Organisator zu sein. Wobei naturgemäß, angesichts der Verhältnisse in Westdeutschland, der Schwerpunkt der Arbeit vorerst auf dem ‚hat‘ kollektiver Organisator zu sein‘ lag und liegt.“ (56)

Was „naturgemäß“ war, erschien nicht nur zweifelhaft, sondern war sehr speziell durch Phrasen gefärbt. Eine nähere Begründung für diese organisatorische Verzerrung gab es nicht. Womöglich sollte nun auch der „Parteiaufbau“ schnellstmöglich über die Bühne gehen. Dazu musste nach Möglichkeit ein „Bündnispartner“ her, der auch schon bald gefunden war. Mit den Osterunruhen 1968 und dem Pariser Mai, mit Aufmärschen, Demonstrationen und Kundgebungen erreichte die Studentenbewegung einen Höhepunkt. Für den „Roten Morgen“ war dass Anlass genug, mit gewagten Sprüchen konzeptionslos voranzuschreiten: „Wie wichtig der schnelle Aufbau einer revolutionären marxistisch-leninistischen Kampfpartei ist, zeigen uns die derzeitigen Ereignisse in Frankreich, wo der Klassenkampf, der Kampf um die Macht in voller Stärke entbrannt ist. Ohne eine endgültige Einschätzung treffen zu wollen, zeigt sich folgendes: Die revolutionäre Erhebung der Arbeiter und Studenten, die Besetzung der Fabriken und Universitäten, der Generalstreik kamen ohne das Zutun der revisionistischen KPF und der CGT zustande. Erst als sie erkannten, dass sie die revolutionäre Entwicklung nicht verhindern konnten,  griffen die Revisionisten ein. Aber nicht mit dem Aufruf zum revolutionären Sturz der Herrschaft der französischen Monopolbourgeoisie, sondern mit dem Aufruf an die französische Arbeiterschaft, sich nicht zu Gewalttätigkeiten provozieren zu lassen … Und so wie damals in Deutschland der Spartakus, sind heute in Frankreich die Genossen der marxistisch-leninistischen kommunistischen Partei noch nicht stark genug, den Kampf siegreich zum Ende zu führen, obwohl sie heldenhaft an der Spitze der revolutionären Arbeiter und Studenten auf den Barrikaden kämpfen … Ihr heldenhafter Kampf sei uns Verpflichtung, Verpflichtung in täglicher, unermüdlicher Kleinarbeit, das revolutionäre Bewusstsein der Menschen zu heben. Verpflichtung, bereit zu sein für die Kämpfe, die in den nächsten Jahren auch in Westdeutschland auf uns zukommen werden.“ (57)

Die baldige Gründung der KPD/ML war, wie es hier zu ersehen ist, nur noch eine Frage der Zeit. Hinzu kam die völlig schematische Deutung, dass nun das „revolutionäre Bewusstsein der Menschen“ gehoben werden müsse, um sie „für die Kämpfe, die in den nächsten Jahren auch in Westdeutschland auf uns zukommen werden“, vorzubereiten. Woher der „Rote Morgen“ das nahm, ist völlig ungeklärt, zeigt aber generell eine der Hauptursachen für eine mögliche fehlende Theorie auf.

Der „Rote Morgen“ traf in seiner Gründungsphase nur auf praktisch-politische Organisationsvorstellungen, niemals auf theoretische, geschweige denn ideologische Aufgaben. Was etwa in den „Spartacus-Briefen“ wenigstens ansatzweise beschrieben wurde („ … eine Analyse der speziellen deutschen - d. h. gesamtdeutschen Situation zu erarbeiten und auf dieser Grundlage das Kräfteverhältnis im Klassenkampf wissenschaftlich einzuschätzen. Soweit es die Bedingungen der Illegalität zulassen, muss die Diskussion auf breitester Grundlage erfolgen …“ (58)), das war im „Roten Morgen“ kein Maßstab.

Die November Ausgabe 1968 des „Roten Morgen“ hatte ein ganz besonderes Schmankerl zu bieten: „Arbeiter, Bauern, Studenten, alle, die ihr sonst nichts besitzt als Eure körperliche oder geistige Arbeitskraft, die ihr Tag für Tag an die Kapitalisten verkaufen müsst - Vereinigt Euch zur Gründung einer marxistisch-leninistischen Partei! Einer Partei, die allein in der Lage ist, Eure Interessen zu vertreten und imstande, die Arbeiterklasse, die werktätigen Massen des Volkes, zum Sieg über seine Unterdrücker zu führen …“ (59)

Es war jene Organisationstechnik „von oben“, die versus maoistischer Zirkelpolitik gleichzeitig auch die endgültige Abrechnung mit dem sog. „modernen Revisionismus“ bedeutete. Mit der Gründung der KPD/ML schien diese „erledigt“. Schrieben doch das ZK der KPD/ML zur Herausgabe des „Sammelbandes Roter Morgen 1967 – 1969“: „Am 31. Dezember 1968, am Tag der 50. Wiederkehr der Gründung der ruhmreichen KPD Ernst Thälmanns, wurde in Hamburg die Kommunistische Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten gegründet. Damit bekam die deutsche Arbeiterklasse nach den Jahren des revisionistischen Verrats und der völligen Entartung der ‚K’PD/‚S’EW zu einer konterrevolutionären, revisionistischen Partei wieder eine revolutionäre, wahrhaft marxistisch-leninistische Führung. Die Gründung der KPD/ML vor 7 Jahren war ein großer historischer Sieg über den modernen Revisionismus.“ (60)

Die „Massen“ als Wasserträger der KPD/ML wurden in einer Weise zur Gründungslegitimation hinzugezogen, die nur als Experiment mit Unbekannten bezeichnet werden konnte. Wie der „historische Sieg“, so war auch die Formulierung „Bauern und Studenten“, die dazu noch ihre „körperliche oder geistige Arbeitskraft“ an „die Kapitalisten verkaufen“ müssten, eine Idee, die später in die „Initiierung von Massenkämpfen“ mit Einheitsfronten und Bündnispartnern einmündete. Hinzu kam ganz unverhohlen, die Studenten (zumindest ein Teil!) als zukünftige Quelle für das Kadergerüst der KPD/ML aufzufassen. Die Intelligenz, damit auch der tiefe Graben, den die KPD/ML aushob, trat nun als Avantgarde auf, die als Bumerang nicht nur durch die sog. „Septemberbeschlüsse 1969“ zurückkommen sollte, sondern auch als einstiger revolutionäre Kern, den die KPD/ML selbst schuf, wieder demagogisch angefeindet wurde. „Schluss mit dem intellektuellen Geschwätz“, meinte der „Rote Morgen“ in seiner November-Ausgabe 1971. (61)

Mit der „Grundsatzerklärung“ und der Verabschiedung der „Programmatischen Erklärung“ vollzog sich die Hinwendung zu einem vulgären Materialismus und dem praktischen Versinken in die spontane Bewegung. Inhaltlich waren beide nur ein Bekenntnis zur bekannten Litanei über die Gewalt und von der Aufforderung beseelt, sich der Führung der Kommunistischen Partei zu unterstellen.

Daher wohl auch die gleichzeitige Benennung aller möglicher Hauptfeinde, die die internationale Lage zuließ. „Der Feind steht im eigenen Land. Es ist der räuberische US-Imperialismus, dieser Hauptfeind aller Völker, die westdeutsche Monopolbourgeoisie und die ihr hörige Bundesregierung, die als treuer Vasall den US-Monopolen Tür und Tor öffnet und sklavisch dem Befehl aus Washington folgt. Es ist die sowjetrevisionistische Verräterclique, die das Erbe Lenins verriet, die große Sowjetunion auf den Weg des Kapitalismus zurückführte und die ihre willfährige Ulbrichtgruppe, die die revolutionäre Tradition der deutschen Arbeiterklasse verriet.“ (62)

Später, in der Februar-Ausgabe 1969, wurde es noch deutlicher: „Unsere Hauptfeinde sind der US-Imperialismus, der Sowjetrevisionismus und die mit ihnen verbündete westdeutsche Monopolbourgeoisie, die ostdeutsche Ulbrichtclique und deren verlängerter Arm in der Führung der DKP/KPD.“ (63)

Der „Rote Morgen“ erklärte sich für ganz Deutschland zuständig, was er dann auch mit seiner „Gründung der Sektion KPD/ML (der) DDR“ unter Beweis stellte. Von einer nationalen Idee zu reden, die zum Ausdruck gebracht wurde, wäre sicherlich nicht verkehrt; denn hier greift eine einheitliche Strategie und Taktik, die, wie OG Essen der RF-Organisation meinte, „in der Ablehnung der Souveränität der DDR gipfelte“. (64)

Die Programmatik der KPD/ML dürfte somit dem Chauvinismus und dem (bürgerlichen) Nationalismus viel Nahrung gegeben haben. Richtig ist, dass eine verschmähte theoretische Grundlage zu gefährlichen politischen Einschätzungen führte, die nicht nur aus Missverständnissen oder Gleichgültigkeiten resultierte, sondern typisch populistisch waren und als Relikte der KPD-Politik zur ausgesprochenen „politischen Linie“ der KPD/ML wurden. Meinte sie doch: „Die nationale Lage Deutschlands ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein getreues Abbild der Weltlage. Während der westliche Teil Deutschlands zum Einflussgebiet des USA-Imperialismus gehört, gehört der östliche Teil zum Einflussgebiet des sowjetischen Sozialimperialismus.“ (65)

Immerhin könnte angenommen, dass hier nur eine Momentaufnahme das Licht der Welt erblickte, doch die Verwandlung in eine politische Konzeption, die als „schöpferische Weiterentwicklung“ verstanden werden konnte, lässt doch tief blicken. Dass die KPD/ML auch hier nur die KPD der 1950er Jahre kopierte, deren „revisionistische Politik“ sie doch zu bekämpfen gedachte, musste traumatisch wirken. Die KPD/ML dürfte somit ihrer Grundkonzeption des politischen Schwärmertums treu geblieben sein, das sich wie ein roter Faden auch durch das ereignisreiche Jahr 1969 ziehen sollte. (66)


Teil 3: Das Jahr 1969 (erstes Halbjahr)

Der Kampf der KPD/ML für ein einheitliches sozialistisches Deutschland. Liga oder Partei?

Artikel: Liga oder Partei? In: Roter Morgen, Dezember 1968/Januar 1969, S. 8
Icon Artikel: Liga oder Partei?

Die Gründung der KPD/ML stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Ihr Bogen der politischen Positionen reichte von der Identifikation mit der Politik der KPD und der Komintern bis zum teilweise offenen Nationalismus, der sich freilich erst bei näherem Hinsehen aus ihren Sozialismus-Vorstellungen herauskristallisierte. Die Idee von der „proletarischen Revolution in ganz Deutschland“, die eine „objektive Notwendigkeit“ sei, war schon in der „Grundsatzerklärung“ (1) ausgeführt: „Die KPD/ML ist sich im Klaren darüber, dass der Weg zur Errichtung der Diktatur des Proletariats in ganz Deutschland … voller Schwierigkeiten und harter Kämpfe sein wird … Gestützt auf die von uns selbst organisierten Kräfte, können wir alle deutschen und ausländischen Reaktionäre in unserem Land besiegen … Kämpfen wir für ein einheitliches sozialistisches Deutschland.“ (2)

Das „einheitliche sozialistische Deutschland“ wurde nun zum allein verbindlichen erklärt, und durch den Anspruch des vorgeschalteten eigenen Sozialismus für beide deutsche Staaten bekräftigt. Das erklärt auch, warum die KPD/ML sich nach ihrer Theorie der „materiellen Abhängigkeit der KPD vom SED-Apparat“ (3) schnell einem beschleunigten Gründungsprozess zuwandte, der wenig Spielraum zuließ.

„Um es noch einmal klarzustellen: Wir sind für die Gründung einer deutschen revolutionären marxistisch-leninistischen Partei, der KPD/ML“, hieß es im Artikel „Liga oder Partei?“ (4). Damit brachte es die KPD/ML fertig, die Grenzen von Nation, Staat und Partei zur Deckung zu bringen, und sich selbst als Parteien-Großgruppe, die für alle spricht, zu küren, und sich auch damit von möglichen anderen Gruppierungen, die ähnliche Ziele wie sie verfolgten, abzugrenzen. Besonders nach dem Zerfall der KPD hatte es eher den Eindruck, dass sich die KPD/ML als „deutscher Retter“ verstand, da sie in ihrer Deutschland-Politik prinzipiell die gleichen Positionen einnahm wie sie. Mit dem Schisma zwischen der KPdSU und der KP Chinas, aber auch durch die ungelöste Jugoslawienfrage und der „antirevisionistischen“ Politik der PdAA, wurde der „Rote Morgen zum Sprachrohr für die Herstellung einer (einzigen) KP auf deutschem Boden. (5)

Der Kampf für „ein einheitliches sozialistische Deutschland“, der sich in der großen Mehrheit des Volkes“ niederschlagen werde, welches, „gestützt auf die organisierten Kräfte der KPD/ML“, „alle deutschen und ausländischen Reaktionen in unseren Land besiegen“ (warum nicht vertreiben? d. Vf.) werde, glorifiziert einen kruden Nationalismus, der, wie hier, ein merkwürdiges Sendungsbewusstsein entwickelte. (6) Dass die KPD/ML die Welt (oder ihre unmittelbare Umgebung) möglichst nach ihren eigenen Vorstellungen formen wollte, verdeutlicht ihre Theorie der „proletarischen Revolution in ganz Deutschland“. (7) Die nachzuholende Revolution, mit der später das KPD/ML-Zentralbüro sein Gerüst von der „demokratischen Revolution“ baute und deren Vollendung es durch den Mauerbau 1961 erklärte, wäre sogar, wenn der militante Teil der „Grundsatzerklärung“, die von dem „revolutionären Akt der Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates und der Errichtung der proletarischen Diktatur“ hinzugenommen wird, schon (aggressiver) Chauvinismus. Das Eigeninteresse galt seit der „Grundsatzerklärung“ als Maßstab ihrer Politik.

Dass sich die KPD/ML auch einem unverhohlenen Patriotismus verpflichtete, der besonders als „Macht von unten“ („Volksherrschaft“) verfing und der sich in übernationalen politischen Grundwerten äußerte, gefühlsbetont, gar leidenschaftlich und gesteigert zum Vortragen gebracht wurde, kann in den „12 Bedingungen für die Entwicklung der KPD zur Partei neuen Typus“ (8) nachgelesen werden. Diese Vorstellungen, die Stalin in einem Artikel der „Prawda“ vom 3. Februar 1925 entwickelt hatte und die in „Über die Perspektiven der KPD und über die Bolschewisierung. Unterredung mit dem Mitglied der KPD Herzog“ (9) ihren Niederschlag gefunden hatten, waren in sich von Vaterlandsliebe, dem Treueschwur zur Partei und den Akronymen aus der russischen Oktoberrevolution von 1917 (leninistische Partei neuen Typus) gefärbt.

Die KPD/ML druckte diese Bedingungen ohne irgendeine kritische Reflexion nach. Das Ergebnis war die unverzichtbare Prinzipienreiterei, die die rigorosen bürokratischen Methoden sanktionierte und die allen „parteifeindlichen Elementen und Strömungen“ unverhohlen den Kampf ansagte. (10)

Artikel: Wo steht der Feind? In: Roter Morgen, Dezember 1968/Januar 1969, S. 14f.
Icon Artikel: Wo steht der Feind?

Im Artikel „Wo steht der Feind?“ (11), der als Diskussionsbeitrag „zur Auseinandersetzung mit der NPD“ erschien, wurde der Weg für alle patriotischen Kräfte frei gemacht: „Dieser Kampf zur nationalen und sozialen Befreiung unseres Volkes kann nur eine marxistisch-leninistische Partei siegreich führen …“. Und in „Den Faschisten sitzt die Angst im Nacken“ wurde sogar die Auffassung geäußert: „Es steht doch fest und kann nicht im Geringsten bezweifelt werden, dass es unser Programm für die Zukunft oder Maximalprogramm ist, Deutschland zum Sozialismus und Kommunismus zu führen. Der Name unserer Partei und unserer marxistischen Weltanschauung weisen klar auf dieses unendlich strahlende und schöne, dieses höchste Zukunftsideal hin.“ (12)

Da die KPD/ML den Weg der russischen Bolschewiki als den für sie alleine verbindlichen Weg proklamiert hatte, darf ihr unterstellt werden, dass sie sogar „gerissene Patrioten“ waren, die immer wieder betonten, dass nach ihnen „tausend andere Kämpfer“ neu aufstehen würden. Dass diese „unendlich strahlende und schöne … Zukunft“ national gesinnt war, wurde spätestens hier als nachträgliche Haltung ins Parteiprogramm mit aufgenommen.

Die „Parte neuen Typus“, die nachhaltig mit einem rigorosen Zentralismus aufgebaut werden sollte, war im Artikel „Liga oder Partei?“ verbindlich festgeschrieben worden: „Um es noch einmal klar zu stellen. Wir sind für die Gründung einer deutschen, revolutionären marxistisch-leninistischen Partei, der KPD/ML, die nach den Prinzipien des demokratischen Zentralismus aufgebaut ist und handelt. Wir denken nicht daran, bei der Monopolbourgeoisie nachzufragen (wie die DKP), ob wir die Partei gründen dürfen oder nicht. Mit Entschiedenheit aber wenden wir uns gegen all jene, die uns veranlassen wollen, einen unverbindlichen Club oder Liga zu gründen. Die auf uns zukommenden, sich ständig verschärfenden Klassenkämpfe veranlassen eine straff organisierte disziplinierte Partei, die in der Lage ist, schlagkräftig zu handeln. Jeder, der gegen eine solche Partei auftritt, handelt objektiv im Sinne des Klassengegners und stellt sich außerhalb der Reihen der westdeutschen Marxisten-Leninisten.“ (13)

Mit den „Prinzipien der Parteidisziplin“, „1. Unterordnung des Einzelnen unter die Organisation; 2. Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit; 3. Unterordnung der unteren Instanzen unter die oberen“, 4. Unterordnung der gesamten Partei unter das Zentralkomitee“, wurden diese administrativen Maßnahmen zum Fanal für die spätere Umkrempelung der Partei, die mit dem Zusatz: „Wer gegen diese Regeln verstößt, der untergräbt die Einheit der Partei“ (14) auch jede Opposition brandmarken sollte. Dabei war es egal, in welcher Weise sie auftrat und welche Intention sie hatte.

Gleich zu Anfang des Jahres 1969 sollten diese Prinzipien auf eine Gruppe angewandt werden, die später als „sozialdemokratischer Verein“ bezeichnet werden sollte. Es handelte sich wohl um Mitglieder des ehemaligen „Agartzkreises“ (15), die auch im sog. „Markowski“-Kreis mitgearbeitet haben sollen und die in die Dortmunder Gruppe der KPD/ML eintraten, wobei mir nicht klar ist, ob sie die Dortmunder KPD/ML gebildet hatten oder ob sie in eine bereits bestehende OG Dortmund der KPD/ML eingetreten waren. (16) Nach Auseinandersetzungen wurden sie kurzerhand wieder ausgeschlossen, da die „Aufnahme einer geschlossenen Gruppe“ laut den Statuten der KDP/ML nicht möglich war. (17)

Möglich, dass hier bereits die Handschrift von Willi Dickhut deutlich zu erkennen war, der laut „Revolutionärer Weg“ ab Januar 1969 Mitglied der KPD/ML geworden, ins ZK der KPD/ML kooptiert worden (18) und dort zum Begründer und Verantwortlichen des gleichnamigen theoretischen Organs geworden war.

Exkurs: Wer war Willi Dickhut?

Georg Fülberth charakterisierte ihn kurz und knapp: „Ernst Aust beteiligte sich an der Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten (KPD/ML), die am 31. Dezember 1968 stattfand. Dem schloss sich auch Willi Dickhut an. Dieser war während des Faschismus im Konzentrationslager (u. a. Börgermoor, wo er Wolfgang Langhoff kennenlernte, d. Vf.) gewesen und leitete in den 50er Jahren die Kaderabteilung der KPD. Als im Zusammenhang mit der behördlichen Kommunisten-Verfolgung jener Jahre bei ihm Personal-Unterlagen beschlagnahmt wurden, verlor er diese Funktion und war nur noch erster Kreissekretär in Solingen (und dort auch Ortsverwaltungsmitglied der IG Metall, d. Vf.). Nach dem Verbot lehnte er es ab, sich in den illegalen Apparat einbauen zu lassen. Er trennte sich nach der CSSR-Intervention von der KPD, ging zur KPD/ML und beteiligte sich danach an der Gründung eines Kommunistischen Arbeiterbundes (KABD).“ (19)

Willi Dickhut
Willi Dickhut

Meistens wird in der Literatur über Dickhut falsch oder ungenau berichtet. Über sich selbst berichtete er im „Revolutionären Weg“, Nr. 5 („Über den Parteiaufbau“) (20). Allerdings fehlen dort wesentliche Daten, die er höchstwahrscheinlich aus Gründen der Konspiration nicht veröffentlichen wollte. Hinzu kommt, dass die damaligen Auseinandersetzungen im LV NRW es quasi verunmöglichten, persönliche Lebenserinnerungen preiszugeben, da sie von der Gegenseite meistens massiv negativ ausgeschlachtet wurden.

Nachzutragen ist: Dickhut (geboren am 29. April 1904) war neben Aust in der Gründungsphase einer der entscheidenden Männer in der KPD/ML, der sich mit Studenten („Kleinbürgern“) nicht arrangieren wollte oder konnte. Aus welchen Gründen nicht, soll im Kapitel über die „Septemberbeschlüsse“ noch einmal beleuchtet werden. Dickhut war als Mitglied der KPD 1928/29, wie er es gerne ausdrückte, als „Spezialist“ in der Sowjetunion und dort, nach seinen eigenen Angaben, Mitglied der KPdSU. Im März 1933 war er Stadtverordneter der KPD in Solingen. Nach der Zerschlagung der KPD nahm ihn die NSDAP bis 1935 in Schutzhaft, 1938 wurde er zu einem Jahr und neun Monaten Gefängnis verurteilt, im August 1944 noch einmal verhaftet. Dickhut flüchtete während der Bombenangriffe der Alliierten auf Solingen Anfang November 1944 aus dem Gefängnis. Von 1945 bis 1966 war er wieder Mitglied der KPD und wurde 1966 wegen seiner „prochinesischen Haltung“ ausgeschlossen. Dokumente darüber liegen bis heute nicht vor.

Seine Verklärung als „Arbeiterführer“ bringt ihm auf der Seite der MLPD (vgl. Willi-Dickhut-Museum) auch heute noch den Status des komplexen Autodidakten ein, der keine Fehler machte und immer den „proletarischen Kurs“ verfolgte. Mit seinem Geschichtsbild machte er sich mit vielen Merkwürdigkeiten daran, in der KPD/ML aufzuräumen. Seine schon verbissene Art und Weise, mit dem „Revisionismus“ abzurechnen, schlug sich in unwissender theoretischer Armut nieder (vgl. „Revolutionärer Weg“, Nr. 1-3, und „Revolutionärer Weg“, Nr. 4 und Nr. 5). In ihnen wurde der Begriff „Kleinbürger“ als Jagdtrophäe eingeführt. In seiner Schrift „Die Dialektische Methode in der Arbeiterbewegung“ („Revolutionärer Weg“, Nr. 6, 1971) wurden die „Kleinbürger“ dann mit nebensächlichen Inhalten schwer gegeißelt.

Dass schwierige philosophische Inhalte, ohne Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit zusammengeschrieben, damals keinen ernsthaften Widerspruch hervorriefen, gerade auch, was die Unterscheidung von Theorie und Praxis, Richtig und Falsch anbelangte, mag daran gelegen haben, dass idealistische Geschichtsbilder in der maoistischen Bewegung schon immer Konjunktur hatten. Dickhuts These der „dialektischen Einheit von Theorie und Praxis“ belegt diesen Unsinn noch einmal deutlich.

Doch wurde im KABD diese Schrift als „Meilenstein“ gefeiert und auf jede beliebige Situation angewandt. Der gewaltige Sprung gelang Dickhut allerdings erst mit der „Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion“ („Revolutionärer Weg 7-9“), die von 1971 bis 1972 erschienen und die Dickhut endgültig in die Phalanx eines „Theoretikers“ hievten, da er dort angeblich der Sowjetunion ihren „Sozialimperialismus“ „wissenschaftlich nachwies“, wie die MLPD noch heute meint. Dickhut schrieb ebenso über „Gewerkschaften und Klassenkampf“ (21) wie über „Wirtschaftsentwicklung und Klassenkampf“. (22) Sein Steckenpferd, die „Kleinbürger“ zur „Strecke zu bringen“, brachte ihm in der NHT später den Vorwurf, von „revolutionären Halluzinationen“ geplagt zu sein, ein.

In der Tat war die Schrift „Kampf dem Liquidatorentum“ (23) von jenem Gebilde, das schon dem „entschlossenen Handeln“ der Staatsgewalt nahe kam und den „Verfolgten“ um G. Jacob herum „Hexensabbat“ androhte. Von jener Hysterie, mit Zeremonien und sonstigen Traditionselementen Politik zu betreiben, hatte Dickhut viel. Es fiel auf, dass er theatralische Machtproben inszenierte, um sich dann, nach der Trennung der Spreu vom Weizen, schnell wieder den Sanierungsfragen der Organisation zu widmen.

Dickhut hatte auch später von der Radikalisierung der Bewegung wenig verstanden. In seiner Schrift „Der Staatsmonopolistischen Kapitalismus in der BRD“ (24) legte er, wie die NHT einmal meinte, „Blech aus Solingen“ vor, das auch in „Strategie und Taktik im Klassenkampf“ (25) eher schmolz. Der „Revolutionäre Weg 22“ („Krieg und Frieden und die Sozialistische Revolution“), der 1983 erschien, atmete schon den Geist des Vergänglichen. Ausgerüstet mit esoterischem Weltwissen, wurde hier eine Konzeption vorgelegt, die aus einem Cocktail von Theoremen und Ideologemen bestand, die ein „marxistisches Naturrecht“ auf Widerstand herbeizitierten und schon die „befreienden Potentiale“ der Arbeiterklasse in einer enthusiastischen Beschwörung - frisch wie am ersten Tag - festmachte.

Als Leiter der LKK der KPD/ML NRW 1970 galt er als Fremder im Land. Dickhut, der sich nicht durchsetzen konnte und der auch dem neu gegründeten Zentralbüro nichts entgegenzusetzen hatte, außer dem Hinweis bei einem weißen Nachdruck des „RW 1“ durch den LV NRW, dass der „Einband vom Revolutionären Weg rot sein müsse“, der sogar die erste Ausgabe der „Roten Fahne“ (1. Juli 1970) nachdrücklich begrüßte, trat, nachdem er seine Felle schwimmen sah, als eigenmächtiger Mann auf, der sich alles so zurechtlegte, wie er es gerne haben wollte und kurzerhand mit administrativen Maßnahmen vorging: Alle die, die nicht nach seiner Pfeife tanzen wollten, wurden mit dem Bann des Ausschlusses aus der Partei belegt, so dass im Spätsommer 1970 nur noch ein Häuflein „Aufrechter“, Mitglieder des KAB/ML und der KPD/ML RW/NRW, von vielleicht 20 bis 30 Leuten übrig blieb.

Das Spiel konnte er übrigens, als es um die Zerschlagung der „Jacob-Liquidatoren“ ging, als Leiter der LKK (1972-1976) weiter fortführen. Dickhut gelang es immer wieder (wie Ernst Aust), aus den jeweiligen Konkursmassen Gewinne zu erzielen, die sich freilich über die Zeit hinweg wieder umwandelten und auf die Verliererstraße gerieten. Seine typisch stalinistische Manier passte prächtig in das Umfeld von KABD/MLPD, das seine Arbeiterbewegtheit schätzte. Heute wird Dickhut, der am 8. Mai 1992 mit 88 Jahren verstarb, in der MLPD als „Star“ verehrt. (26)

Über mögliche Bündnispartner

Roter Morgen, 3. Jg., Februar 1969, Titelseite
Icon Roter Morgen, Februar 1969

Die linke Politisierung der Bereiche, in denen die KPD/ML bisher noch nicht tätig war, sollte schnellstmöglich nachgeholt werden. Sie musste sich ein Rekrutierungsfeld schaffen, dass später als „Bündnispartner“ fungieren sollte. Zunächst schien es so, als ob sie schnell gefunden waren. Das Augenmerk, das die KPD/ML auf die Jugend- und Studentenbewegung legte, war nur allzu deutlich. Zwar lautete der Tenor der Februarausgabe 1969 des „Roten Morgen“: „Schafft die Einheit zwischen Arbeitern und Studenten. Brecht den faschistischen Terror der Reaktion“, doch aus dem Inhalt wurde klar, wem dieses „Angebot“ galt: „Das letzte Jahr (1968, d. Vf.) brachte die größte Massenbewegung seit dem Ende des 2. Weltkrieges. Angefangen von den Aktionen der Ostertage, hervorgerufen durch den Mordanschlag auf Rudi Dutschke, an denen sich rund 300.000 Studenten und Arbeiter beteiligten, bis zu den gewaltigen Demonstrationen gegen die Annahme der Notstandsgesetze, an denen sich Hunderttausende mit Demonstrationen, Streiks, Schulbesetzungen, Versammlungen usw. in über 40 Städten beteiligten. Alle diese Kämpfe zeigten durch das zunehmende Auftauchen von roten Fahnen und kämpferischen Parolen wie ‚Zerschlagt den bürgerlichen Staatsapparat‘ das wachsende Bewusstsein der Menschen. Dieses Jahr begann vor allem mit dem Kampf der Studenten gegen das dekadente bourgeoise Erziehungswesen und die Klassenjustiz, aber auch gegen die faschistischen Regierungen in Spanien, Griechenland und den Aggressionskrieg des US-Imperialismus in Vietnam …“ (27)

Berichtet wurde weiter über eine Vielzahl studentischer und APO-Aktionen aus Hamburg (am 23. Januar, 4. Februar, 7. Februar 1969), Frankfurt (am 28. und 31. Januar 1969), Münster (am 23. Januar 1969), Berlin (am 18., 27. und 31. Januar 1969), Heidelberg (am 3., 4. und 7. Februar 1969), München (am 31. Januar 1969), Köln (am 31. Januar 1969) und Düsseldorf (am 31. Januar 1969).

Vollmundig meinte der „Rote Morgen“ zwar, dass „der Schwerpunkt der Arbeit in den Betrieben liegen“ müsse (28), doch der Handlungsbedarf in Sachen Studenten war größer. Bereits im Januar/Februar 1969 hatte sich in Bochum das Komitee Sozialistischer Arbeiter und Studenten, kurz B I, konstituiert, das u. a. einen Grundstock für die KPD/ML, LV NRW bildete, aus dem dann in wesentlichen Teilen das Zentralbüro hervorgehen sollte. Die KPD/ML wurde darüber vermutlich über die Konstituierung ihres Landesverbandes NRW, die am 26. Januar 1969 erfolgte, informiert. Studentische Gründungsmitglieder des LV NRW hatten nach den bisherigen Erkenntnissen zur B I Kontakt, der sich in den nachfolgenden Monaten durch das Thema „Ruhrgebietsanalyse“ und die Westberliner „Ruhrkampagne“ verstärken sollte. (29)

An den erneut auftauchenden Studenten, die ins „proletarischen Getriebe“ eintauchten und die schon insgeheim die eigentlichen Machtzentren bildeten, kam niemand mehr vorbei. Die Reihen mit ihnen begannen sich darüber hinaus auch zu festigen. Im Januar 1969 wurde aus Mannheim die Bildung der „Revolutionären Jugend/Marxisten-Leninisten“ (RJ/ML) gemeldet, die vormals als „Rote SDAJ-Opposition“ bekannt geworden war und die sich mit Mitgliedern der SDS-Betriebsgruppe Tübingen auffüllte. (30)

Die MLPD nahm diese Konstituierung dann zum Anlass, um daraus ihre „proletarischen Kerne“ zu stricken, die sich schon immer gegen den „Studentenwahn“ der KPD/ML durchsetzten. Nachweislich war diese Haltung aus den ideologischen Lichtschutzfaktoren geboren, die die Kontinuität in Sachen „proletarischer Geist“ herstellen sollte. Das klang auch irgendwie schon nach Bedrohung und war im Prinzip auch die eigentliche Frontstellung, die später in einigen Landesverbänden (etwa Bochum oder Berlin) die intellektuelle Opposition gegen das ZK und gegen die „Septemberbeschlüsse“ begründen sollte.

Worauf sich die Rote Garde NRW bei ihrer späteren „Bombardiert das Hauptquartier“-Kampagne stützte, das war nun das Ultra-Linke der Studenten, die in der chinesischen Kulturrevolution die Kampfbünde für ihre zukünftige deutsche Strategie sahen und die sich in den Fortsetzungsseminaren der ersten Spaltungsbewegungen am ehesten bewähren konnten.

Denn in Mannheim spaltete sich im Januar 1969 der erste Kern der marxistisch-leninistischen Gruppe (Mannheim), der im „Roter-Morgen-Lesezirkel“ organisiert war. Teile der Gruppe schlossen sich dem ZK und später dem ZB an. (31) Offenbar waren die gescholtenen „Kleinbürger“ nun doch weiter auf dem Vormarsch. Und offensichtlich bereit, für die KPD/ML selbst den Füllstoff zu liefern. Die „Einheit zwischen Arbeitern und Studenten“, die einige Monate später mit dem pompösen Leitartikel „Jetzt spricht die Arbeiterklasse“ des „Roten Morgen“ aus dem September 1969 (32) den Aufbruch des arbeitenden Menschen erklären sollte, die „Marcuse, Habermas usw. ideologisch getötet“ hätte“ (33), setzte jene Energien frei, die fortan als „Kriterium der Praxis“ galten.

Eigentlich war dieses Ansinnen recht seltsam. Die „Bauern“ aus der Oktober/November-Ausgabe des „Roten Morgen“ 1968 spielten nun keine Rolle mehr. In der KPD/ML überhaupt nicht mehr. Selbst die Mittelschichten und teilweise sogar der Angestelltenbereich wurden später, Dank Dickhut, in „kleinbürgerliche Ableger“ verwandelt, die im „Einerseits und Andererseits“ der Klassenkämpfe eher Opportunisten und Spalter würden. Es blieb dementsprechend nicht viel von den „Bündnispartnern“ der KPD/ML - es blieb nur die „reine“ Arbeiterklasse übrig, die sogenannten „Fortgeschrittenen“, wobei niemand erklären konnte, wer sie eigentlich waren und was sie ausmachte. Selbst diejenigen, denen die KPD/ML „Klassenbewusstsein“ unterstellte und die vereinzelt auf Demonstrationen zu erblicken waren, hatten an den maoistischen Gruppen keinerlei Interesse. So blieb an diesem entscheidenden Punkt nur die Fiktion, auf die nicht verzichtet werden konnte, weil sonst selbst jene integrierte Lebensweise der Arbeiterklasse ins kapitalistische System eher als Bumerang zurückgekommen wäre.

Die März-Ausgabe des „Roten Morgen“ 1969. Die „Erfolge“ im LV NRW und in anderen Landesverbänden

Der „Rote Morgen“ vom März 1969 trug der aktuellen politischen Politik zwischen der VR China und der KPdSU Rechnung. Der Titel des Leitartikels lautete: „Hände weg vom sozialistischen China“. Enthalten war die „Erklärung des ZK der KPD/ML vom 15./16. März 1969“. Ausgeführt wurde u. a.:

Roter Morgen, 3. Jg., März 1969, Titelseite
Icon Roter Morgen, März 1969

„Auf seiner Sitzung am 15./16. März 1969 hat das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten sich mit den jüngsten bewaffneten Provokationen der sowjetischen revisionistischen Führer gegen die Volksrepublik China befasst und die folgende Erklärung beschlossen: Die blutigen Grenzzwischenfälle, die die revisionistische Führungsclique der Sowjetunion seit dem 2. März auf der zum chinesischen Territorium gehörigen Insel Chenpao am Ussuri-Fluss durch Eröffnen von Gewehr- und Geschützfeuer auf chinesische Grenzwachen verschuldet hat, zeigen in aller Deutlichkeit die verbrecherische Rolle der sowjetischen Sozialimperialisten. Die Hintergründe für diesen unverschämten Akt der Aggression können nur im Zusammenhang mit der Globalstrategie der revisionistischen sowjetischen Führungsclique gesehen werden.

Während sie offen mit faschistischen und militaristischen Regierungen ‚gute Beziehungen‘ pflegen, eng mit Indien, Indonesien, Griechenland und den amerikanischen Imperialisten zusammenarbeiten, versuchten und versuchen sie eine antichinesische Einheitsfront auf die Beine zu bringen. Während der sowjetische Verteidigungsminister die indischen Reaktionäre gegen China aufzuhetzen versuchte, ‚klärte‘ Zarapkin Nazi-Kanzler Kiesinger über die Ziele der imperialistischen Sowjetpolitik auf.

Im eigenen Lager sollen die Provokationen an der chinesischen Grenze dazu dienen, auf der kommenden Konferenz der revisionistischen Parteien in Moskau die Front gegen das revolutionäre China zu verstärken. Ihre provokatorische ‚Politik der Stärke‘ gegenüber den revolutionären chinesischen Volksmassen zeigt offen den faschistischen Charakter der imperialistischen Politik der sowjetischen Führungsclique, die sich durch nichts von der Aggressionspolitik der US-Imperialisten unterscheiden.

Die Aggressionen gegen das tschechoslowakische ‚Brudervolk‘ war mit der Johnson-Regierung abgesprochen. Ebenso das klägliche Waffengerassel und die ‚symbolischen‘ Akte gegen die Bundesversammlung in Berlin, die schließlich anlässlich der Bundespräsidentenwahl in die lächerliche Verhandlungsbereitschaft um Passierscheine mündete. Während die sowjetischen Sozialimperialisten mit Waffengewalt militärische Aggressionen gegen das chinesische Volk planen und durchführen, versuchen sie bei ihren imperialistischen und faschistischen ‚Freunden‘ im Westen Unterstützung und Billigung für ihre verbrecherischen Abenteuer zu finden.

Ihre antichinesische Propaganda über chinesische ‚Gräueltaten‘, ihre plumpe Verfälschung sollen die Völker der Welt über den verbrecherischen Charakter ihrer eigenen Politik hinwegtäuschen, doch kennt das deutsche Volk die Merkmale faschistischer Propaganda aus eigener Erfahrung noch zu genau, um sich täuschen zu lassen. Es hat am eigenen Leibe die imperialistische Ausbeuterpolitik der beiden Großmächte USA und SU zu deutlich erfahren, um sich Illusionen über die Ziele und die Eroberungspolitik der amerikanischen und sowjetischen Führungscliquen zu machen.

Das revolutionäre chinesische Volk beweist mit seinen gewaltigen Demonstrationen, seine Kampfbereitschaft gegenüber den Sowjetrevisionisten, dass es nicht bereit ist, sich die Machenschaften einer dieser imperialistischen Großmächte zu ergeben. Vereint mit den revolutionären Volksmassen in der ganzen Welt, die um ihre Befreiung vom Joch des Kapitalismus, Imperialismus und Revisionismus kämpfen, wird es mit Sicherheit den Sieg erringen. Auch das deutsche Volk, dessen Territorium die beiden imperialistischen Supermächte unter sich aufgeteilt und dessen Wiedervereinigung sie mit Hilfe der beiden reaktionären Regierungen in Ost- und Westdeutschland bisher erfolgreich verhindert haben, wird sich nicht ewig unterdrücken lassen. Es durchschaut in zunehmendem Maße den verbrecherischen Charakter dieser imperialistischen Weltpolitik. Wir deutschen Marxisten/Leninisten erklären uns solidarische mit dem chinesischen revolutionären Volk.

Angesichts der bewaffneten Aggression der sowjetischen Imperialisten werden wir alles tun, um die Massen unseres Volkes gegen dieses ungeheure Verbrechen zu mobilisieren. Wir wissen, dass die Volksrepublik China als Weltzentrum der Revolution von entscheidender Bedeutung ist für den Befreiungskampf aller Völker. Entscheidend auch für die nationale und soziale Befreiung des deutschen Volkes.

Nieder mit dem US/SU-imperialistischen Komplott, das gegen alle Völker gerichtet ist. Es lebe das sozialistische China, das Hauptbollwerk der revolutionären Weltbewegung in unserer Zeit. Kommunistische Partei Deutschlands/ML.“ (34)

Diese „Erklärung“ wurde seinerzeit massenhaft als Flugblatt verteilt, was als erste große Aktion der KPD/ML bezeichnet werden kann. Nachträglich begrüßte der „Rechenschaftsbericht der Landesleitung NRW zum 8. März 1970“ diesen ersten politischen Schritt. „Jetzt musste die Partei an die Öffentlichkeit treten“, hieß es dort. (35) „Hände weg von China“ war aber in erster Linie ein Flugblatt aus NRW, das mobilisierenden Charakter haben sollte. Das Flugblatt selbst gehörte in die Rubrik Verbalradikalismus; es war in völlige Unkenntnis der politischen Situation verfasst worden.

Der Aufmarsch am Ussuri begann bereits 1965, als die Hauptverwaltung der sowjetischen Grenztruppen unter dem Befehl von Generaloberst Pawel Syrjanow etwa 5.000 Grenzzwischenfälle mit Chinesen registriert hatte. Wer für die ersten Scharmützel verantwortlich war, dürfte kaum mehr zu klären sein. Die Zuspitzung der Situation 1969 war dementsprechend „nur“ ein erneutes Aufflackern des alten Streites zwischen Peking und Moskau. Zwischen 1965 und 1969 befahl der sowjetische Generalstab eine (deutliche) Verstärkung der Truppen: Divisionen wurden aufgefüllt, neue Flughäfen in Stand gesetzt, Raketenbasen errichtet.

Die Sowjets beseitigten vor allem die Lücke in der Mongolei, die ihnen durch einen möglichen Vorstoß der Chinesen erhebliche Probleme bereitet hätte. Denn dort standen nur schwache sowjetische Divisionen. Das zeigte auch, dass das Machtkalkül der Chinesen möglicherweise darauf angelegt war, kleine Warnsignale mit dem Seitenblick „nach drüben“ zu senden. Denn dafür war noch Zeit genug. Erst im Sommer 1966 war am Buirsee (östlich von Ulan Bator) die erste Raketenabschussbasis der Sowjets fertig gestellt worden.

Ab dem September 1966 verstärkte die Sowjetunion systematisch ihre Verbände an der Westgrenze zu China. Neue Divisionen wurden dorthin verlegt. Raketeneinheiten bezogen Stellung, in deren Aktionsradius chinesische Atomanlagen lagen. Im Frühjahr 1969 kam es tatsächlich zu bewaffneten Konflikten. Danach erreichte der sowjetische Aufmarsch einen Höhepunkt. Ab dem Herbst schuf das SU-Verteidigungsministerium einen neuen Befehlsbereich, der sich ausschließlich mit einem möglichen (atomaren?) Krieg gegen China beschäftigte.

Die Chinesen selbst machten ebenso mobil. Die Volksstreitkräfte wurden in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. China setzte bis zu 2 Millionen Menschen in Alarmbereitschaft. Es standen sich vermutlich auf beiden Seiten mehr als 20 Divisionen gegenüber mit einer Gesamtstärke bis 3,5 Millionen Mann. Der russische Anspruch auf die Insel rief also die berühmten Gegenmaßnahmen hervor. Die chinesische Fünfte Feldarmee und die Erste Feldarmee wurden näher an die Grenze verlegt. Mehr als 200.000 chinesische Soldaten rückten in ihre neuen Stellungen in Nordchina ein. Befehlshaber waren dort Wang Tschia-tao und Teng Haitsching. Eine 141.000 Mann Flotte (allerdings mit einer veralteten Technik) wurde mobilisiert. 250.000 chinesische Elitesoldaten sollten das Herz Chinas, die Rüstung (Atomanlagen, Waffen, Flugzeugfabriken) schützen. Und auch Mittelstreckenraketen der VR China wurden „grenznah“ gesichtet. Sie hätten das Eisenbahnnetz der Sowjets treffen können (u. a. die Transsibirische Eisenbahn).

Der Konflikt war eine doppelte Verlegenheit. Und entsprach in sich dem Kalten-Kriegs-Szenario. Ob nach den hier dargelegten Fakten tatsächlich beide Staaten eine atomare kriegerische Auseinandersetzung für möglich hielten, kann abschließend nicht beurteilt werden. Vieles war nun mal „nur“ Säbelgerassel, das allerdings bedrohliche Formen annahm. Das Flugblatt der KPD/ML gehörte in die Rubrik „Rettung. Ruhm und Ehre der VR China“. Mit Schlagworten und einem Lob auf die immer siegreiche Volksrepublik und Volksarmee machte es eher den Eindruck einer mutig-militant vorgetragenen Ode, die mit kerniger Offenheit kombiniert worden war. Frei nach dem Motto „Wir von der KPD/ML …“ glichen die verwendeten Titel und Thesen mehr einer Generalermächtigung für die Aufforderung zu revolutionären Aktionen (und zum Krieg). Nachträglich wurde dieser „historische Augenblick“ für die KPD/ML zur Selbstsuggestion und hatte auch noch Jahre danach eine emphatische Wirkung.

Wer oder was erreicht worden war, ist nicht bekannt. Möglich ist, dass sich mit ihm aber Interessenten meldeten. Zu Beginn des Jahres 1969 hatten sich schlagartig (vor allem in NRW) neue KPD/ML-Gruppen gebildet. Es waren jene fünf Ortsgruppen, die sich mit den „Septemberbeschlüssen“ auch selbst reinigen sollten. Aus einer „Roter Morgen“-Leserversammlung heraus konstituierten sich Gruppen in Essen, Duisburg, Solingen, Köln und Düsseldorf, wobei es in Duisburg zunächst nur einen Stützpunkt gab. Von diesen war die Essener Ortsgruppe unter Peter Weinfurth und Oliver Thomkins wohl die aktivste. Die Solinger Gruppe wurde zunächst von Willi Dickhut und seiner Frau Luise gebildet, der Kölner Gruppe stand Günter Ackermann vor, der Düsseldorfer der erste Literaturverantwortliche der KPD/ML NRW, Franz Wennig, der später, wie auch Gerd Flatow und Dieter Klauth, Landesleitungsmitglieder der KPD/ML-NRW wurde. Hinzu kamen eine Gruppe in Hannover, Karlsruhe, Mannheim und, später, München. (36)

Laut „Revolutionärer Weg“ 5/1970 wählten die fünf Ortsgruppen „ihre Vertreter, die sich zu einer kollektiven Leitung zusammenschlossen“. Der „anwesende Genosse einer Paderborner Jugendgruppe wurde beauftragt, den Kontakt zu anderen mit der KPD/ML sympathisierenden Jugendgruppen aufzunehmen“. Willi Dickhut wurde zeitweilig Landesvorsitzender und Leiter des Theoretischen Organs „Revolutionärer Weg“, dessen erste Ausgabe bundesweit im April 1970 erschien. (37)

Rebell, hg. v. d. Revolutionären Jugend (ML), Nr. 8, April 1969, Titelseite
Icon Rebell, April 1969

In gewisser Weise war die Bildung neuer Gruppen der KPD/ML eine Kampfansage an andere Gruppierungen, die entstanden. Schon im Februar 1969 erschien vermutlich die Nr. 6 des „Rebell“, der nun vor der „Revolutionären Jugend/Marxisten-Leninisten“ (RJ/ML) herausgegeben wurde. Verantwortlich zeichnete Rainer Strähle aus Mannheim. (38) Die RJ/ML und dann auch der spätere KAB, die später in der MLPD mit dem Siegel der Richtigkeit bedacht werden sollten, waren sicherlich keine mittelalterlichen Sektenbewegungen mehr. Doch die Ignoranz der KPD/ML ihnen gegenüber war von der Sorte pubertierender Halbwüchsiger, die sich nur ein Mao-Button anstecken brauchten, und schon waren sie die Herren im Lande. Dass diese Bildungsprozesse, die da entstanden, wie sie selbst nur mit Traditionselementen behaftet waren, interessierte niemanden. Es ging schließlich um die „Organisierung der Arbeiterklasse“, und die Partikel dieser Masse mussten ins Konzept eingefügt werden. Auf Unzufriedene oder Heuchler konnte schließlich niemand Rücksicht nehmen.

Der „Hamburger Initiativausschuss zur Bildung einer marxistisch-leninistischen Liga“ für Westdeutschland und Westberlin schlug im Februar vor, eine „Arbeitsgemeinschaft Deutscher Marxisten-Leninisten“ (AD ML) zu konstituieren, um möglicherweise der Debatte um der Organisation neue Nahrung zu geben. (39) Die KPD/ML ignorierte auch diese Wendung. Im Gesamtmodell der Partei hatten Gruppen, die mit ihr nicht fusionieren wollten, keine Chance. Sie kamen auch als Bündnispartner nicht in Frage.

Etwa zur gleichen Zeit (22. Februar 1966) begann in Tübingen eine erste zweitägige Arbeitstagung des zunächst auf Baden-Württemberg beschränkten Zentralen Arbeitskomitees, auf der u. a. beschlossen wurde, den durch die RJ/ML herausgegebenen „Rebell“ als Mitteilungsorgan des ZAK zu verwenden. Thema der Tagung war: „Kritik der KPF-Politik“. Das ZAK wurde, laut MLPD, ursprünglich von DKP-nahen Gruppen gegründet. Es organisierte sich überregional aus Teilen des SDS Tübingen, RC Tübingen, Sozialistischer Club (SC) Esslingen, Unabhängiger sozialistischer Club (USC) Bietigheim, Sozialistischer Lehrerbund (SLB) Ludwigsburg sowie Genossen aus Heilbronn, Stuttgart und Mannheim. Das Organ des ZAK, „ZAK-Info 1. Mitteilung für die Gruppen des Zentralen Aktionskomitees“, wurde verantwortet von Thomas Quest in Tübingen (später KAB (ML), danach KABD-ZKK Mitglied).

Berichtet wurde in der ersten Nummer u. a. vom Sozialistischen Club Esslingen und von Kaderschulungen in Tübingen. Ein längerer Bericht beschäftigte sich auch mit der Betriebsprojektgruppe Tübingen, die sich nach den Aktionen gegen die Notstandsgesetze (NSG, d. Vf.) in Tübingen konstituiert hatte. Das ZAK sollte, dem Bericht folgend, Informations- und Koordinationszentrale werden. Der zunächst relativ lose Zusammenschluss verfestigte sich in den kommenden Wochen und Monaten. Später gab es sog. ZAK-Seminare, die alle zwei Monate in Tübingen stattfanden. Weitere „ZAK-Infos“ wurden uns bisher aber nicht bekannt.

Das ZAK entsprach, laut H. Modau, den Vorstellungen des Organisationsaufbaus von der Basis her. Damit erteilten auch die frühen „Rebell“-Gruppen der Basisideologie keine eindeutige Absage. Das ZAK kam aufgrund der Bedürfnisse von APO-Gruppen nach praktischer Unterstützung zustande. Diese gewährten die Kräfte der SDS-Betriebsgruppe Tübingen. Aus dem SDS Tübingen und einigen ZAK-Gruppen stammten die Kräfte, welche später über den KAB(ML) in den KABD eingehen sollten. Die Struktur des ZAK war von der Jugend- und Studentenbewegung übernommen, d. h., eine formale Mitgliedschaft gab es nicht. Das ZAK betrieb die gleichen Aktionen wie der Rest der Jugend- und Studentenbewegung (z. B. Umfunktionieren von Wahlveranstaltungen, Aktionen gegen Mietwucher). (40)

In Siegen machte unterdessen ein wohl neu gegründeter Kreisverband der KPD/ML Siegen-Olpe (Organ „Die Wahrheit“) von sich reden. Rekrutiert dürfte er sich aus ehemaligen Mitgliedern der DKP und SDAJ haben, die womöglich mit der Gruppe um Heuzeroth in Verbindung gestanden hatte. Letzterer hatte sich bekanntlich mit Aust überworfen, der eine „Warnung“ verfasst haben soll, in der er verlauten ließ, dass er nicht mehr mit „dieser Sekte“ in Verbindung stehen würde. Diese Gruppe verbreitete einen „Aufruf“, in dem sie sich von der „revisionistischen Linie ihrer bisherigen Parteiführer lossagen“ und sich auf den Boden der marxistischen Lehre Mao Tse-tungs stellten.

Bemerkenswert war, dass auch dort eine Rote Garde gegründet worden sein soll. Laut Schlomann/Friedlingstein stand dieser Lothar Denzel vor. „Am 1. März 1969 hatten sie eine Rote Garde gegründet, deren grüne Einheitskleidung roter Kragenspiegel und rote Streifen an Ärmel vorsah. Allerdings zählte die Gruppe nur fünf Mitglieder und zerfiel nach sechs Monaten. Zur selben Zeit wurde auch der Chefredakteur Denzel und Rüdiger Henrich als SDAJ- und DKP ‚Agenten‘ ausgeschlossen. Als neuer verantwortlicher Herausgeber wurde Gustav Bollmann bestellt. Im November 1969 indessen soll der Kreisverband nur noch acht bis zehn Mitglieder gehabt haben.“ (41)

Seit ca. März 1969 bemühte sich die „Internationale Korrespondenz“ unter Horst J. Ackermann kurzzeitig mit der KPD/ML in Kontakt zu treten. Nach den bisherigen Recherchen gibt es jedoch keine gesicherten Erkenntnisse über weitere Kontaktaufnahmen. Ackermann (nicht zu verwechseln mit Günter Ackermann) lehnte aber, nach Schlomann/Friedlingstein, später die KPD/ML definitiv ab und bemühte sich stattdessen eine „Revolutionäre Sozialistische Jugend“ (RSJ) aufzubauen. Lange Zeit soll sogar zwischen ihm und dem Kreisverband der KPD/ML Siegen-Olpe Kontakt bestanden haben. (42)

Sequenzprotokolle

Im März 1969 brachte die RG Westberlin die unummerierte Nr. 2 ihres Organs „Rote Garde - Marxistisch-leninistische Jugendorganisation“ heraus. Neben anderen Artikeln war ein Schwerpunkt der Sowjetisch-Chinesische Grenzkonflikt: „Hände weg von China. Zum sowjetisch-chinesischen Grenzkonflikt. Das Geschrei vom Personenkult - Ein mieser Trick der Feinde des Marxismus- Leninismus“.

Der Artikel verbreitete nur Informationen des chinesischen Außenministeriums, die bereits in der März-Ausgabe 1969 des „Roten Morgen“ enthalten waren. Danach war „Chenpao stets Chinas Territorium“. Aber im System des Kampfes gegen den Sowjetrevisionismus sollte der Artikel eine dementsprechende Wirkung nicht verfehlen. Auch die Hamburger Ortsgruppe der KPD/ML beschloss auf einer Sitzung vom 19. Januar 1969, die „Propaganda für das sozialistische China“ in allen Gruppen fortzuführen: Die Jugendgruppe gab ein Flugblatt heraus, dass an Oberschulen verteilt wurde, ebenfalls wurde die Hafenbetriebsgruppe und die Landesgruppe eingebunden, die auch gleichzeitig „die Herausgabe weiterer betrieblicher Materialien fortsetzte“. (43)

Roter Morgen, 3. Jg., April 1969, Titelseite
Icon Roter Morgen, April 1969

Auch die April-Ausgabe 1969 des „Roten Morgen“ lag ganz auf dieser Linie: „Die schamlosen Lügner. China, Ussuri und Mao im Spiegel der sowjetischen Revisionisten“, lautete der Titel eines Artikels, der die „richtigen Sachverhalte“ am Ussuri, die als „tatsächlich und nachprüfbar“ bezeichnet wurden, klarstellte.

Daneben widmete sich die Ausgabe dem IX. Parteitag der KP Chinas: „Ein Ereignis von welthistorische Bedeutung. IX Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas erfolgreich beendet.“ Die Lobhudeleien auf die VR China, Mao und Lin Biao waren hier schon von Legenden umwoben. Woher die KPD/ML Informationen wie die folgende nahm, blieb unklar: „Im ganzen Land beteiligten sich weit über 400 Millionen Menschen an den Aufmärschen und Kundgebungen … Die Angehörigen einer Propagandatruppe der Ideen Mao Tse-tungs erklärten, dass die triumphale Eröffnung des IX. Parteitages der Partei die unterdrückten Nationen und Volksmassen aller Länder unbedingt zum heroischen Kampf um ihre völlige Befreiung ermutigen werde … Die revolutionären Volksmassen der ganzen Welt begrüßen begeistert die Beschlüsse und Ergebnisse dieses historischen Ereignis … Die Bevölkerung der von den Sowjetrevisionisten beherrschten Länder nahm die Nachricht von der Eröffnung des Parteitages mit ebenso großer Freude auf, wie die vom US-Imperialismus unterdrückten Völker.“ (44)

Da es sich hierbei wohl kaum um eine „offizielle Verlautbarung“ der KP Chinas handelte (jedenfalls gibt es darauf keinerlei Hinweise!), muss davon ausgegangen werden, dass der Artikel im Stile der üblichen Propaganda der KPD/ML abgefasst worden war und zum Prototypus der Organisation auf dem Weg zur Platzhalterrolle in der ML-Bewegung wurde.

Es war der unerträgliche, schon artifizielle Jargon, der hier ins Auge sprang, die oppressive Sprache, die quasi über Nacht die Köpfe der Altvorderen besetzte und die nach dem Vorbild der kulturrevolutionären sophistisch-überklugen Exegeten der KP Chinas, Denken und Verhalten für alle Revolutionäre der Welt vorwegnahm. Schon enthusiastisch begrüßte die KPD/ML jeden Furz des „großen Steuermanns“ und seines „engsten Gefährten“, Lin Biao. (45) Ständig rezitierten sie seine Worte und übergroß hing an jeder Wand eines Parteigenossen sein Portrait. Der „stürmische Aufbruch“, dem die KPD/ML sich nicht entziehen konnte, ist dem Grußwort des ZK zum IX. Parteitag der KP Chinas zu entnehmen. Die schwüle Kultur, die hier paternalistisch gepriesen wurde, hatte eher etwas von einem psychischen Defekt, der nun zur vollen Entfaltung kam:

„An den IX. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas! Wir Marxisten-Leninisten der Bundesrepublik Deutschland entbieten den Delegierten des IX. Parteitages, insbesondere dem Vorsitzenden Genossen Mao Tse-tung, unsere herzlichen Brudergrüße und wünschen dem Parteitag vollen Erfolg. Die vom Parteitag erarbeitete politische Linie wird auch für die marxistisch-leninistische kommunistische Weltbewegung von größter Bedeutung sein, nicht nur im Kampf gegen den Revisionismus aller Schattierungen, sondern auch als Leitstern für die konkrete praktische Arbeit. Die Kommunistische Partei Chinas ist das Weltzentrum aller Marxisten-Leninisten. Es lebe die Kommunistische Partei Chinas. Es lebe Mao Tse-tung, der große Theoretiker und Steuermann der kommunistischen Bewegung. Es lebe das Zentrum aller Marxisten-Leninisten. Es lebe die Volksrepublik China!“ (46)

Der triefende Kitsch, der breitwillig breit getreten wurde, war in seiner Eigenart nicht zu überbieten. Es war schon Indoktrination von höchster Güte, die hier abgeliefert wurde. Und ein Interpretationsfilter, der so austauschbar war, dass er zu jeder Zeit ebenso auf einen Autohändler wie auch auf einen Diktator angewandt werden konnte. Die KPD/ML konnte sich dennoch ob dieses „Grußtelegramms“ rühmen; denn am 12. April 1969 veröffentlichte die „Pekinger Volkszeitung“ die Adresse des ZK. Selbige hatte schon am 6. Januar 1969 die Erklärung des ZK „Hände weg von China“ veröffentlicht. So schien die Mutter aller K-Gruppen in der BRD, die KPD/ML, recht schnell als rechtmäßige „Peking-Filiale“ zu Ruhm und Ehre zu kommen.

Mit der Gründung der Roten Garde Essen vom März des Jahres war ein weiterer Mosaikstein für den kommenden Spaltpilz gelegt. Die beiden KPD/ML-Mitglieder Peter Weinfurth und Oliver Thomkins hatten in den Verhandlungen mit der Landesleitung NRW erreicht, dass der Aufbau der Roten Garde nach folgenden Prinzipien erfolgen sollte: „1. Die organisatorische Selbständigkeit als Jugendorganisation der Partei wird gewährleistet. 2. Das Prinzip des demokratischen Zentralismus wird vorbehaltlos anerkannt. 3. Der Aufbau wird als Massenorganisation auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus durchgeführt. 4. Die politische Anleitung der Roten Garde durch die Parteimitglieder in der Roten Garde vollzieht sich auf der Grundlage der Überzeugung, nicht durch dekretieren und kommandieren. 5. Führende Parteimitglieder in der Roten Garde werden an der Leitungstätigkeit der Partei auf Bezirks- und Landesebene beteiligt.“ (47)

Die Prinzipien der „Kommunistischen Jugendinternationale“, die hier ohne Reflexion einfach übernommen worden waren, hatten nur symbolische Bedeutung. In Wirklichkeit übte die KPD/ML über ihre Parteimitglieder in der Roten Garde stete Kontrolle aus und missbilligte jede Abweichung. Der Knall, der sich hier latent abzuzeichnen begann, war in der Suche nach der Selbstverwirklichung der Roten Garde begründet. Und insofern war die Anziehungskraft Maos mit Ideologisierung gleichzusetzen. Vielleicht lag es auch im „antiautoritären Charakter“ (48) der beiden Essener Exegeten begründet, die mit dem Aufruf Maos „Wer die Jugend hat, der hat die Zukunft.“ ihre beginnende „Rebellion“ gegen das ZK in die Praxis umsetzen wollten.

„Die Welt ist euer, wie sie auch unser ist, doch letzten Endes ist sie eure Welt. Ihr jungen Menschen, frisch und aufstrebend, seid das erblühende Leben, gleichsam die Sonne um acht oder neun Uhr morgens. Unsere Hoffnungen ruhen auf euch. Die Welt gehört euch …“ (49)

Diese radikalen Thesen ließen eigentlich keinen Platz für Autoritäten. Jene waren ja in der Kulturrevolution mit Schimpf und Schande davon gejagt worden. Und zwar von jenen jungen Revoluzzern, auf die Mao baute. Es mag somit im System des Maoismus begründet gewesen sein, dass der der Jugend (weltweit) eine besondere Rolle zufiel. Die kulturrevolutionäre Mobilisierung der Massen, die in Gestalt der Roten Garde NRW im März 1970 zum großen Aufstand blies, war gegen die „Machthaber im ZK“ gerichtet, die aber nicht nur dem Jugendverband ihre spezifischen Prinzipien nehmen wollten, sondern ihn auch gleichzeitig als Teil der bürgerliche Welt des Parteiapparates verstand. Diese Widersprüche waren auf längere Sicht antagonistisch. Als Strömung betrachtet, war der Maoismus über die „jungen Rebellen“ zu dieser Zeit eine feste Größe. Es verwunderte nicht, dass es später heißen sollte: „Das Hauptquartier bombardieren!“ (50)

Mit der Nr. 2 der „Roten Garde - Marxistisch-Leninistische Jugendorganisation - Radikalinski“, die in Essen durch die dortige Rote Garde mit dem Titel „Hände weg von China“ erschien, schufen sich die Funktionäre eigentlich eine fröhlich-kulturelle Underground-Zeitung, die wie der „Radikalinski“ in (West-)Berlin, wie Jürgen Schröder schreibt, „ein Gesamtkunstwerk war, welches den Geist der antiautoritären Revolte gut zum Ausdruck bringt“. (51) Sie war 1969, obwohl deren Zenit schon längst überschritten war, immer noch vakant. In Teilen der KPD/ML und der Roten Garden wurde sie sicherlich immer noch praktiziert. Ein Beispiel dafür war der ungetrübte Politaktivismus, den sie von der Jugend- und Studentenbewegung übernommen hatten.

Gerade Peter Weinfurth, dessen „antiautoritäre Revolte“ am Essener Burggymnasium 1967 für einiges Aufsehen sorgte, wollte mit der Roten Garde dem „Antiautoritarismus“ Ade sagen, doch stand er für ihn gerade erst am Beginn seiner politischen Karriere weiter im Vordergrund; denn die Rote Garde Essen, und später eigentlich alle Rote-Garde-Gruppen, die sich besonders „maoistisch“ gaben, hatte m. E. keine Distanz zwischen einem lebenskulturellen Avantgardismus und dem Marxismus-Leninismus gezogen, was sicherlich auch ein Grund dafür war, dass die 3. Ausgabe des „Revolutionären Wegs“ unter dem Titel „Antiautoritarismus und Arbeiterbewegung“ (52) erschien. Aus diesen und anderen Motiven heraus war das politische Ziel der Roten Garde eher eine Mischung aus einer außerparlamentarischen Bewegung, die sich durchaus immer noch im Kontext der 2.-Juni-Bewegung sah, und den Vorstellung der Che-Guevara-Theorie von der „weltweiten Befreiungsbewegung“, die es im Kampf gegen den Imperialismus zu schmieden galt. Dass auf den Demonstrationen immer Plakate mit dem Guevara-Konterfei mitgeführt wurden, sprach eine deutliche Sprache. Warum die Rote Garde keine „Stadt- oder Metropolenguerilla“ wurde und warum sie nicht an der Schwelle zum Terrorismus stand, war nur dem Umstand zu verdanken, dass sie mit der Orientierung auf den „proletarischen Klassenkampf“ den Terror inklusive Bürgerkrieg für eine lange Periode definitiv ausschloss. Kurze Zeit später sollte die RAF letzteres Feld besetzen und mit der „revolutionäre Aktion“ in eine Phase des Traumas hineingeraten.

Der Revolutionäre Weg, Nr. 1

Im April 1969 erschien erstmals der „Revolutionäre Weg“, Nr. 1 mit dem Untertitel „Probleme des Marxismus-Leninismus - Theoretisches Organ der KPD/ML“. Die Ausgabe widmete sich der KPD und der DKP: „Drei Programme - Drei Dokumente des Revisionismus und des Opportunismus.“ Zunächst war bundesweit der Name „Kommunist“ für das Organ angekündigt worden und sein Erscheinen wohl nur für NRW geplant.

Revolutionärer Weg 1/69 (rote Ausgabe)
Revolutionärer Weg 1/69 (rote Ausgabe)

Der „Revolutionäre Weg“ war aus einer doppelten Verlegenheit geboren. Dickhut, der im ZK keine Mehrheit hatte, sich auch sonst gegenüber Aust und seiner Clique nicht durchsetzen konnte, der mit den „Septemberbeschlüssen 1969“ negative Geschichte geschrieben hatte, als er gegen die „heimatlosen Intellektuellen“ zu Felde gezogen war, und der später in den Landesverband NRW als Landesvorsitzender und dann in die LKK abgeschoben wurde, sah mit dem „RW“ eine Möglichkeit, seinen schwindenden Einfluss wieder geltend zu machen. Das theoretische Organ, dass sich großsprecherisch „Revolutionärer Weg“ nannte, sollte die „ideologischen Voraussetzungen der Partei schaffen“ (53), nicht die theoretischen, was Dickhut ausdrücklich mit dem „RW“ ablehnte. Insofern war der „RW“ kein theoretisches Organ, obwohl Dickhut betonte, dass die Voraussetzungen für seinen Beitritt zur KPD/ML die „Schaffung eines theoretischen Organs“ sein sollte. (54)

Versucht wurde, im „RW“ 1 der KPD/DKP eine „revisionistische Entartung“ nachzuweisen. Im Prinzip stützte sich der „RW“ dabei auf drei Grundaussagen:

„I. Das Wirtschaftsprogramm der KPD“ sei „ein durch und durch sozialdemokratisches und reformistisches Programm“. II. Das Parteiprogramm der KPD“ sei „ein durch und durch revisionistisches, opportunistisches Programm“. Und III. „Die Grundsatzerklärung der DKP“ sei „ein mehr oder weniger getarntes, ebenfalls revisionistisches Programm“. (55)

Der „Revolutionäre Weg“ meinte zu wissen, was Revisionismus war. Im ursprünglichen Sinne verstand er ihn als eine ideologische Maskierung des Reformismus als Marxismus. Das kam bereits in diesen drei Punkten deutlich zum Ausdruck. Aber noch deutlicher an anderer Stelle: „ Der Marxismus ist im Wirtschaftsprogramm der KPD über Bord geworfen worden“ (56) und: „Unter Führung einer solchen Partei, die im Sumpf des Opportunismus steckt, wird die Arbeiterklasse niemals zum Sozialismus kommen …“.

Was der Marxismus jedoch sei, sagten die Autoren nicht. Der „RW“ zitierte reihenweise Marx, Engels, Lenin, sogar Walter Ulbricht, und Mao Tse-tung und unterstellte KPD und DKP eine nicht-marxistische Sichtweise. Der „RW“ wusste aber nicht, was sie überhaupt unter Theoriebildung verstanden.

„Wie sich diese Programme doch gleichen. Kein Wunder, sie haben dieselbe Grundlage: den Reformismus! Es ist der reformistische Gedanke des ‚Stabilisierungsprogramms‘ des ZK der KPD … Es gibt nur das eine oder das andere, entweder Marxismus-Leninismus oder Revisionismus und Opportunismus …“ (57)

Die KPD war schon alleine deswegen revisionistisch entartet, weil sie „im Sumpf des Opportunismus steckt“, ein Vorwurf, den der „RW“ nicht näher erläuterte. Die Unkenntnis über den Revisionismus motivierte das Autorenkollektiv augenscheinlich dazu, andere Positionen als „revisionistisch“ zu bezeichnen, da man sich selbst als „antirevisionistisch“ bezeichnete. Die Autoren der vermittelten Idee vom Revisionismus und Dogmatismus im „RW“ bemühten sich nicht um eine historische wie theoretische Aufarbeitung des Revisionismus. Eine Abweichung von der Lehre von Marx, Engels und Lenin ließ unter Beibehaltung dieser, keine authentische Interpretation mehr zu.

Die jeweiligen Wirtschaftsprogramme und die Grundsatzerklärung wichen deshalb vom Marxismus-Leninismus ab, weil sie „reformistische Illusionen verbreiten“ und weil sie den „Klassencharakter des westdeutschen Staates verwischen“. Weil das so ist, haben sie „den Marxismus über Bord geworfen“. Das sei „der Kern der Sache. Die im Programm der KPD aufgestellte These ist antileninistisch, ist revisionistisch und beinhaltet abgrundtiefen Opportunismus.“ (58)

Wiederum war die normative Setzung dessen, was kritisiert werden sollte, verbindlich. Das führte zu keinem einwandfreien logischen Verfahren; denn die Schlagworte Revisionismus und Opportunismus, die erklärt werden sollten, bedurften selbst bei den „Klassikern“ einer Erklärung. „Revisionismus“ hieß hier einfach „wahr“ und „richtig“, da eine Abweichung vom ideologischen Kerndogma vorlag. Im Rahmen der verklärten Tradition konnte somit weder der allgemeine noch der institutionelle (oder Partei ähnliche) Revisionismus erklärt werden. Der „RW“ passte sich einfach dem Schema an, dass eine Abweichung (wie auch immer und in welcher Form) vom Marxismus bereits „Revisionismus“ sei.

Der englische Nationalökonom Joan Robinson meinte einmal, dass „der Marxismus das Opium der Marxisten“ sei. Man könnte hinzusetzen: Und der Revisionismus das „tägliche Brot“. Eigentlich wurde der Marxismus immer „mit Lust“ revidiert, da er selber Revisionen zuließ. Die Behauptung der KPD/DKP, dass „eine stabile Friedenswirtschaft“ zum „Wohle des Volkes“ (59) sei, war für sich genommen noch kein Revisionismus. Der „RW“ meinte dazu: „Hier soll der Versuch gemacht werden, die Schwierigkeiten der kapitalistischen Wirtschaft zu überwinden, d. h. ‚Arzt am Krankenbett des Kapitalismus‘ zu spielen.“ (60)

Die Selbstvergewisserungen des „RW“ gipfelten nur in der Ersetzung marxistischer Positionen durch andere. Damit wurde übrigens bereits die Gründung der KPD/ML begründet. Die Tatsache, dass viele „Revisionisten“ gleichzeitig eine kunterbunte Vielfalt an Theorien aufgestellt hatten, störte den „RW“ nicht sonderlich. Es war nun mal die KPD bzw. die DKP, die „fremd bestimmt“ waren. Das Verfahren, das angewandt wurde, ging gar nicht von anfallenden Defiziten der marxistischen Theorie aus, sondern „nur“ von einem „Aufweichen“. Einen authentischen Marx, der hierzu eine verbindliche Aussage gemacht hätte, gab es ebenso wenig wie eine an Ort und Stelle belegbare Theorie. Die Sackgasse, in die der „RW“ bei seinem Versuch, einen Nachweis für „revisionistische Entartung“ zu erbringen, geriet, war demnach die Frage, was als Marxismus überhaupt zu gelten habe.

Da Dickhut immer von „zeitbedingten Theorien“ ausging, verwundert es hier generell, dass aus den gegeneinander und miteinander konkurrierenden marxistischen Denkmodellen etwa der letzten 50 Jahre keine historischen Konsequenzen gezogen wurden. Was der Marxismus war und was er werden konnte, konnte nur immer wieder in der konkreten Situation bestimmt werden. Der „RW“ ließ sich aber auf eine ultimative Bestimmung ein: Revisionist sei der, der den Marxismus-Leninismus „verfälscht“. Doch es gehe darum, die „Reinheit des Marxismus-Leninismus“ zu verteidigen, da er eine ewig lebendige, nie veraltende Lehre sei. Weil er die einzig richtige und dazu noch revolutionäre Lehre der Gegenwart sei, sei er allgemeingültig.

Die relative Dürftigkeit des „RW“ und seine „Klarstellungen“ waren auch im chinesischen Denkmodell begründet. In der „Polemik über die Generallinie“ war ein ähnliches Verfahren angewandt worden. Die ideologische Verteidigungslinie basierte u. a. darauf, dass die sozialistische Revolution eine gewaltsame sein müsse. Daher lehnte Mao die Politik einer (weltweiten) Koexistenz ab. Er war der Auffassung, dass nur eine offensive Politik der internationalen kommunistischen Bewegung die Weltrevolution in den Ländern der Dritten Welt vorantreiben würde. Die Sowjets reagierten darauf mit dem Zusatz, dass „eine gewaltsame Revolution nicht mit bewaffneter Gewalt automatisch gleichzusetzen“ wäre. Das mündete in die „friedliche Koexistenz“ und die „Vermeidbarkeit von Kriegen“ ein.

Die KP Chinas legte ihren eigenen Weg fest und beharrte auf einer „verbindlichen“ und „allgemeingültigen“ marxistischen Lehre für „alle Länder und Völker“, was ebenso, um bei der Wortwahl zu bleiben, „revisionistisch“ war. Am chinesischen Weg bzw. „daran“ ließen sich die „wahren Marxisten-Leninisten“ von den „modernen Revisionisten“ unterscheiden. Der Maoismus oder der Marxismus-Leninismus maoistischer Denkart hatte nun gar nichts mehr mit den Auffassungen von Marx und Engels zu tun, allerdings war auch die sowjetische Interpretation fern ab von Marx und Engels angesiedelt.

Je mehr sich der „RW“ als Vertreter der wahren Kommunisten verstand, umso weniger konnten es die anderen sein. Der „Revisionismus“ musste erweitert werden und zum „Klassenfeind“ mutieren. In der Auseinandersetzung mit den beiden Parteien verwies der „RW“ stets auf die „Klassenfeinde“ Bernstein und Kautsky. (61) Die allseitigen „Feinde“ konnten keine marxistisch-leninistische Linie vertreten, was ihnen wortwörtlich angekreidet wurde. In der „Polemik“ trumpfte Stalin mit seiner Schrift „Über die Grundlagen des Leninismus“ (1924) groß auf. Mit ihm zog ein sog. „Erkenntnisvermögen“ ein, dass eine ontologische Garantie für alle Abweichungen von der reinen Lehre gab.

Entsprechend basierte der „RW“ auf einem Stalinschen Antwort-Schema: „Das Schlimmste ist, das versucht wird, diesen Revisionismus und Opportunismus des ZK der KPD, diese aus der Mottenkiste der II. Internationale hervorgeholten alten abgedroschenen und von Lenin längst widerlegten Phrasen, als ‚Marxismus-Leninismus‘, ja sogar als eine ‚Weiterentwicklung‘ des Marxismus-Leninismus, zu verkaufen. Tatsache ist jedoch, dass das ZK der KPD den Reformismus Bernsteins und den Revisionismus Kautskys wieder aufzupolieren im Begriff steht.“ (62)

Die Verbissenheit, mit der hier zynische Floskeln gestreut wurden, war eine direkte Antwort an all diejenigen, die es wagen sollten, den Kanon je in Frage zu stellen. So verwunderte es nicht, dass die Rezeptionstraditionalisten vom „RW“ (und mit ihm die gesamte maoistische Bewegung) ihren Anti-Revisionismus als eigene und innere Abgrenzung gegenüber denjenigen verstanden, die von den revolutionären Inhalten des Marxismus-Leninismus abwichen. So gesehen war der Vorwurf elementar. Er schloss die gesamte organisierte europäische Arbeiterbewegung einschließlich der Sowjetunion ein. Man könnte sogar bis zum Scheitern der II. Internationale (Zeitraum 1889 - 1919) zurückgehen, also bis zu den Anfängen.

Der Revisionismus-Begriff im „RW“ wurde inflationär verwendet. Er war kein analytischer Begriff. Und auch nicht in kritischer Absicht benutzt. Er wurde seiner Inhalte entleert und zum Kainsmal abgewertet. Einen Revisionismus-Vorwurf mit dem gleichen Gebilde (Anti-Revisionismus) abzuwehren, konnte nicht gelingen. Letztlich ging der „RW“ populistisch vor und blieb im theorielosen Pragmatismus stecken. Er vertrat ihn nur verbal. Die Bemessungsgrundlage für die Untersuchungsansätze des „RW 1“ waren nur prognostisch. Er verwendete einen Begriff von Marxscher Theorie respektive Marxismus, dessen historische Kontingenz unerkannt bleibt. Der „RW“ war ungeeignet, um die - begrenzt dialektisch erkennbare - Wirklichkeit mit kritischem Denken zu durchleuchten. Die Folge war, dass er selbst in das verheerende Loch des Dogmatismus abdriftete und ihn zur Legitimierung seiner Herrschaft auf dem weiten Feld des Marxismus missbrauchte. (63)

Von der Mai- bis zur Juni-Ausgabe des Roten Morgen

Die Maiausgabe 1969 des „Roten Morgen“ enthielt den Leitartikel „Auf dem Boden der Verfassung?“ Ausgeführt wurde u. a.:

Roter Morgen, 3. Jg., Mai 1969, Titelseite
Icon Roter Morgen, Mai 1969

„Mit Flaggenschmuck an öffentlichen Gebäuden feierte man am 23. Mai die offizielle Verkündung und Annahme des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vor 20 Jahren, die bürgerliche Verfassung des westdeutschen Separatistenstaates. Die KPD war es, die damals aus grundsätzlichen Erwägungen heraus diesem Gesetz ihre Stimme verweigerte. Heute, 20 Jahre später, erklärt Kurt Bachmann, Vorsitzender der DKP, die Deutsche Kommunistische Partei stünde auf dem Boden des Grundgesetzes, sie wolle Staat und Gesellschaft auf der Basis der im Grundgesetz verkündeten Rechte und Prinzipien erneuern. Auf dem Boden des Grundgesetzes stehen auch Adolf von Thadden, Vorsitzender der NPD, CSU-Boss Franz Josef Strauß, Altnazi Kanzler Kiesinger und die Lakaien der Monopolbourgeoisie Brandt, Schiller und Co. Wie kann aber jemand, der sich 'Kommunist' nennt, also die Errichtung des Sozialismus anstrebt, auf dem Boden einer bürgerlichen Verfassung stehen und zudem noch behaupten, eben auf dieser Basis, dem Grundgesetz, Staat und Gesellschaft erneuern zu wollen …

Das Grundgesetz ist eine typisch bürgerliche Verfassung, wie es sie in fast allen kapitalistischen Ländern gibt … Wenn Bachmann und Konsorten behaupten, auf der Basis dieses Grundgesetzes Staat und Gesellschaft ändern zu können, so zeigen sie, dass sie wie ihre geistigen Väter Togliatti und Kautsky im Sumpf des Reformismus gelandet sind … Zwar unterscheidet Bachmann und Co. nichts von Thadden (NPD, d. Vf.), Strauß (CSU, d. Vf.), Kiesinger (CDU, d. Vf.) usw., mit denen sie gemeinsam auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, aber alles von Marx, Engels und Lenin, auf die sie sich heuchlerisch berufen.“ (64)

Für diese ziellosen Debatten, die der „Rote Morgen“ anzettelte, hatte der „RW“ Pate gestanden. Es musste Dickhut geschwant haben, dass mit der KPD/ML kein Land zu gewinnen sei. Der Leitartikel bestätigte, dass der „Rote Morgen“ an Sauerstoffarmut litt und sich nur hinter der Phrase verstecken konnte. Mit maßloser Spekulationslust und einem prägenden Bildungserlebnis versuchte er in stürmischen Zeiten ein befestigtes Weltanschauungsdach aufzubauen, das von einem politischen Standpunkt eingefasst sein sollte. Doch die „geistigen Väter der Bachmann und Co.“, Togliatti und Kautsky, die als Beleg für Authentizität angegeben worden waren, konnten sich nicht mehr wehren. So musste wieder der Rückgriff auf Marx, Engels und Lenin herhalten, der wie eine Rettungsaktion wirkte.

Dass damit, wie im „RW“, die symbolischen Vaterfiguren hervorgekramt worden waren, mit denen rücksichtslos alle Verräter in der Arbeiterbewegung „liquidiert“ werden konnten, wurde zu keiner Seltenheit mehr, sondern zum alltäglichen Geschwätz mit Untertönen. Gleich eine ganze Heerschar von Reformisten, Opportunisten und Revisionisten konnten so in Altersteilzeit gehen. Der „Rote Morgen“ meinte doch tatsächlich mit einem Zitat aus dem „Kommunistischen Manifest“: „Die Proletarier haben nichts anderes zu verlieren, als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen“, ihren Hauptgegner, die DKP, schlagen zu können. (65)

Aber dieser Artikel rief auch in Erinnerung, dass die theoretische Armut der Parteigründer von einem viel tiefer liegenden Problem geplagt war. Es waren schlicht die unbrauchbaren traditionell-verbürokratisierten Organisationsvorstellungen, die die Ex-Seminaristen der KPD und des SDS ins Gespräch brachten, um sich eine Partei nach deren Vorbild zu schaffen. Das Konzept war somit unbrauchbar. So unbrauchbar wie der Artikel: „Auf dem Boden der Verfassung?“, der die politischen Erbschaften dieser Zeit wie kein anderer charakterisierte.

Das ideologische Weltbild der KPD/ML, Bundesrepublik versus Sozialismus, war wie der historische Augenblick 1967/68. Die Nachklänge der Revolte spiegelten sich hier irgendwo wider. Dass die Studentenbewegung viel mehr Interessanteres zum demokratischen Staat und seiner Verfassung zu bieten gehabt hatte als der „Rote Morgen“, steht außer Frage. Und wohl deswegen musste das Modell „Sozialismus“ noch einmal propagiert und direkt der Demokratie der BRD gegenübergestellt werden. Was für ein Fortschritt? Es war eine Art negationistische Logik, die hier ins Auge sprang, die zugespitzt die Lage in der BRD voluntaristisch und geheimnisvoll, letztlich als Fauxpas, erklärte. Der „Rote Morgen“ schien doktrinär in die Welt zu schauen und kokettierte mit den alten Pseudoverwandtschaften der II. Internationale.

Aber das waren auch irgendwo wieder das „abstrakte System“, die „bürgerliche Gesellschaft“ und der „BRD Kapitalismus“, die keine andere Wortwahl zuließen. Alle anderen möglichen Erfahrungen ließ der „Rote Morgen“ nicht zu. Er wollte nun mal unbedingt mit von der Partie sein. Und so war es nahezu als Gastgeschenk zu betrachten, dass er bekannt geben konnte, dass der Marxistisch-leninistische Ausschuss Hannover „nach eingehender Beratung über die Statuten“ beschlossen habe, der KPD/ML beizutreten, um eine Gruppe Hannover bzw. einen Landesverband Niedersachsen zu gründen. (66)

Um der wachsenden Aktualität des Themas „Jugendgruppen“ nicht auszuweichen, beschloss das ZK der KPD/ML im Mai 1969, ein gutes Jahr vor der großen Auseinandersetzung in seinem LV NRW, „Rote Garden“ als „Jugendgruppen der KPD/ML“ zu gründen. (67) Etwa gleichzeitig, vermutlich im April oder Anfang Mai, erschien in (West-)Berlin, noch von der unabhängigen dortigen Roten Garde - Marxistisch-Leninistische Jugendorganisation Westberlin herausgegeben, die Nr. 3 von „Rote Garde - Marxistisch-leninistische Jugendorganisation“. Diese Ausgabe erschien für Schüler (eine andere für Lehrlinge, Haupt- und Realschüler). (68)

Für die KPD/ML eilte es. Die wachsende Zahl der Mitglieder der Roten Garde Berlin ließ aufhorchen. Und auch die Frage nach der „Selbständigkeit“ wurde vakant; denn bereits im Spätsommer 1969 schwebte das Damoklesschwert über der Westberliner Gruppe. (69) Auch anderswo begannen sich „Jugendgruppen“ zu etablieren, die der KPD/ML Konkurrenz machten. So war es die „Revolutionäre Jugend (Marxisten - Leninisten)“ (RJ/ML), die in Darmstadt im April/Mai 1969 das Licht der Welt erblickte, vermutlich von ehemaligen Mitgliedern des USSB und der Lehrlingsgruppe Darmstadt gegründet. Die seit 1968 bekannte „Rote SDAJ-Opposition“ hieß hier „Revolutionäre Jugend (Marxisten-Leninisten)“. Sie trat mit einer 8-seitigen Broschüre an die Öffentlichkeit. (70) Zuvor waren bereits die RJ/ML-Gruppen in Mannheim, Ulm und Tübingen gegründet worden, die den „Rebell“ herausgaben - und ab September dürfte die RJ/ML dann (endgültig) die Jugendorganisation des KAB/ML geworden sein. (71)

Auch anderenorts kam es bereits zu Weichenstellungen. In Bochum nahm eine Gruppe zwischen dem März und Mai, vermutlich aus dem SDS kommend, die Lehrlingsarbeit auf. (72) Das Gründungsfieber hielt an allen Orten an. In Frankfurt/M. konstituierte sich früh (ab dem Mai) die sog. „Staffelberg-Fraktion“ (73), die möglicherweise eine der ersten ML-Gruppen in Frankfurt/M. war. Daneben fielen etwa auf die Rote Garde Sachsenhausen, Aktionszentrum Roter Turm u. a. Immer wieder kam es auch zu merkwürdigen „Aussetzern“ in der maoistischen Bewegung, die, wie der „Denzel-Kreis“, mit Doppelbödigkeiten zu kämpfen hatten.

So berichtete die Nr. 9 des „Rebell“ vom Mai 1969, dass in London eine „Nationale Befreiungsbewegung Deutschlands“ (NBBD) existiere, eine antisemitische Strömung, die die deutschsprachige Zeitschrift „Meinung“ editiere. U. a. sollten auch „Verbindungen zu maoistischen Zirkeln in der BRD“ bestehen. Kontakte sollten zu Zeitungen wie „Die Wahrheit“ (Heuzeroth, d. Vf.) und „Internationale Korrespondenz - Schrift der Roten Garde Deutschlands“ (H. J. Ackermann und seine Scheingründung „Revolutionäre Sozialistische Jugend“ (RJS)) bestehen. Was der Wahrheit entsprach, kann heute wohl kaum noch nachgeprüft werden. Aber es weist darauf hin, dass alle möglichen Formationen in dem Dunst von Kleinstgruppen unterschiedlicher Couleur ihr Wasser zu kochen versuchten. Antworten des „Roten Morgen“ gab es hierzu nicht.

Der revolutionäre Bochumer Lokalzirkel „Komitee Sozialistischer Arbeiter und Studenten“ (B I) war am 1. Mai 1969 auf der Gewinnerstraße. Es war der Zirkel, der eine ganz besondere Rolle in der KPD/ML spielen sollte. Über ihn heißt es in der „Geschichte der MLPD“ mit der für sie üblichen Stoßrichtung: „’Arbeiterkontrolle der Produktion ist besser als Vertrauen. Statt Mitbestimmung, Kampf um Arbeiterkontrolle in der Produktion’ - mit dieser trotzkistischen Losung zogen Studenten der Universität Bochum zum 1. Mai 1969 durch die Stadt. Ohne Ahnung vom Klassenkampf der Arbeiter und vom Marxismus-Leninismus ließen sie ihren kleinbürgerlichen Wunschvorstellungen freien Lauf und empfahlen den Arbeitern: ‚Wir müssen also erreichen, dass der Meister nicht uns kontrolliert, sondern wir den Meister kontrollieren können.’“ (74)

Dieses politische Unwohlsein der KPD/ML, sich gegen alles zu sträuben, was nicht stramm marxistisch-leninistisch war oder danach aussah, musste den Bruch zur Folge haben. Alle, die sich nicht auf die Seite der „kämpfenden KPD/ML“ stellten, wurden bis aufs Blut gehasst, gegen sie (siehe „RW 1“) wurde, im übertragenen Sinne, ein „Vernichtungskrieg“ organisiert, der großspurig mit dem Warnsignal umschrieben wurde: „Schlagt den Trotzkismus, wo ihr ihn trefft!“

Die KPD/ML war schnell dazu bereit, jeglichen Verstoß gegen den Kanon zu ahnden. Noch bevor die Juni-Ausgabe des „Roten Morgen“ mit dem Aufreißer: „Aktiver Wahlboykott. Zerschlagt das bürgerliche Wahlkomplott der Monopolbourgeoisie und ihre Lakaien!“ (75) erschien, musste die Bochumer Betriebsgruppe 1 den ganzen Schrott der Verleumdungen bis hin zu Verdächtigungen, sie seien „Verfassungsschutzagenten“, über sich ergehen lassen. Ein harmloser Brief an die DKP zum 1. Mai 1969 und zu späteren möglichen Bündnisverhandlungen mit ihr war der KPD/ML die berühmte „Warnung“ über das „Trojanisch-trotzkistische Pferd in den Mauern der KPD/ML“ wert. Abgesegnet vom ZK konnte die Schmähschrift ohne Weiteres erscheinen. Niemand erhob dagegen Einspruch. Schon bald meldete sich die Landeskontrollkommission NRW, deren damaliger Vorsitzender, Willi Dickhut, eine eigenartige Auffassung davon hatte, wie Streitigkeiten „bereinigt“ werden mussten. (76)

Der „Widerstand der proletarischen Kräfte“ war geboren, obwohl es keine gab. Obwohl es im LV NRW wenige proletarische Kader gab, liest sich das in der „Geschichte der MLPD“ so, als seien gleich ganze Heerscharen von „Proletariern“ aufgestanden, die mit stalinistischem Willen jede „Fraktionsmacherei“ zunichte machten. Diese Vorwürfe konnte man vielleicht noch locker wegstecken, aber eine ML-Organisationsstruktur oder eine, die sich dafür hielt, gleich mit einem „faschistischen Führerprinzip“ zu vergleichen, das „eingeführt werden solle“, grenzte schon an Paranoia. (77)

War es schon schwierig, sich in diesem Dschungel der konfligierenden Tendenzen auszukennen, so musste die Lage durch eine Unzahl von politischen und ideologischen Unbeweglichkeiten dazu führen, dass die KPD/ML ihr eigenes ausgesätes Gestrüpp nicht beseitigen konnte. Die Ideologiekader der KPD/ML kämpften sich mit „Klassenfragen“, „Widersprüchen“ und „Hauptwidersprüchen“ durchs Land bzw. durch ihre eigene Zeitung.

Roter Morgen, 3. Jg., Juni 1969, Titelseite
Icon Roter Morgen, Juni 1969

Im Juni 1969 erschien der „Rote Morgen“ zum Bundestagswahlkampf 1969: „Aktiver Wahlboykott. Zerschlagt das bürgerliche Wahlkomplott der Monopolbourgeoisie und ihre Lakaien!“

Ausgeführt wurde im Leitartikel: „Der Bundestagswahlkampf wird vorbereitet. Der allvierjährliche Akt des bürgerlich-parlamentarischen Affentheaters beginnt über die Bühne zu rollen. Im Parlament werden die letzten Gesetze erlassen und in den Büros bereiten sich die von den Parteien angeheuerten Werbeprofis auf die Wahlschlacht vor … Wählen? Was heißt hier schon wählen. Wählen heißt doch, sich zwischen grundsätzlich verschiedenen Möglichkeiten entscheiden zu können. Was aber, wenn jemanden, der Durst auf ein kühles Helles hat, nur fünf verschiedene Sorten Wein vorgesetzt werden? Kann er dann noch wählen? Nein, wenigstens nicht zwischen dem, was er mag, und was er ablehnt. So und nicht anders stellt sich die Situation zur diesjährigen Bundestagswahl dar. Der Bundesbürger wählt - wohin er sein Kreuz auf dem Wahlzettel auch setzt - immer nur die ausführenden oder ihre Herrschaft sichernden Organe der Monopolbourgeoisie.

Die CDU/CSU ist zur Zeit die Hauptstütze der Monopolbourgeoisie. Die klassische Unternehmerpartei. Die SPD unterscheidet sich nur noch in Detailfragen von den vorgenannten. Sie dient den Herrschenden - Große Koalition - als Stütze ihrer Macht in Krisenzeiten und wird, wenn nicht benötigt, fallengelassen. Die FDP ist die sich liberal gebende Variante der Bourgeoisie. Die NPD dient als Auffangbecken für die unzufrieden werdenden Massen des Kleinbürgertums, als Eingreifreserve, falls sich die Lage für die Monopole entscheidend verschlechtern sollte. Die ADF spielt auf der 'linken' die Rolle, die die NPD auf der rechten Seite spielt. Die ihr von den Herrschenden zugedachte Aufgabe ist es, die zu einer konsequent gesellschaftsverändernden Politik drängenden Teile des Volkes auf dem Kurs der bürgerlich-parlamentarischen Ordnung zu halten bzw. zurückzuführen …

Sollen und können wir uns unter diesen Umständen an der Bundestagswahl 1969 beteiligen? ... Natürlich werden wir uns am Wahlkampf beteiligen und das nicht zu knapp. Das heißt, wir werden die Situation vor der Bundestagswahl, in der große Teile der Bevölkerung für politische Dinge aufgeschlossen sind, ausnutzen, um ihnen die Politik unserer Partei zu erläutern. Keinesfalls aber werden wir uns durch Aufstellung eigener Kandidaten am diesjährigen bürgerlich-parlamentarischen Wahlrummel beteiligen. Wem sollte das unter den gegebenen Umständen nützen? Niemanden. Noch befindet sich unsere junge marxistisch - leninistische Partei im Aufbau. Noch wurde nicht in aller Breite und Tiefe die absolut notwendige Klassenanalyse erstellt und daraus die einzuschlagende Strategie und Taktik entwickelt …

Bliebe zu fragen, was zur Bundestagswahl empfehlen wir den 'Wählern' zu tun? Ihr Kreuzchen neben eine der auf dem Wahlzettel stehenden Parteien zu setzen? Ihnen empfehlen, von mehreren Übeln das kleinste zu wählen und damit der Bourgeoisie erlauben, sich weiter vom 'Volkswillen' getragen zu fühlen? Nein! Für uns gibt es nur eine Möglichkeit: Die Menschen zum Protest, zum Widerstand gegen diesen bürgerlich-parlamentarischen Wahlschwindel aufzurufen, der ihnen nicht einmal die Chance einer echten Wahl lässt, geschweige denn, ihnen die Möglichkeit gibt, irgendetwas in der Politik dieses Staates zu bestimmen … Die Menschen, die der Wahl fernbleiben, sind beileibe nicht immer nur unpolitisch, sondern viele von ihnen haben ganz einfach 'die Schnauze voll' … Hinzu kommt, dass fast die gesamte APO, die Außerparlamentarische Opposition, die revolutionären Jungarbeiter, Lehrlinge, Schüler und Studenten, eine Beteiligung am Wahlschwindel der Monopolbourgeoisie entschieden ablehnt … Wir rufen die Volksmassen zum aktiven Boykott der Wahlen zum Bundestag 1969 auf … Aktiver Boykott ist also: Werbung, Organisation der revolutionären Kräfte in größerem Maßstab, mit verdoppelter Energie, unter dreifachem Druck.“ (78)

Etwa zeitgleich erschien das provokante, landesweit verbreitete Flugblatt: „Zum Teufel mit Kiesinger. Zur Hölle mit Ulbricht … Der Feind steht in unserem Land. Im Westen sind es die räuberischen US-Imperialisten, dieser Hauptfeind aller Völker, die großen Industrie- und Bankkapitäne und die ihnen hörige Bundesregierung, die als treuer Vasall der Herren in Washington den US-Konzernen und dem Finanzkapital Tür und Tor öffnet und unser Land (laut Vertrag) der Besetzung durch fremde Truppen bis in das Jahr 2000 ausliefert. Im Osten sind es die neuen Zaren, die das Erbe Lenins verrieten, die Sowjetunion auf den Weg des Kapitalismus zurückführen, und die ihnen sklavisch ergebene Ulbricht-Clique, die die revolutionäre Tradition der deutschen Arbeiterklasse über Bord warf und sich nicht scheut, sich an den militärischen Abenteuern der Herren in Moskau zu beteiligen.

Beide ‚deutschen‘ Regierungen, die Ulbricht Clique im Osten, Kiesinger, Brandt und Konsorten im Westen, haben die sozialen Interessen des deutschen Volkes dem Streben des US-Imperialismus und Sozialimperialismus der sowjetischen Führungsclique nach Weltherrschaft zum Opfer gebracht. Beide stützen sich zur Aufrechterhaltung ihrer Macht auf die Bajonette fremder Truppen. Weder die Bonner noch die Ostberliner Regierung haben das Recht, im Namen des deutschen Volkes zu sprechen … Jagt die Ausbeuter und Unterdrücker der Arbeiterklasse, jagt diese Verräter an den Interessen des deutschen Volkes endlich davon … Darum boykottiert die Bundestagswahl. Darum, Arbeiter, Angestellte, Bauern, Studenten, alle, die ihr lohnabhängig seid, vereinigt Euch. Erhebt mit uns gemeinsam das rote Banner des Volkswiderstandes gegen jene Minderheit von Machthabern und ihre Lakaien, die die sozialen und nationalen Interessen des deutschen Volkes schamlos verraten. Kämpft für die Errichtung der einigen, unabhängigen sozialistischen Volksrepublik Deutschland!“ (79)

Der Artikel im „Roten Morgen“ und das kurz darauf erschienene Flugblatt waren von einer seltenen „Weisheit“ geprägt. Der Artikel im „Roten Morgen“ mit der Charakterisierung der Parteien im Bundestag war von erschreckender Theoriearmut geprägt. Es zeigte sich hier, dass mit Stereotypen begriffslos gehandwerkelt und alles über einen Kamm geschoren wurde. Das waren noch nicht einmal politische Fehler, die hier begangen wurden, sondern es war totale Unkenntnis, mit der die KPD/ML hier zu Werke ging. Der Funke der Vernunft wollte nun mal nicht überspringen, und so schlitterte sie übergangslos in das „nationale“ Flugblatt „Zum Teufel mit Kiesinger, zur Hölle mit Ulbricht“ hinein.

Dass die KPD/ML einem verschämten Nationalismus eigentlich immer huldigte, ist bekannt. Seit den ersten Ausgaben des „Roten Morgen“ hatte sich diese Plattform des Nationalismus, des Chauvinismus und des Alleinvertretungsanspruchs bestätigt. Beckmesserisch und penetrant im Ton, erklärte sich der „Rote Morgen“ gleich für jeden und alles zuständig. Der „vaterländische“ Wind, der hier wehte, avancierte zu einem anachronistischen Zug durchs Ländl, der durchging, ohne dass das ZK sein Missfallen äußerte.

Nun könnte man sagen, dass die KPD/ML endgültig ihren Schleier gelüftet hätte. Doch so ganz einfach war das nicht. Das Flugblatt machte mindestens sechs bis sieben „Hauptfeinde“ aus, die es zu schlagen galt. An politischen Irrungen und Verwirrungen gab es nichts, was zu dieser Zeit darüber hinausging. Das Flugblatt verkörperte die naive „Massenarbeit“ der KPD/ML, die völlig losgelöst ins Blaue hinein betrieben wurde. „Whisky oder Wodka“, das schien die Widerspruchslehre der KDP/ML zu sein. Es verwundert wirklich nicht, dass schon bald die Frage nach einer „Hauptseite Theorie“ aufgeworfen wurde. Zunächst steuerte die KPD/ML stringent auf die „Septemberbeschlüsse 1969“ zu. Der „Aufnahmestopp für Intellektuelle“, durch Dickhut, der im Juli 1969 ins ZK kooptiert worden war, begründete schon früh das Scheitern einer Theoriebewegung in der KPD/ML. (80)


Teil 4: Das Jahr 1969 (zweites Halbjahr)

Der „Revolutionäre Weg“, Nr. 2

Im Juli 1969 erschien der „Revolutionäre Weg“, Nr. 2. Der Titel lautete: „Der Weg zum Sozialismus“, der Untertitel: „Die Möglichkeiten des friedlichen Weges. Marx, Engels und Lenin zu dieser Frage. Formen des Klassenkampfes.“ Die Ausgabe sollte, laut „Geschichte der MLPD“, „mit dem revisionistischen Holzweg des ‚Kampfes um grundlegende Reformen’ und der Möglichkeit des ‚friedlichen Weges zum Sozialismus’“ abrechnen. (1) Laut „Geschichte der MLPD“ hätte Willi Dickhut in den „ersten beiden Nummern (des „Revolutionären Wegs“, d. Vf.) das Wirtschaftsprogramm der KPD (1966), den Entwurf des Parteiprogramms der KPD (1968) und die Grundsatzerklärung der KPD als unvereinbar mit dem Marxismus-Leninismus entlarvt und vor allem die revisionistische These vom ‚friedlichen Weg des Sozialismus‘ zurückgewiesen.“ (2)

Revolutionärer Weg 2/69
Revolutionärer Weg 2/69

Mit der Nr. 2 des „RW“ war die theoretische Diffusität der KPD/ML längst nicht beendet. In Wirklichkeit war der „RW“ ja nicht ein Organ der KPD/ML, sondern das Hobby von Willi Dickhut, der auch mit dieser Ausgabe ausdrückte, dass er als Alleinunterhalter fungierte. Die Kritik des „RW 2“ hängte sich im Wesentlichen am Wahlsieg der „Unidad Popular“ im September 1970 und der Durchführung des Reformprogramms durch den chilenischen Präsidenten Salvatore Allende, der durch einen Putsch der Militärs am 11. September 1973 gestürzt worden war (3), auf. Dabei ging es um die Frage des „friedlichen Übergangs zum Sozialismus“. Der „RW 2“ versuchte, ihm den „revolutionären Weg“ gegenüberzustellen: „Auch in Chile werden die werktätigen Massen durch das Wüten der Militärjunta die Schlussfolgerung ziehen, dass es unmöglich ist, auf friedlichem Wege zum Sozialismus zu kommen. Durch die Blutopfer ist es ihnen klar geworden, dass nur durch den bewaffneten Kampf zur Zerschlagung des staatlichen Machtapparates der Bourgeoisie und die Errichtung der Diktatur des Proletariats die Voraussetzung für den Aufbau des Sozialismus geschaffen wird. Diese Lehre gilt für alle kapitalistischen Länder. Darum Schluss mit allen Illusionen des friedlichen Übergangs zum Sozialismus. Es lebe der revolutionäre Weg der Oktoberrevolution!“ (4)

Der maoistische Populismus kam hier zur vollen Blüte. Der „friedliche Weg zum Sozialismus“, der eine Besonderheit des Revisionismus darstellen sollte, war hier nur eine „antirevisionistische“ Willenserklärung und legitimierte sich durch die Radikalität der Sprache, kurz als Phrase, und durch ständige Verweise auf die „Klassiker“ des Marxismus-Leninismus, die hier vor allem mit jenen berüchtigten Zitaten aus der russischen Oktoberrevolution und der Zeit der „Doppelherrschaft“ (5) zu Worte kamen.

Der „Kampf gegen den Revisionismus“ dürfte eine Kinderkrankheit des Maoismus gewesen sein, der garniert und mit einzelnen Schlagworten versehen, nur im Stadium der Denunziation einer Theorie verwitterte. Dass der chilenische Weg von 1970 durch viele Antagonismen ging (Erhöhung der Wachstumsraten der Gesamtwirtschaft, Schulbildung für alle, Gesundheitsvorsorge, entschädigungslose Verstaatlichung der Bodenschätze, des Kohlebergbaus und der Textilindustrie, Enteignung von ausländischen Großunternehmen und der Banken, Agrarreform, Unabhängigkeit von den USA usw.), ist bekannt. Bekannt ist auch, dass er durch den Putsch der Militärs am 11. September 1973, der maßgeblich von der CIA unterstützt worden war, zunichte gemacht wurde. (6)

Es kann hier nicht darum gehen, Nachbeter und/oder Befürworter irgendeiner politischen Richtung zu sein. Das abstrakte „Wahre“ eines „revolutionären Weges“ gibt es ebenso wenig wie das utopische Schlaraffenland der „antimonopolistischen Demokratie“. Beides ist von gleicher Qualität. Dass sie (die „antimonopolistische Demokratie“) gleich zum Inbegriff aller „Antirevisionisten“ werden sollte, war indes ein deutlicher Hinweis auf die Zukunftsbilder, die die orthodoxen Kommunisten und die neumoderne maoistische Strömung entwarfen. Dass der „Revolutionäre Weg“ sich nur einem anderen „historischen“ Weg verpflichtete, besagt nichts. So ist es auch für die Bewertung der chilenischen Ereignisse relativ uninteressant, ob man eine verbindliche Weltanschauung kreiert oder beginnt, eine geschichtliche Lage aus den Verhältnissen heraus zu begreifen.

Selbst das Engagement Allendes, der auch heute noch als erster „marxistischer Präsident“ Chiles gilt, der den „demokratischen Weg“ ging, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die historisch-sozialen Ereignisse in eine Konzeption alter und modernisierter Prozesse in Chile eingebunden waren, die der Sozialpolitiker Allende versuchte, populistisch zu deuten. Seine Reformpartei, die Unidad Popular (UP), die bis auf das Jahr 1937 zurückging (7) und die 1969 Nachfolgerin der FRAP geworden war, war eine Mixtur aus vielen konkurrierenden politischen Theorien. Sozialisten, Kommunisten und andere Linksparteien erreichten damals ein Bündnis und am 4. September 1970 36,3 Prozent aller Stimmen, aber keine absolute Mehrheit. (8) Nach Verhandlungen mit den Christdemokraten erklärte das chilenische Parlament Allende zum Präsidenten, der somit auf demokratischem Wege an die Macht kam.

Die Polemik des „RW 2“ vermittelte somit wenig Klarheit. Alleine nur mit dem Hinweis auf die fehlende revolutionäre Erhebung in Chile zu kokettieren, konnte nicht bedeuten, Allende eine Irrlehre (also eine Abweichung vom ML-Kanon) zu unterstellen. Er musste mit den Widersprüchen in seinem Bündnis Politik machen, die möglicherweise auch zu keinem endgültigen Ergebnis über den weiteren Weg Chiles führten; denn der wurde ja durch die Militärs, die sich schnell wieder auf die rechte politische Seite der Putschisten schlugen, zunichte gemacht. Was auf seine Präsidentschaft gefolgt wäre, kann somit nicht beantwortet werden. Dass der „RW 2“ trotzdem die Gretchenfrage, flankiert von den Theorie-Polizisten der Arbeiterbewegung, „Wie hältst Du es mit dem revolutionären Weg?“ stellte, um damit zu legitimierten Aussagen zu kommen, die nur aus Reminiszenzen bestanden, kann nicht überzeugen.

Vielleicht war der „Revisionismus“ der Allende-Regierung nur ein im Anfang stehender Reformkommunismus, wobei die Strukturveränderungen und die spezifischen Rahmenbedingungen, die der „RW“ gar nicht untersucht hatte, nur eine Antwort auf die Stalinistischen Kommunismus-Modelle waren? Als Alternative zu bürgerlich-demokratischen und diktatorischen Staatsgebilden ließ der „RW“ den chilenischen Weg nicht gelten. Doch selbst eine fiktive Überwindung der chilenischen Verhältnisse durch ein mögliches revolutionäres Modell hätte nur bestätigt, dass es nicht mit einer marxistischen Grundgewissheit gleichzusetzen gewesen wäre, da sie selbst die autoritative Setzung des Marxismus eingefordert hätte.

So war auch der Kampf des „Revolutionären Weges“ gegen den Revisionismus nur eine Weltendeutung, eine von vielen im Übrigen, die sich nur durch die Metatheorie der Klassiker des Marxismus äußerte. Weil diese angeblich im Besitz der „ewigen Wahrheiten“ waren, musste eine eindimensionale Revolutionsstrategie herhalten, die den Sturz auf bestimmte Institutionen konzentrierte, auf den Sturz des Klassenstaates der Bourgeoisie. Revolutionäre Gewalt war nach dem „RW 2“ unerlässlich. Und da es den „Weg zum Sozialismus“ nur über den revolutionären, aber „parteimäßigen“ organisierten Kampf des Proletariats um die Eroberung der politischen Macht geben sollte, musste jedermann davon überzeugt werden, dass die Konzeption des parlamentarischen Weges per se schon Revisionismus war.

Ein großer Teil der Debatte in der KPD/ML, und auch später, lief somit auf die Frage hinaus, wer sich eigentlich marxistisch nennen durfte, wer konsequent marxistisch war, „unmarxistisch“, „revisionistisch“, „marxoid“ oder „entmarxend“? Selbst das Zitieren von Marx war noch längst kein Beleg für die Tatsache, dass man ein konsequenter Marxist war. Die „Ent-Marxer“ Chiles waren Marx-Abweichler, weil sie sich herausnahmen, den Marxismus auf ihre spezifische Situation anzuwenden. Sollte das tatsächlich „revisionistisch“ gewesen sein? Der „RW 2“ lief in der Sackgasse dauernd vor die Mauer, weil er sich immer die Bestätigung des Marxschen Denkens von ihm selbst einholte, um dann wieder sehr schnell in positionsunsichere leninistische Orthodoxie abzugleiten. Auch insofern verzichtete der „RW“ darauf, tatsächlich nach Marx, also kritisch, zu denken.

Exkurs: Schlagt den modernen Revisionismus

Dass die maoistische Bewegung und die DKP verschiedene Wege gegangen sind, änderte zwar nichts daran, dass sie auf der gleichen Stufe standen, ob aber die Maoisten eine besondere Form, also die des „Antirevisionismus“, eingenommen hatten, dürfte mehr als fraglich gewesen sein. Vor allem war es die Losung der „Diktatur des Proletariats“ und der „Weg der russischen Oktoberrevolution“ mit allen ihren Wendungen, die in die Kritik gerieten. In der KPD/ML zeichnete sich durch die „Grundsatzerklärung“ und die Doppelnummer des „Roten Morgen“ vom Juli/August 1969 ein Grundmuster dieser Kritik ab, die im „Revolutionären Weg“ zur allgemeinen Richtschnur erhoben werden sollte.

Nur die ersten beiden Ausgaben des „RW“ beschäftigen sich mit der nachzuholenden Kritik an KPD/DKP. Der „RW“ 3/1970 über „Antiautoritarismus in der Arbeiterbewegung“ war schon prinzipiell gegen die „kleinbürgerlichen“ Studenten gerichtet. Die Ausgabe 4/1970 lautete „Der Kampf um die proletarische Linie“. Er stand ganz im Zeichen des Rachefeldzuges gegen die „kleinbürgerliche Linie des ZK“, aber auch gegen jede „Studentenpartei“ im Allgemeinen. Im „Revolutionären Weg 5“ „Über den Parteiaufbau“ waren die „kleinbürgerlichen Intellektuellen“ sogar Teil einer Verschwörung gegen die „proletarischen Kräfte“.

Warnung. Das trojanisch_trotzkistische Pferd in den Mauern der KPD/ML (1971)
1971

Davon hob sich das „Trojanisch-Trotzkistische Pferd in den Mauern der KPD/ML“ („RW“ 1/1971) deutlich ab; denn diese Schmähschrift gehörte unzweifelhaft zu den bösartigsten Pamphleten, die die maoistische Bewegung je hervorgebracht hatte. Mit der „Dialektischen Methode in der Arbeiterbewegung“ („RW“ 6/1971) kam der Kampf gegen den „Heuschreckenschwarm“ Intelligenz zunächst kurz zum Stillstand, um dann mit dem epochalen Werk über die „Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion“ („RW“ 7/1971, „RW“ 8 und 9/1972) zu neuen Höhenflügen anzusetzen. Mit dem „RW“ 15/1976 „Kampf dem Liquidatorentum“, der sich gegen die „Jacob-Liquidatoren“ richtete, brach der Kampf gegen die „kleinbürgerliche Denkweise“ noch einmal heftig aus, bevor sie sich dann in der Zentralen Leitung des KABD, im RJVD und in der KSG breit zu machen schien. Heute scheint in der MLPD nur noch der Geist des geweihten Proletariats zu wehen, der wie eine Messiasgestalt mit neurotischer Frömmigkeit und heuchlerischer Doppelmoral sein Unwesen treibt.

Im sog. Kampf gegen den Revisionismus ist das System stets gleich. Zunächst wurde dort allgemein von den „eingeschleusten Verrätern“ in der Arbeiterbewegung geredet, die vom „Schlage Chruschtschows und Ulbrichts“ seien, um dann zum Modell des Klassiker-Zitatenkastens überzugehen. Sodann wurden jene Aussagen zu einem x-beliebigen (politischen) Thema den „Feinden der Arbeiterbewegung“ gegenübergestellt, um dann im Anschluss zu vernichtenden Urteilen zu kommen. Eine inhaltliche Bewertung wurde nie abgegeben. Eine Untersuchung gab es nirgendwo. Dafür ständige Allgemeinplätze und wirre Gegenüberstellungen, aus denen ersichtlich werden sollte, auf welchen Grundlagen sich die jeweiligen Gegner überhaupt bewegten.

Im „Revolutionären Weg“ 7/1971 behauptete Dickhut: „Der XX. Parteitag im Februar 1956 ist Ausgangspunkt einer grundsätzlichen Veränderung der sozialistischen Struktur der Sowjetunion. Das begann mit dem Staatsstreich Chruschtschows, der sich nach dem Tode Stalins in den Vordergrund geschoben hatte. Er leitete die Herrschaft der Bürokratie ein.“ (9)

Für einen „Staatsstreich“ Chruschtschows legte Dickhut keinerlei Belege vor. Aber er musste das so formulieren, um im Anschluss die „Herrschaft der Bürokratie“ zu begründen. Abweichend von der KPD/ML-Meinung zum Agententum, dass nach Stalins Tod die Macht übernahm, trat bei Dickhut die treibende Kraft, die Bürokratie, hervor, die in abgewandelter Form schon in der Kontroverse mit der KPD/DKP ins Auge sprang, wenn von „bürokratischer Entartung“ geredet wurde.

„Zu den kleinbürgerlichen Schichten gehöre auch die Bürokratie …“ (10), behauptete Dickhut. Die Konsequenz daraus wurde simpel erklärt: Das Kleinbürgertum schleicht sich heran und entwickelt sich in Gestalt der Bürokratie zu einem unberechenbaren Monster. Man muss das genau lesen: „Der Revisionismus ist eine Abart der bürgerlichen Ideologie (welcher? d. Vf.). Seine sozialökonomische Wurzel ist Kleinbürgertum, Reste der alten bürgerlichen Intelligenz und der kapitalistischen Klasse mit ihren Gewohnheiten der alten Bildung und die Bildung einer neuen bürgerlichen Intelligenz, einer neuen Bürokratie, die entartet und die kleinbürgerliche Lebensweise annahm und dadurch korrumpierte … Der dem Kleinbürgertum eigene Charakterzug, immer wieder von neuem Kapitalismus zu erzeugen, musste sich auch bei der alten und neuen bürgerlichen Demokratie auswirken … Die entfesselte Bürokratie restaurierte einen Kapitalismus in neuer Form, nicht als Privatkapitalismus …, sondern als bürokratischen Monopolkapitalismus.“ (11)

Bei dieser Begriffsverwirrnis ist es schwer, einen roten Faden zu finden und den gordischen Knoten aufzulösen. Offensichtlich jonglierte Dickhut mit realitätsfernen Apologien, die er mit seinem eigenen Instrumentarium, der Sucht, das „Kleinbürgertum“ beschreiben zu wollen, vermengte.

„Stalins Kampf gegen die Auswüchse der Bürokratie glich Herakles Kampf gegen die Hydra, das neunköpfige Schlangenungeheuer aus der griechischen Sage. Für einen abgeschlagenen Kopf wuchsen zwei neue. Die meisten der Bürokraten verbargen ihre wahren Gedanken und Absichten, andere bewiesen einen besonderen Eifer bei Säuberungen des Partei- und Staatsapparates, darunter auch Chruschtschow, der die ukrainische ‚Partei‘ säuberte …“ (12)

Dickhut, der sich gerne der Mythologien bediente, um seine Schlacht gegen die „Kleinbürger“ schlagen zu können, griff auch hier auf merkwürdige Gegenüberstellungen zurück, die nun rein gar nichts mit Analysen zu tun hatten. Oder besser: Dickhut schlug die Einbildung mit der Einbildung und „gestaltete“ die Naturkräfte nach seinem Bild.

Schon beim „Trojanisch-trotzkistischen Pferd in den Mauern der KPD/ML“, der berühmten „Warnung“, hieß es: „So wie nach der griechischen Sage antike Krieger mit Hilfe eines hölzernen Pferdes in die Mauern von Troja eindrangen und die Stadt zerstörten, so haben sich die Trotzkisten der B 1 in die KPD/ML eingeschlichen und sie gespalten. Mit List, Demagogie, Heuchelei, Doppelzüngelei, den Marxismus-Leninismus als Aushängeschild benutzend, die rote Fahne schwingend, um sie gleichzeitig zu besudeln, so wurden diejenigen Genossen der KPD/ML, denen die Methode der Trotzkisten unbekannt waren oder entgegenkamen, überlistet.“ (13)

Nochmals wurde ein griechischer Heldenmythos im Kampf gegen die „Frankfurter Hydra“ der „Jacob-Liquidatoren“ bemüht. So im „RW 15“, „Kampf dem Liquidatorentum“, und in der „Geschichte der MLPD“, II. Teil, 1. Halbband, wo sogar diese „Hydra“ mittels eines Schaubildes dargestellt wurde. (14)

Schließlich wurde aus diesem Hydra-Ungeheuer die Metamorphose einer Selbstumwandlung zur „kleinbürgerlichen Bürokratie“, die nun auf alles und jeden angewandt werden konnte.

Dickhut schrieb in seiner „Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion“: „Es war der entfesselten Bürokratie jedoch unmöglich, ihren Herrschaftsanspruch offen zu verkünden. Die sozialökonomische Wurzel ist das Kleinbürgertum. Die Herrschaftsgelüste der Bürokratie zu verwirklichen, bedeutet den Sieg einer kleinbürgerlichen Konterrevolution … Da sich der Bürokratismus naturgemäß im Zentrum konzentriert, vollzog sich vor allem hier die kleinbürgerliche Konterrevolution.“ (15)

Die „entfesselte Bürokratie“ war laut „RW“ nun auch noch mit einer „Konterrevolution“ gleichzusetzen, die sich durch die Hintertür einschlich und sich manifestieren konnte. Die daraus zu ziehenden Konsequenzen lauteten bei Dickhut so: „Im Mai 1928 war Stalin der richtigen Lösung des Problems nahe gekommen, als er in seiner Rede auf dem VIII. Kongress des Kommunistischen Jugendverbandes erklärte: ‚Wie kann dem Bürokratismus ein Ende bereitet werden? Es gibt hierfür nur einen einzigen Weg - die Organisierung der Kontrolle von unten, die Organisierung der Kritik der Millionenmassen der Arbeiterklasse gegen den Bürokratismus in unseren Institutionen, gegen ihre Mängel, gegen ihre Fehler …

Wir wissen heute, dass die Lösung des Problems die proletarische Kulturrevolution ist, wie sie in hervorragender Weise in China durchgeführt wurde. Stalin konnte noch nicht darauf kommen - sein Fehler war darum historisch bedingt. Erst das negative Beispiel der völligen Entartung der führenden Bürokratie unter Chruschtschow, der Revidierung des Marxismus-Leninismus, der Aufhebung der Diktatur des Proletariats und der Restauration des Kapitalismus, zeigte mit unerbittlicher Notwendigkeit die Durchführung einer proletarischen Kulturrevolution, um eine solche Entwicklung zu verhindern.“ (16)

Die „Entartung zum Revisionismus“ kann durch die „Kritik von unten“ verhindert werden, erfährt der Leser hier. Da der Revisionismus und das Kleinbürgertum bei Dickhut stets gleich waren, sich überdies in organisatorischen Strukturen niederschlugen, fiel von vornherein auch eine philosophische Kritik am Revisionismus überhaupt unter den Tisch. Sie schloss sich von selbst aus. Das gesamte Spektrum der Kritik wurde in die Hände der unwirklichen „Massen“ gelegt, wobei es ein Novum war, dass ausgerechnet diejenigen, die noch am ehesten den „kleinbürgerlichen Verhaltensweisen“ unterlagen, die Arbeiterklasse nämlich, augenscheinlich von dieser Entwicklung generell ausgenommen wurden. Warum nun der Revisionismus durch die „kleinbürgerliche Bürokratie“, wie es im „RW“ 9/1971 entwickelt worden war, zur Herrschaft gelangen konnte, entzog sich jeglichen Hinweisen. Wenn diese dann noch selbst für die Entstehung des „Sozialimperialismus“ verantwortlich gewesen sein sollte, dann blieb natürlich auch jegliche Ökonomie auf der Strecke, mit der der „RW“ überhaupt nichts anfangen konnte.

Die unverständlichen, bisweilen an den Haaren herbeigezogenen „Argumente“ des „RW“, die irgendwelche gesellschaftlichen Schichten für eine bürokratische Entwicklung verantwortlich machten, ohne dafür Begründungen nachzuschieben, waren reine Augenwischerei. In der Konsequenz dürfte damit die These von der allseitigen „Konterrevolution“ Einzug gehalten haben. Dickhut lieferte dafür bekanntlich im „RW“ 1/1969 und 2/1969 genügend „Beweise“: Ulbricht und Chruschtschow waren „konterrevolutionäre Liquidatoren“, alle „antiproletarischen Kräfte“ ebenso, die Studentenbewegung war vom „Kleinbürgertum“ geprägt. Deshalb waren auch alle anderen Gruppen außer dem KABD stets von der „kleinbürgerlichen Zersetzung“ bedroht.

Wie es somit möglich sein sollte, durch die „Arbeit in der Produktion“, dem Standardsatz des „RW“, Kleinbürgertum, Revisionismus und Bürokratismus zu verhindern, blieb sein Geheimnis. Die Metamorphose glich hier einem Unfall, der mit Phantasien beladen war und das Signum der Künstlichkeit und des Ausgedachten trug. Die „konterrevolutionäre, kleinbürgerliche Hydra“, die nur durch „Köpfe abschlagen“ zu bändigen schien, war stets gefährlich und wartete nur darauf, sich wieder und wieder zu erneuern. Wenn schließlich alle „liquidiert“ werden sollten, die einen Kopf der Hydra tragen, dann bliebe letztendlich nur noch das „reine“, stets jungfräuliche Proletariat übrig, das seine Behausung niemals verlässt, sich am Ende des Lebensweges wieder in dieselbe Materie verwandelt, aus der sie einst gekrochen kam.

Der „RW“ bewegte sich allenfalls auf der Ebene der kosmetischen Korrekturen, die er am Wirtschaftsprogramm von KPD/DKP vornahm. Bei dem Nachweis der „Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion“ hin zum „Sozialimperialismus“ versagte er vollständig. Prinzipielle Erörterungen fehlen überall. Und vor allem die wissenschaftlichen Grundlagen, auf der erst weitgehende Analysen möglich waren, suchte man hier vergeblich.

Die Juli/August-Ausgabe des „Roten Morgen“ 1969

Dass die Abgrenzung der KPD/ML von anderen Gruppen und Organisationen stets durch „revisionistische“ Anwürfe zu charakterisieren waren, die sich in antirevisionistische Willenserklärungen erschöpften, konnte nicht übersehen werden. Trotz ihrer Irrtümer machte die KPD/ML mit ihrem eingeschlagenen Weg weiter. In der Juli/August-Ausgabe des „Roten Morgen“, die vermutlich erst im August erschien, wurde u. a. der Artikel „Unser Verhältnis zur DKP“ veröffentlicht. Ausgeführt wurde:

Roter Morgen, Doppelnummer Juli/August 1969
Roter Morgen, Juli/August 1969

„In der Maiausgabe ROTER MORGEN ist der NPD-Boss Adolf von Thadden mit dem DKP-Vorsitzenden Kurt Bachmann verglichen worden. Ich halte das für einen groben Fehler!

Natürlich ist Kurt Bachman als Vorsitzender der revisionistischen DKP ein Arzt am Krankenbett des Kapitalismus, natürlich sind die Revisionisten eine Agentur des Klassengegners in der Arbeiterklasse, aber deshalb gleich den Boss der neuen Nazis, von Thadden, mit Kurt Bachmann zu vergleichen muss jeder, auch der KPD/ML wohlgesonnene DKP-Genosse, als Beleidigung empfinden. Was man auch über den Revisionisten Bachmann Negatives zu berichten weiß, eines aber sicher nicht: dass er mit den Faschisten paktierte oder paktiert. Er war immerhin jahrelang in faschistischen Konzentrationslagern und hat deshalb unter der Herrschaft der Faschisten enormes persönliches Leid erfahren und schon allein deshalb damals Gutes im Sinne der deutschen Arbeiterbewegung geleistet. Natürlich wiegt das nicht seinen heutigen Verrat auf. Der muss ganz klar analysiert und verurteilt werden, aber auf gar keinen Fall in dieser falschen Form. Wenn wir die guten Genossen der DKP für die KPD/ML gewinnen wollen, müssen wir uns vor solchen Fehlern hüten, denn das kann unsere gesamte Überzeugungsarbeit innerhalb der DKP zunichte machen. Ich bitte Euch deshalb das zu berichtigen und es in Zukunft zu vermeiden.

Vorstehende Kritik übersandte uns ein Kölner Genosse unserer Partei. Benutzen wir sie, um unser Verhältnis zur DKP/KPD - was in Wirklichkeit eins ist - zu untersuchen. Um welchen Satz im ROTEN MORGEN handelt es sich. Zitieren wir wörtlich: „Zwar unterscheidet Bachmann & Co. nichts von Thadden, Strauß, Kiesinger usw., mit denen sie gemeinsam auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, aber alles von Marx, Engels und Lenin, auf die sie sich heuchlerisch berufen …

Der Vergleich Bachmanns mit von Thadden ist es also, der den Kölner Genossen stört. Er selbst unterscheidet, indem er vom NPD-Boss und sachlich vom DKP-Vorsitzenden spricht. Vorsitzender also. Wir können es uns leicht machen, Lenin oder auch Stalin zitieren, die sich nicht scheuten, von ähnlichen Figuren wie Bachmann von Lakaien, parlamentarischen Kretins und Schuften (in Bezug auf Kautsky) zu sprechen. Oder will der Genosse den chinesischen Genossen den Vorwurf machen, dass sie Breschnew und Kossygin mit den alten imperialistischen Zaren vergleichen? Was würde er sagen, wenn Morgen die neuen Zaren im Kreml einen Aggressionskrieg gegen die Volksrepublik China! entfachen und ‚Vorsitzender‘ Bachmann ihnen jubelnd Beifall zollt?

Natürlich muss man differenzieren und kann nicht alles in einen Topf werfen. Insofern hat auch der Kölner Genosse recht. Zu kritisieren bezüglich des Satzes im ROTEN MORGEN ist auf jeden Fall das Wort „nichts“. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen Bachmann einerseits und von Thadden, Strauß und Kiesinger andererseits.

Zum Beispiel von den Letztgenannten weiß ein großer Teil der deutschen. Arbeiterklasse, dass sie die Vertreter der Interessen der Monopolbourgeoisie sind. Vom Erstgenannten weiß sie das nicht. Das aber macht das Wirken solcher Personen wie Bachmann so gefährlich, dass sie mit ihrer proletarischen Vergangenheit, ihrer Inhaftierung hausieren gehen, um ihre Verräterrolle zu verschleiern. Auch Kautsky und Trotzki hatten, bevor sie zu Verrätern an der Sache des Proletariats wurden, Beträchtliches im Sinne des Sozialismus geleistet, und auch der Renegat Wehner war in Emigration und einstmals Politbüro-Mitglied der KPD … Bachmann & Co. werden natürlich energisch auf ihren Kampf gegen die NPD hinweisen, wenn man sagen würde, sie paktierten mit Faschisten. Aber wer sagt denn, dass die offen auftretenden NPDler die einzigen Faschisten in der Bundesrepublik sind. Wer sagt denn, dass die offene Faschisierung der Bundesrepublik, die Umwandlung in einen faschistischen Staat über die NPD kommen muss?

Viel eher ist anzunehmen und alle Anzeichen deuten darauf hin, dass es die derzeit Herrschenden Kräfte in der CDU/CSU sein werden, die ihren Ausweg aus der Krise in der Errichtung einer faschistischen Diktatur suchen werden. Mit ihnen aber paktieren Bachmann & Co. in dem Sinne, dass sie es unterlassen, die Arbeiterklasse, die breiten Volksmassen zum revolutionären Sturz dieser Kräfte aufzurufen und zu organisieren. Stattdessen faseln sie vom friedlichen Übergang zum Sozialismus auf parlamentarischem Weg, leugnen die Notwendigkeit der Errichtung der Diktatur des Proletariats und versuchen den Massen einzureden, dass es notwendig sei, die „Demokratie“ zu erhalten und zu verbessern.

Das ist sklavische Haltung gegenüber den Sowjetrevisionisten. Das zeigte sich wieder einmal deutlich anlässlich des revisionistischen Gipfeltreffens in Moskaus. Versuchten andere Parteien im Zusammenhang mit den von den Sowjetrevisionisten geführten wütenden Angriffen gegen das sozialistische China, aus welchen Gründen auch immer, Zurückhaltung zu üben, beeilten sich die deutschen Revisionisten eifrig den Zaren im Kreml zu applaudieren … Ulbricht, Danelius, Reimann und Bachmann sind ihre sklavischen Nachbeter, die bedenkenlos alle Prinzipien des Marxismus-Leninismus über Bord geworfen haben, wann immer der große Bruder im Kreml es ihnen befiehlt …

Natürlich werden wir die Werktätigen in der DKP/KPD, die kleinen und mittleren Funktionäre nicht als unsere Feinde behandeln. Sie sind unsere Klassenbrüder, mit denen wir uns sachlich auseinandersetzen müssen, denen wir geduldig wieder und wieder aufzeigen müssen, worin der Verrat ihrer Führung besteht. Keinesfalls aber werden wir Typen wie Bachmann, Erlebach und Konsorten, die die Arbeiterklasse und die Außerparlamentarische Bewegung vom revolutionären Kampf abzuhalten trachten, schonen - und mögen sie eine noch so ‚gute‘ Vergangenheit haben … Wir haben kein Interesse daran, die Außerparlamentarische Bewegung zu spalten. Wir werden jedoch konsequent gegen alle Bestrebungen ankämpfen, diese Bewegung durch sozialdemokratische Phrasen zu zersetzen. Es ist unbedingt notwendig, dass sich alle fortschrittlichen und revolutionären Kräfte fest zusammenschließen zu einer antifaschistischen, anti-revisionistischen revolutionären Einheitsfront.“ (17)

Was sich hier offenbarte, war nichts anderes als der grausame theoretische Zustand, in dem sich die KPD/ML befand. Der Kampf gegen den Revisionismus entpuppte sich als Weltbild, das gesichts- und geschichtslos verzweifelt nach Alternativen suchte. Der Artikel repräsentierte die moralische und intellektuelle Verlumpung einer Partei, die antrat, um die die Verhältnisse in der BRD radikal umzugestalten. Man hatte sich in der KPD/ML zwar schon längst an Sehergabe und Traumwandeln gewöhnt, doch hier erschien es so, als ob sie einen unbarmherzigen und verwirrenden Ausblick auf ihr eigenes Fiasko wagte. Dieses KPD/ML-Konzept, das angedacht war, um mit dem Revisionismus aufzuräumen, war Ausdruck einer Bedürfnispolitik, die sich im tiefen Räsonieren über die aberwitzigen Theorien des Kölner Genossen äußerte.

War die Einlassung des Domstädters schon von einer Art Selbstreinigung und Selbsttherapie geprägt, so war die Antwort des ZK eine armselige Laienanalyse, die im salbungsvollen Ton gehalten, die lästigen Störenfriede gleich mit einer „Hauptgefahr“ gleichzusetzen gedachte.

„Viel eher ist anzunehmen und alle Anzeichen deuten darauf hin, dass es die derzeit herrschenden Kräfte in der CDU/CSU sein werden, die ihren Ausweg aus der Krise in der Errichtung einer faschistischen Diktatur suchen werden. Mit ihnen aber paktieren Bachmann & Co. in dem Sinne, dass sie es unterlassen, die Arbeiterklasse, die breiten Volksmassen zum revolutionären Sturz dieser Kräfte aufzurufen und zu organisieren. Stattdessen faseln sie vom friedlichen Übergang zum Sozialismus auf parlamentarischem Weg, leugnen die Notwendigkeit der Errichtung der Diktatur des Proletariats und versuchen den Massen einzureden, dass es notwendig sei, die „Demokratie“ zu erhalten und zu verbessern“, schrieb das ZK.

Gleich zwei Aussagen mit tonnenschwerer Bedeutung fielen einem hier auf. Zunächst das unwirtliche Grollen über die „derzeit herrschenden Kräfte in der CDU/CSU, die ihren Ausweg aus der Krise in der Errichtung einer faschistischen Diktatur suchen werden“, und zum anderen die mit ihnen „paktierenden Bachmann & Co …, (die) es unterlassen, die Arbeiterklasse, die breiten Volksmassen zum revolutionären Sturz dieser Kräfte aufzurufen und zu organisieren“.

Nahm man diese Aussagen beim Wort, dann war womöglich die KPD/ML hoffnungslos politisch überfordert. Im Unterton schwang mit, dass man sich auf die Errichtung einer „faschistischen Diktatur“ einrichten müsse. Das war nicht nur grob fahrlässig, sondern auch fern jeder Realität. Aber es passte ins Konzept der KPD/ML, mit dieser dilettantischen Aufgeregtheit Politik zu machen. Jedenfalls war diese eindrucksvolle Exegese die literarisch überformte Beschreibung der in der Phantasie verschmolzenen ideologischen Irrungen, die zugleich die „konterrevolutionäre Tätigkeit“ der DKP in Gestalt von „Bachmann & Co.“ beim Namen nennen konnte ohne rot zu werden.

Die Titulierung „konterrevolutionäre Tätigkeit“ der DKP, die in der Paktiererei bestehen solle, war natürlich stets immer Speerspitze und logische Ergänzung der chinesischen Polemik. Die Wiedergänger der alten KPD-Politik waren in ihrer politischen Friktion hartnäckig. Die DKP war wie eine Droge, der man alles anhängen konnte, was Usus war. Die Abgrenzung von ihr entbehrte nicht einer gewissen Heiterkeit, da die mißgeleiteten Kleinbürger auch dort wie „politische Gefangene“ ihr Unwesen trieben. Dass die DKP einen erheblichen höheren Arbeiteranteil zu verzeichnen hatte als die KPD/ML und dass sie nicht zum „revolutionären Sturz“ aufgerufen hatte, musste mit Schmerzen konstatiert werden. Das war dann auch gleichbedeutend mit dem kruden Ruf nach den Volksmassen, die nun ihre apokalyptischen Weltgefühle endlich im Produktions- und Klassenkampf rauslassen könnten.

Der Artikel „Die Angst der Herrschenden. Schlagt den Faschismus, wo ihr ihn trefft!“ führte aus: „Faschismus in Aktion. Wer war und ist für diese Untaten verantwortlich? Die, die da prügelten, traten, mordeten. Auch, aber die Hauptschuldigen sitzen im Hintergrund. 1933 wie 1969. Es ist die Monopolbourgeoisie, die Herren der Industriekonzerne und Banken und ihre gekauften Lakaien. 1933 Hitler, Göring, Goebbels - 1969 Strauß, Kiesinger, von Thadden. Hieß es damals Kampf den jüdisch-bolschewistischen Untermenschen - heißt es heute Kampf den 'Tieren der APO', den 'Rüpeln', der Außerparlamentarischen Opposition, denen man, wie Kiesinger unter dem Beifall von mehreren hundert Industriellen in Bonn erklärte, in dieser Bürgerkriegssituation richtig begegnen müsse …Was aber veranlasst die Herrschenden, so vorzeitig, ehe noch die Notstandsgesetze zur Anwendung kamen, die Maske fallen zu lassen?

Ist es allein der Wahlkampf, in dem sie durch Pogromhetze gegen die Außerparlamentarische Opposition Stimmen zu erhaschen hoffen? Nein, es ist ihre Antwort vor den Dingen, die nach der Wahl im Herbst 1969 auf sie zukommen. Sie wissen, dass auf die derzeitige Konjunktur die Krise so sicher folgen wird wie das Amen in der Kirche, und dass sie diesmal nicht mit einem blauen Auge davonkommen werden wie 1966/67. Deshalb ist es auch unlogisch, wenn jetzt einige Zeitungen, Liberale und Sozialdemokraten über von Hassel und Kiesinger herfallen, nur weil sie sagten, die NPD sei keine neonazistische Partei und der Demokratie drohe von der APO mehr Gefahr als von rechts. Natürlich haben von Hassel und Kiesinger subjektiv recht. Für Faschisten von alten Schrot und Korn ist die NPD keine neonazistische Partei. Es wäre ja auch geradezu komisch, wenn Nazis Nazis vorwerfen, Nazis zu sein. Wenn von Hassel und Kiesinger heute die NPD ‚entlasten‘, so zeigt das nur, dass die Monopolbourgeoisie die Zeit für gekommen hält, die NPD aus ihrer Rolle als Prügelknabe, auf den man hinweisen konnte, ‚seht, was sind wir doch für gute Demokraten‘ zu entlassen, um sie koalitionsfähig zu machen.

Auch was die Bedrohung der ‚Demokratie‘ betrifft, so haben sie zweifellos recht. Denn was von Hassel und Kiesinger unter ‚Demokratie‘ verstehen, ist die Diktatur der Monopolbourgeoisie, das Recht auf schrankenlose Ausbeutung der Werktätigen. Diese ‚Demokratie‘ wird von der NPD zweifellos nicht bedroht. Deshalb ist es auch unsinnig und heißt geradezu der herrschenden Klasse die Hasen in die Küche zu treiben, wenn SPD und DKP/ADF von einer Bedrohung der ‚Demokratie‘ durch die NPD sprechen, zu ihrer Verteidigung aufrufen, anstatt den werktätigen Massen klipp und klar zu erklären, dass dort wo die Monopolbourgeoisie herrscht, es keine ‚Demokratie‘ für das Volk geben kann, und dass es notwendig ist, um ein höheres Maß an Demokratie zu erreichen, die Diktatur des Proletariats zu errichten. Dadurch, dass sie dies nicht tun, erweisen sich die Führung der SPD und DKP als Filialen der Bourgeoisie im Lager der Arbeiterklasse. Bewiesen ist auch, dass in sozialdemokratischen Ländern die Knüppelgarde der Reaktion, die Polizei mit ebensolcher - wenn nicht noch größerer - Brutalität gegen demonstrierende Arbeiter und Studenten vorgeht, als in den CDU/CSU-regierten Ländern.

Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus den vorgenannten Fakten für uns? Einmal müssen wir uns im Klaren darüber sein, dass die herrschende Klasse vor ihrem unausweichlichen Sturz sämtliche Minen springen lassen wird, die ihr zur Verfügung stehen, dass sie selbst vor der Errichtung der total faschistischen Diktatur nicht zurückschreckt. Ob sie jedoch in der Lage dazu sein wird, liegt an uns. 1969 ist nicht 1933. Die Volksmassen der gesamten nichtsozialistischen Welt beginnen sich in zunehmendem Maße ihrer Unterdrücker zu erwehren. Auch unser Land wird keine Oase der Ruhe bleiben. Doch nur wenn es uns gelingt, ausgehend von den bestehenden Verhältnissen, eine richtige marxistisch-leninistische Strategie und Taktik zu entwickeln, uns eng mit den Volksmassen zu verbünden und dem bis ins kleinste durchorganisierten Unterdrückungsapparat der Herrschenden, die disziplinierte, organisierte Kraft der revolutionären Kräfte unseres Volkes entgegenzustellen, wird es uns gelingen, den Feind zu besiegen.“ (18)

Der Artikel „Schlagt den Faschismus, wo ihr ihn trefft“ entwickelte einen nationalen Masochismus, der als geläufiges Missverständnis durch die Linke der damaligen Zeit geisterte. Der Kampf der KPD/ML gegen den Faschismus war ein eigentümlicher neudeutscher Avantgardismus, der darin bestand, stets in exemplarischer Weise ein Menetekel an die Wand zu werfen, um sogleich diffuse „radikale Mehrheiten“ zu agitieren, die sich nun, wie es hier zum Ausdruck kam, als „Volksmassen“ beginnen, „in zunehmendem Maße ihrer Unterdrücker zu erwehren“. Der Kampf gegen den Faschismus war mehr ein Weltgefühl, das darauf insistierte, eine endzeitliche Massenbewegung in Gang zu setzen, die in der Kontinuität des „antifaschistischen Widerstandes“ stehe.

Offenkundig war schon die Parole „Schlagt den Faschismus, wo ihr ihn trefft“, von der sprachlichen Unbehaglichkeit einmal abgesehen, das Wunschbild schlechthin, dass auf tradierte Weise Linke aller Couleur zu begeistern schien. Es war eine neurotisierende Überforderung der gesamten Bewegung, die einer Domestizierung gleichkam und einen Selbstvernichtungstrieb beinhaltete. Die Formel beschränkte sich auf einen Prozess, der stets die ganze Welt zum Feind machte; denn dort, wo das „Lebensrecht des Stärkeren“ ist, dort ist auch Reaktion und Faschismus. Der Kampf gegen den Faschismus war nichts anderes als ein ideologisches Bezugssystem, das viel mit einem inflationären Kollektiven-Ich-Denken zu tun hatte.

Die Parole war eine einzige Bewusstseinsspaltung, der niemand zu recht Gefolgschaft leisten konnte. Sie war überaltert und stammte aus der Mottenkiste der KPD, die mit ihren Durchhalteparolen wie Ameisen in einem ihrer zerstörten Haufen hin- und her rann. Der Faschismus erschien als System. Als Hauptvorwurf sollte sich diese Formel sogar mehr als ein Jahrzehnt halten, ohne dass irgendwo eine inhaltliche Kritik aufkam. Damit wurde sogar fundamental die Gegnerschaft zum bürgerlichen Staat begründet, die flankierend zum Totalitarismus des Ostblocks einfach absorbiert wurde. Dass der Faschismus für die KPD/ML eine „Klassendiktatur“ war, war nicht neu. 1933 bekam so unterschwellig in der Gegenüberstellung zu 1969 ein ganz anderes Gewicht. Faschismus war einfach „repressiv“, „reaktionär“ und (nur!) tendenziös „antidemokratisch“, kurzum, er trug „totalitäre Tendenzen“. Das reichte der KPD/ML aus, um schnellen Schritts politisch zur Bewältigung der Vergangenheit zu schreiten.

„Doch nur wenn es uns gelingt, ausgehend von den bestehenden Verhältnissen, eine richtige marxistisch-leninistische Strategie und Taktik zu entwickeln, uns eng mit den Volksmassen zu verbünden und dem bis ins kleinste durchorganisierten Unterdrückungsapparat der Herrschenden, die disziplinierte, organisierte Kraft der revolutionären Kräfte unseres Volkes entgegenzustellen, wird es uns gelingen, den Feind zu besiegen …“, schrieb der „Rote Morgen“. Die weniger hellsichtigen Vermutungen, dass man sich nur mit den „Volksmassen zu verbünden“ bräuchte, um wie ein Chamäleon zur Verwandlung voranzuschreiten, entsprach der Theorie der Gutmenschen, die keine Defekte kennen und von vornherein eine „Ohne mich“-Mentalität entwickeln. Das kollektive Erbe der antifaschistischen Mobilisierungseffekte wurde hier einfach auf die Jetztzeit übertragen und mit demoskopischem Mehrheitsgedusel vermengt.

Die relativen Massen, die hier die „revolutionären Kräfte unseres Volkes“ sind, knüpfte an die schon seit der Gründung der KPD/ML schwelenden nationalen Positionen an. Die gereinigten heroischen Überdeutschen wurden von der KPD/ML mit einem individuellen Ehrenkodex belegt, den jeder Nationalsozialist bedingungslos unterzeichnen konnte. Was hier zu Tage trat, war eine einzige (organisierte) Bewusstseinsspaltung, die in Wahrheit nur ein Aufrechnungsdenken war, das belegt, dass die welke und historische Arbeiterkonkursmasse stillschweigend, versteht sich, unter den Fittichen der KPD/ML zur neuen „disziplinierten und organisierten Kraft“ wird.

Vielleicht war es genau die Doppelbödigkeit dieser Thesen, die die Funktionsträger der KPD/ML ins Erstaunen brachten. Dass das Bauwerk KPD/ML nicht von der bundesrepublikanischen Welt war, ahnten damals bereits viele, und dass die „kommunistischen Karrieren“ der Gründer mit vielen Fragezeichen versehen werden mussten, auch. Die „wahre“ Bewegungspartei mit ihrem fernöstlichen Denken, die permanent Politik und Ideologie verwechselte, die sich gegen die Verwestlichung durch die Amerikaner genauso wandte wie gegen die Veröstlichung der Bachmanns, Ulbrichts und Chruschtschows, war ihrem Gestus nach nichts anderes als linke Intellektuelle, die sich hauptsächlich durch ihre Absichten manifestierten.

„Dazibao“ hieß die Zauberformel, die nicht nur den Charakter der chinesischen Kulturrevolution mit Plakaten und Schriftzeichen, die die „Feinde der Revolution“ anprangerten, widerspiegelten, sondern die auch in bloßer demagogischer Verkleidung daherkamen und einen „unwahren“ Blick auf die Zustände der KPD/ML wagten; denn die Emigranten schossen sich mit einer ersten Schrift mit dem Titel „Das Hauptquartier bombardieren“, erstmals im August 1969 aus Westberlin kommend, gegen das ZK ein. Die Kampagne soll von Volker Magdalinski getragen worden sein, berichtete der Landesverband Süd-West (Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland) der KPD/ML-ZK: „Über den Inhalt dieser Auseinandersetzung erfuhr die Partei bis heute nichts, obwohl damit eine Säuberung verbunden war.“ (19)

Und die „Geschichte der MLPD“ meinte, dass das „Dazibao“ folgenden Inhalt hatte: „Diese gewissen führenden Parteigenossen und Rotgardisten haben die festgelegten Ziele der Partei und der Roten Garde längst hinter sich gelassen, nämlich die sozialistische Revolution in Deutschland und die Errichtung der Diktatur des Proletariats. Sie haben völlig die gestellten Aufgaben vergessen, nämlich die Arbeiterklasse für den revolutionären Kampf zu organisieren und vorzubereiten.“ (20)

Die Kommunikation schien hier schon entschieden unterbrochen worden zu ein. Die Szene schien mobil zu machen, obwohl sie zunächst nur im Diffusen agitierte. Die „gewissen führenden Parteigenossen und Rotgardisten“ konnten als Rivalen lokaler Führungscliquen bezeichnet werden, die die politische Spaltungslinie noch einmal zementierten und steigern konnten. Die Rhetorik, die da kam, stellte den Organisationstypus der KPD/ML für kurze Zeit in Frage, als es nämlich um die berühmten Gespräche in Westberlin (August 1969) mit den führenden SDS-Strategen Semler, Rabehl und anderen ging. Auf dieser ZK-Sitzung sollten auch, laut OG-Essen der RF-Organisation, der „SDS-Berlin und die KPD/ML miteinander verschmolzen werden“. Resultate sollen allerdings dort nicht erzielt worden sein. (21)

Man könnte darin den Versuch einer nicht organisierten Opposition sehen, den Machtantritt zu wagen, um in der KPD/ML eine Platzhalterrolle einzunehmen. Doch diese mögliche Perspektive sollte schnell verunmöglicht werden. Die noch im August stattfindende Untersuchung der sozialen Zusammensetzung der KPD/ML in NRW brachte hervor, dass sie etwa zu „60 Prozent aus Schülern und Studenten, Lehrkräften und Selbständigen“ bestehen würde, der Rest (etwa 40 Prozent) seien „Arbeiter und Betriebsangestellte“. (22)

Indes wurde bekannt, dass das Bochumer Komitee der Sozialistischen Arbeiter und Studenten ab August 1969 Intellektuellenzirkel in Bochum organisieren würde, worüber kurze Zeit später Peter Weinfurth im KJ-Inform und dem neugegründeten KPD/ML-Zentralbüro stolpern sollte. In diesen sollen SDS-Mitglieder, aber auch ESG-Mitglieder organisiert gewesen sein. Dabei soll es ab diesem Zeitraum bis ca. Dezember 1969 Kontakte zu folgenden Gruppen gegeben haben: RC Gelsenkirchen, RC Wattenscheid, RC Essen, RSJ Wuppertal, SB Wuppertal, SALZ Bochum, Lehrlingsgruppe Bochum, Sozialistischer Arbeitskreis Bielefeld, SALZ Dinslaken, SJD - Die Falken Duisburg, Sauerlandgruppen (Hagen, Schwerte, Iserlohn). (23)

Jetzt ging es Schlag auf Schlag. Noch im August wurde bekannt, dass in der linken Bewegung ein Papier über die italienische Unione (möglicherweise von Uwe Greiner aus Frankfurt/M. in Umlauf gebracht?) kursiere. Danach zeichnete sich die Unione durch folgende Punkte aus: „Konzentration auf die Arbeiter, Volkskrieg in Italien, Konzentration auf die bäuerlichen Massen, Erstellung der Klassenanalyse vor der Parteibildung, Parteiaufbaukonzeption von einer starken Führung ausgehend, Kollektivierung und Neuverteilung des Eigentums, Errichtung von befreiten Gebieten in Italien, Selbstorganisation des Volkes“. (24) Gerd Genger, Mitglied der Betriebsgruppe 1 und baldiger Polit-Leiter des Zentralbüros der KPD/ML, soll in dieser Zeit in Italien mit „Mitgliedern der Unione dei Communisti Italiani (Marxisti-Leninisti) zusammengetroffen“ sein. (25)

Alles schien somit auf die „Septemberbeschlüsse 1969“ hinauszulaufen. Wenngleich auch die KPD/ML zu dieser Zeit schon hoffnungslos intellektuell „überwuchert“ war, so soll der Zustrom von Intellektuellen doch wohl enorm gewesen sein. In Berlin, Bochum, Köln, Frankfurt/M. und anderswo strömten sie zur KPD/ML. Um eine Konzentration auf die Betriebe zu erreichen und „Betriebsarbeiter“ zu werben, schlug Dickhut auf der Plenumssitzung des ZK am 6. und 7. September 1969 vor: „

  1. Die Verhandlungen bezüglich der Fusion mit führenden SDS-Genossen sind einzustellen und in Zukunft nicht zu führen.
  2. Auf unbestimmte Zeit ist eine Kandidatensperre für Studenten, Schüler und Lehrkräfte die Regel. Ausnahmen beschließt jeweils das ZK.
  3. Die systematische Werbung von Arbeitern und Betriebsangestellten ist die derzeitige Hauptaufgabe der Partei.“ (26)

Die Stellungnahme der Berliner-Gruppe der KPD/ML lautete u. a.: „Ich bitte das ZK, diese Beschlüsse noch einmal zu überprüfen. Es ist unmöglich diese Beschlüsse zu propagieren. Einmal ist die Behauptung, dass damit die allgemeine politische Linie der Partei festgelegt wird, ein ganz unangebrachter, alberner Witz. Außerdem fehlt jede Begründung dieser Beschlüsse. Eine solche Begründung ist aber dringend erforderlich, weil sich diese Beschlüsse keineswegs unmittelbar aus den Prinzipien des Marxismus-Leninismus ableiten lassen.

Beschluss 1: Dieser Beschluss kann Verwirrung stiften, weil er über die Bedingungen der Zusammenarbeit mit Genossen außerhalb der Partei und ihrer Jugendorganisation nichts aussagt. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es (auch im SDS) eine Reihe von Genossen gibt, die gute Marxisten-Leninisten sind oder sich auf dem Weg dazu befinden …

Beschluss 2: Wenn jemand Kandidat oder Mitglied werden will, darüber steht im Statut einiges. Das Wesentliche ist, ob der Genosse die richtigen, marxistisch-leninistischen Standpunkte vertritt. Wenn das der Fall ist und der Genosse zur Parteiarbeit geeignet ist, dann ist er in die Partei aufzunehmen, egal, ob er Arbeiter, Student oder sonstwas ist … Was macht das ZK? Es beschließt, dass jemand deshalb nicht in die Partei rein soll, weil er Schüler, Student oder Lehrkraft ist. Und das wird dann noch als politische Linie der Partei ausgegeben. Ist das nicht wirklich bodenlose Handwerkelei?

… Ich schlage vor, Beschluss 2 durch einen neuen Beschluss zu ersetzen, der etwa so lauten könnte: ‚In der gegenwärtigen Situation ist die Gefahr besonders groß, dass kleinbürgerliche Elemente in die Partei eindringen und dort Verwirrung stiften. Solche Elemente wollen die Partei von ihren Aufgaben abhalten, das Proletariat zum revolutionären Kampf zu erziehen und in diesem Kampf die Führung zu übernehmen. Stattdessen wollen sie aus der Partei einen sektiererischen und undisziplinierten Haufen machen. Alle Grundorganisationen der Partei müssen diese Gefahr sehen und durch richtige Maßnahmen bekämpfen. Dabei ist eins besonders wichtig: Bei der Bestimmung von neuen Kandidaten und Mitgliedern muss besonders vorsichtig vorgegangen werden. Über die politische Arbeit jedes einzelnen Genossen, der Kandidat oder Mitglied werden will, sind genaue Untersuchungen anzustellen. Diese Untersuchungen müssen bei solchen Genossen besonders ausführlich sein, die nicht sowohl ihrer Ausbildung als auch ihrer augenblicklichen Tätigkeit nach als Proletarier anzusehen sind …

Beschluss 3: Es ist kein Zufall, dass in diesem Beschluss von ‚Werbung‘ gesprochen wird. Dieser Begriff ist mit jeder marxistisch-leninistischen politischen Arbeit völlig unvereinbar … Hätten wir eine politische Linie, hätten wir bald auch eine Massenbasis im Proletariat und mehr proletarische Kader. Das Fehlen der politischen Linie soll jetzt dadurch vertuscht werden, dass wir Werbung - also Waschmittelreklame wie die bürgerlichen Parteien - bei den Arbeitern und Betriebsangestellten betreiben. Durch solche Werbeaktionen werden wir nicht die Avantgarde des Proletariats aus dem Proletariat herausbilden …“ (27)

Damit stand der KPD/ML ihre erste große Spaltung bevor. Im Wesentlichen ging es bei diesen Beschlüssen darum, zu verhindern, dass die in der Studentenrevolte gescheiterten „Kleinbürger“ sich zu „Führern der Arbeiterklasse“ aufschwingen konnten. Dass gerade Dickhut für diese Beschlüsse verantwortlich war, entbehrt nicht einem Schmunzeln; denn die KPD/ML meinte, mit ihnen ihren „besonderen proletarischen Charakter“ beweisen zu müssen. Dabei hatte die KPD/ML schon seit ihrer Gründung Beamte und Angestellte zu „Proletariern“ gemacht und durch ihre „Organisations-Mitteilungen“ klar gestellt, dass nach einer 3-jährigen „Bewährungsfrist“ die „Umwandlung“ erfolgen könne, wenn die Kandidaten ihre Arbeit im Betrieb nachweisen und dokumentieren könnten.

Auf der Novembersitzung des ZK der KPD/ML wurde folgender Beschluss gefasst: „Dem ZK lagen auf der letzten Sitzung mehrere kritische von Ortsgruppen erarbeitete Stellungnahmen zu den Beschlüssen vom 6./7. September vor. Dabei wurde vor allen Dingen ausgesetzt, dass bei den Beschlüssen keine konkrete Anleitung mitgegeben war. Zum Inhalt der Beschlüsse wurde zu bedenken gegeben, dass eine Kandidatensperre auf Grund der Klassenzugehörigkeit die Gefahr des Schematismus und des Sektierertums in sich schließen und dadurch die revolutionäre, marxistisch-leninistische Bewegung zurückwerfen könnte. Es wurde eingewandt, dass die Beschlüsse möglicherweise statutenwidrig seien. Bei seiner ausführlichen Diskussion darüber stellte das ZK fest, dass ihm das allseitige Erfahrungsmaterial zu einer endgültigen Stellungnahme fehlte. Deshalb wurde beschlossen, die Diskussion über die entsprechenden Beschlüsse auf allen Ebenen der Partei - in engster Verbindung mit den Massen - allseitig durchzuführen.

Die Ausarbeitung einer Stellungnahme wird in der Regel folgendermaßen zustande kommen: Zunächst wird das Problem in der Grundorganisation diskutiert; anschließend wird die Meinung der Parteimassenorganisationen und schließlich die der außerhalb stehenden revolutionären Kräfte eingeholt und in die Diskussion der Partei einbezogen. Die Ergebnisse werden in ausführlicher Form schriftlich niedergelegt und der nächst höheren Leitung bis zum 1. Dezember 1969 übermittelt.“ (28)

Auf seiner Sitzung am 17./18. Januar 1970 hob das ZK der KPD/ML die „Septemberbeschlüsse“ gänzlich auf und meinte: „Diese Beschlüsse wurden von einem Genossen des ZK fertig vorgelegt. Gegen die Gefahr des Schematismus dieser Beschlüsse wurden Einwände erhoben. Es gelang, den Passus über mögliche Ausnahmeregelungen, der in der ursprünglichen Formulierung nicht enthalten gewesen war, einzufügen. In Abwesenheit eines wichtigen Genossen wurden die Beschlüsse dann einstimmig angenommen. Das lässt sich vom heutigen Standpunkt aus nur erklären, keineswegs jedoch rechtfertigen. Keinem der ZK-Mitglieder waren damals die Meinungen der Ortsorganisationen in einer so schwerwiegenden Weichenstellung bekannt, auch eine genaue historische Analyse der Erfahrungen marxistisch-leninistischer Parteien mit Kandidatensperren ging nicht voraus, ebenso wenig wie eine ernsthafte Analyse der Rolle revolutionärer Intellektueller im allgemeinen und der der BRD im besonderen. Das ZK fasste also einen schematischen und bürokratischen Entschluss. Es beging zudem den Fehler, diesen Beschluss ohne eingehende Begründung und Anleitung zur Durchführung an die Basis zu leiten …

Es entstanden nun zwei Standpunkte, die man kurz so zusammenfassen kann: auf der einen Seite wurde behauptet, das ZK dürfe auf keinen Fall die einmal gefassten Beschlüsse wieder in Frage stellen oder gar aufheben, es stelle damit nur unter Beweis, dass es unfähig zu seiner Leitungsfunktion sei. Die Mehrheit des ZK war dagegen der Ansicht, dass auch und gerade das ZK zur Kritik und Selbstkritik verpflichtet sei und dass es keineswegs eine inzwischen als falsch erkannte taktische Politik weiter durchführen dürfe … Selbstverständlich ist es richtig, dass gefasste Beschlüsse durchgeführt werden müssen. Das bezieht sich auf die Parteigremien, die mit der Durchführung beauftragt sind, in diesem Falle die Ortsorganisationen. Also war und ist bis jetzt der Beschluss über die Kandidatensperre gültig und musste respektiert werden … Eine andere Frage ist die, ob das Beschlussgremium, in diesem Falle das ZK, einen einmal gefassten Beschluss auch dann bis zum bitteren Ende aufrechterhalten soll, wenn es seine Gefährlichkeit und Schädlichkeit erkannt hat …

Der schematische und bürokratische Beschluss vom September 1969 war ein Fehler, der den Seeleuten unter der Bezeichnung ,Kurs verlieren‘ wohl bekannt ist. Er hätte uns daran gehindert, marxistisch-leninistische Intellektuelle für die Partei zu gewinnen. Deshalb muss dieser Fehler korrigiert werden, damit die Partei auf dem alten, richtigen Kurs weiter vorwärts marschieren kann. Speziell für Intellektuelle sei entscheidend, ob sie wie Mao Tse-tung sagt, dazu bereit sind, sich mit den Massen der Arbeitern und Bauern zu verbinden und ob sie es auch wirklich tun. Intellektuelle, die diese Bedingungen erfüllen, müsste die Partei aufnehmen, so meinen die Stellungnahmen. Das ZK teilt voll und ganz diese Ansicht. Es hat daher die September-Beschlüsse aufgehoben.“ (29)

Mit den „Septemberbeschlüssen“ ging es um nichts anderes als die Wiederaufnahme der Politik der KPD von 1956, die vor ihrer „Entartung zum Revisionismus revolutionär“ gewesen sein soll. Mit dieser Geschichtsmythologie ging Dickhut daran, die alten sozialdemokratischen und arbeiteraristokratischen Positionen der KPD zur Klassenherkunft in der KPD/ML zu verankern. Zusammen mit dem Abdruck der Stalinschen Thesen zur „Bolschewisierung“ im „Roten Morgen“ in der Dezember 1968/Januar 1969-Ausabe bildeten die „Septemberbeschlüsse“ eine bolschewistische Maskerade. Der Aufnahmestopp, den das ZK wieder zurücknahm, dokumentierte nur das illusionäre System der KPD/ML. Später, im KABD, sollten auch sie wieder ausgesetzt werden, da sich angeblich die „soziale Zusammensetzung“ der Mitglieder verbessert hatte. Dieser naive Proletenkult wurde von Dickhut im „RW“ 4/1970 mit den Worten umschrieben: „Wenn bei Arbeitern eine Abneigung gegen Intellektuelle entsteht, dann sind die Intellektuellen selbst schuld.“ (30)

Offenbar gab es tatsächlich in der KPD/ML die Auffassung, dass ein „revolutionäres Bewusstsein“ der Arbeiterklasse objektiv vorgegeben sei und dass es spontan hervorbrechen würde. Ob es hier eine Beziehung zum „gesunden Volksempfinden“ der Nazis gibt, könnte gemutmaßt werden; denn der Dickhutsche Versuch, Intellektuelle zu säubern, dürfte dem Modell einer Zähmung und/oder Domestizierung ziemlich nahe gekommen sein.

Gegen den schroffen Versuch, sie zu vertreiben, machte an vorderster Front die Westberliner Gruppe der KPD/ML mobil. „Hätten wir eine politische Linie, hätten wir auch bald eine Massenbasis im Proletariat und mehr proletarische Kader. Das Fehlen der politischen Linie soll jetzt dadurch vertuscht werden, dass wir Werbung - also Waschmittelreklame wie die bürgerlichen Parteien - bei den ‚Arbeiter- und Betriebsangestellten‘ betreiben. (31)

Der Kampf zwischen diesen Positionen wurde somit „nur“ zu einer Auseinandersetzung zwischen verschiedenen politischen Ansichten, woraus Dickhut seine „proletarische Linie“ machte. Diese widersprüchlichen Momente mussten beunruhigend wirken. Da Anspruch und Wirklichkeit in der KPD/ML weit auseinanderklafften, musste der inhaltslosen Programmatik ein Riegel vorgeschoben werden. Die „Orientierung auf die Betriebe“ sollte die erhoffte Korrektur bringen. Doch mehr als Kosmetik kam dabei nicht heraus. Mit seinen organisatorischen Maßnahmen, die auf die personelle Auffüllung mit Proletariern abzielten, konnte der „proletarische Charakter der Partei“ nicht verbessert werden. Die „kleinbürgerliche Denkweise“ entpuppte sich eher als „idealistische Denkweise“.

Die erläuternde und korrigierte Mitteilung des ZK aus dem Oktober 1969 mit dem „Schwerpunkt in den Betrieben“ (32) verdeutlichte das gesamte Dilemma. „Unsere Aufgabe ist es, wenn wir den Namen der Avantgarde zu Recht tragen wollen, den Arbeitern, den Kollegen zu helfen, sich zu organisieren zur gesamten deutschen Arbeiterklasse, den ökonomischen Kampf der Arbeiter in einen bewusst geführten Klassenkampf zu verwandeln.“ (33)

Der „September 1969“ verwandelte sich nun in eine Bekenntnispartei, wobei der politische Kampf als Ungenauigkeit durchging und die Verwandlung der KPD/ML sogar aus der „reaktionären Rolle des DGB“ abgeleitet wurde: „Was wir im DGB haben, ist nicht nur ein antisozialistischer, ein reaktionärer, sondern auch ein arbeiterfeindlicher Gewerkschaftsverband. Heißt das nun, dass - wie uns von gewisser Seite unterstellt wurde - dass wir die Genossen und Kollegen auffordern, aus der Gewerkschaft auszutreten? Wir wären schlechte Marxisten-Leninisten, wenn wir nicht Lenins Ratschlag befolgen, selbst in den reaktionärsten Organisationen zu arbeiten. Zumal in diesen Organisationen Arbeiter, Kollegen sind. Nur wie arbeiten? Sollen wir uns darauf beschränken, den ökonomischen Kampf des Proletariats zu fördern? Nein. Unsere Aufgabe muss es sein, den Arbeitern helfen, sich zu organisieren, den ökonomischen Kampf der Arbeiter in einen bewusst geführten Klassenkampf zu verwandeln.

Wie organisieren? In der Partei? Hier sind wir wieder am Ausgangspunkt unserer Betrachtung und dem undifferenzierten Satz: ‚Die systematische Werbung von Arbeitern und Betriebsangestellten ist die derzeitige Hauptaufgabe der Partei‘. Sprechen wir von der Partei, müssen wir unbedingt die vier vom Genossen Georgi Dimitroff aufgezählten Kriterien der Kaderpolitik anwenden: Vollkommene Hingabe, engste Fühlung mit den Massen, die Fähigkeit, sich selbständig in jeder Situation zu orientieren. Disziplin. Gehen wir von diesen Forderungen aus, ergibt sich von selbst, dass es unmöglich ist, die Masse der Arbeiter und Betriebsangestellten in der Partei zu organisieren. Für den Eintritt in die Partei gilt für jeden, ob Arbeiter, Angestellter, Lehrling, Schüler, Student, dass er erfüllt ist vom revolutionären Bewusstsein …“ (34)

Die Beschlüsse schienen faktisch auszureichen, um der KPD/ML das Antlitz eines „bewussten Vortrupps“ zu geben. Indem sie die Umorientierung der „kleinbürgerlichen Intellektuellen“ anstrebte, hätte sie sich bereits genügend Grundlagen für den politischen Kampf geschaffen. Nicht erklären wollten oder konnten die „Septemberbeschlüsse“, was denn nun die Hauptaufgabe der KPD/ML sei? Ging noch aus „Schwerpunkt in den Betrieben“ hervor: „Unsere Aufgabe muss es sein, den Arbeitern helfen, sich zu organisieren, den ökonomischen Kampf der Arbeiter in ein bewusst geführten Klassenkampf zu verwandeln“, so wurde der „proletarische Kurs“ drei Monate später wieder zunichte gemacht. Das stieß auf den Widerstand der „proletarischen Kräfte“. Dickhut zog sofort nach und meinte, dass er „die Verantwortung über die Folgen des am Ende der Sitzung gefassten Beschlusses des ZK nicht übernehmen“ könne. (35) Trotzdem war der Schritt des ZK enorm und erstaunlich; denn Aust und die Mehrheit des ZK stellten sich auf die Seite der „kleinbürgerlichen Liquidatoren“, während Dickhut sich isoliert zurückzog und seine Idee der reinen proletarischen Partei nachsinnte. Erst viel später sollte sich herausstellen, dass der Wechsel der Standpunkte für beide Seiten zu einer Überlebensfrage werden sollte. Während Aust auf dem a. o. Parteitag der KPD/ML im Dezember 1971, auch wegen seiner ewigen Taktiererei, abgestraft wurde, konnte Dickhut sich wenigstens eine Zeitlang im Licht des Landesverbandes der KPD/ML NRW sonnen, der der Theorie-Fraktion eine Abfuhr erteilte. Hier schien er zunächst für seine „proletarische Linie“ Bündnispartner gefunden zu haben.

Der September 1969 kann als eine Art persönlicher Fehde bezeichnet werden. Weder ging es um eine organisatorische Rekonstruktion noch um einen programmatisch-theoretischen Ansatz der KPD/ML. Es ging schlicht um den Versuch, auf dem Schachbrett eine Strategie für die eigenen Versäumnisse zu entwerfen. Der Buhmann war schnell gefunden, es waren die „kleinbürgerlichen Intellektuellen“, die aus der KPD/ML eine „Studierstube“ machen wollten. Dass Dickhut von dem „Praxis“-Modell des LV NRW begeistert war, bedarf keiner Erwähnung mehr. Hier fand er wenigstens zeitweilig Unterstützung. Die „Klassenkämpfe anheizen“ - dieses geflügelte Wort wurde zum Glaubensbekenntnis, das an allen Orten und in allen Betrieben endlich eingelöst werden sollte.

Die September-Ausgabe des „Roten Morgen“ 1969

Im September 1969 wurde die westdeutsche Wirtschaft von großflächigen Streiks in der Stahlindustrie, der Metallindustrie, im Bergbau und in der Chemieindustrie überrascht. Das klassische Kampfmittel des 20. Jahrhunderts tauchte „spontan“ wieder auf. Obwohl die sog. „wilde“ Streikbewegung fest in den Händen von DKP-Betriebsgruppen, SPD-Linken, Vertrauensleuten und Betriebsräten der DGB-Gewerkschaften war, konnte ihr eine gewisse Spontaneität nicht abgesprochen werden. Die Forderungen waren überall ähnlich: Es ging um Lohnerhöhungen zwischen 20 und 30 Pfennig und Bezahlung der Streiktage, gegen Repressalien gegenüber den Streikenden, aber nicht um die Herausbildung einer neuen Opposition, die sich unter die Fahnen einer neuen Gruppe stellte oder stellen wollte.

Aber die Septemberstreiks wurden auch ein Mythos. Zu meinen, dass damit endgültig eine soziale Bewegung ihre Visitenkarte abgab, gehörte in den Bereich der Fabeln, wie auch die Tatsache, dass in den Streiks keine politischen Forderungen erhoben worden waren. Eine Wiederholung der Septemberstreiks gab es nicht mehr, vor allem nicht in der bekannten Form. Mehr als 140.000 Arbeiter in über 70 Betrieben beteiligten sich in einem Zeitraum von 18 Tagen an den Aktionen. In der Linken galt dieses „Wiedererwachen der Klassenkämpfe“ als eigentlicher Aufbruch. Womöglich lag hier mit ein entscheidender Grund für die Herausbildung der K-Gruppen und ihre Übersiedlung ins „Herz des Proletariats“. Fast alle Gruppierungen sollten sich ab 1970 vor den Betrieben, in denen es Aktionen gegeben hatte, die Hand geben. Bei Hoesch in Dortmund z. B. verteilten gleich über 20 Gruppen ihre Traktate. Ähnliches galt für den Schalker Verein in Gelsenkirchen (ehemals Rheinstahl), Mannesmann (Duisburg), für den Bergbau an Rhein und Ruhr und im Saarland, Teile der Chemieindustrie, die Howaldt-Werke in Kiel usw. Die KPD/Aufbauorganisation (später KPD) verlegte ihre Zentrale nach Dortmund. Der KABD seinen Sitz nach Gelsenkirchen.

„Nicht (mehr) mit uns“ oder „Alle reden vom Wetter, wir nicht“, das berühmte Plakat, das die Konterfeis von Marx, Engels und Lenin trug, radikalisierten die Aufbruchsstimmung noch um ein Erhebliches. Dass die Spaltung oder Lähmung der bundesrepublikanischen Realität, die allgemein der CDU/CSU zugeschrieben worden war, hier hineinfiel, war ebenso klar. Doch die politische Zäsur blieb aus. Selbst der Machantritt der sozialliberalen Koalition in Bonn im Herbst 1969 wurde nicht zum eigentlichen Fanal. Ostpolitik, technokratisches Reformvorhaben und zögerliche Reformen brachten selbst die, die den kommenden organisatorischen Vorstellungen der maoistischen Gruppen kritisch gegenüber standen, nur zögerlich, wenn überhaupt, in die Radikalität.

Zwar schrieb Johannes Agnoli mit Peter Brückner „Die Transformation der Demokratie“ (36), rechneten mit dem bürgerlichen Parlamentarismus ab, sprach mit Herbert Marcuse, dem Guru der Studentenbewegung vom „Klassenkampf“ und folgerte: „Damit ist aber auch gezeigt, wie bedeutsam für die gesellschaftliche Funktion des Staates die ‚Überwindung‘ des Proletariats beim Kampf der Parteien um die Besetzung des öffentlichen Herrschaftsapparates wird …“ (37), doch Konsequenzen hatte das nicht nach sich gezogen. Während Hans Apel mit seinem Beitrag zum „Deutschen Parlamentarismus“ (38) die letzten Bastionen der berstenden Demokratie zu verteidigen versuchte, setzte Karl Schiller mit seiner „Konzertierten Aktion“ die „Formierte Gesellschaft“ von Ludwig Erhardt fort. Auch die wirtschaftlichen Probleme schienen sich deutlich zu verschärfen (39); denn die Unternehmergewinne schienen nach der Überwindung der Rezession ins Unermessliche zu steigen. Das dürfte ungefähr der Hintergrund für die die September-Ausgabe des „Roten Morgen“ gewesen sein. Dieser erschien 1969 mit dem Leitartikel:

Roter Morgen, September 1969
Roter Morgen, September 1969

„JETZT SPRICHT DIE ARBEITERKLASSE.

Ein weiterer bürgerlicher Mythos ist zusammengebrochen: der Mythos, dass die westdeutsche Arbeiterklasse angeblich völlig 'integriert' sei, kein Klassenbewusstsein mehr habe und nicht mehr kämpfen könne. Die umfassendste Streikbewegung seit 1963 hat diesen bürgerlichen Mythos, der auch in der kleinbürgerlich-revolutionären APO weit verbreitet ist, innerhalb einer Woche völlig zerfetzt und vom Tisch gefegt. Was bedeutet die gewerkschaftliche nicht organisierte Streikbewegung vom September 1969? Hier gilt es, 'links-radikale' Illusionen und Fehleinschätzungen ebenso zu vermeiden wie Revisionismus und Opportunismus. Zunächst die objektive Situation: in der stahlschaffenden Industrie wie auch im Bergbau war die Position der Arbeiter während der Rezession von 1966/1967 besonders schwach gewesen, da in diesen Branchen zu der Produktionskrise noch eine Strukturkrise gekommen war. Die Drohung, auf die Straße gesetzt zu werden, kann kein einzelner Arbeiter auf eigene Faust Widerstand entgegensetzen. Die Organisation der Arbeiter jedoch, die reformistische Gewerkschaft, 'konzertierte' sich lieber zu Lasten der Kumpels mit den Kapitalistenbossen, als dass sie Kampfmaßnahmen zur Abwehr der Kapitaloffensive traf.

So kam es zu einer erheblichen Schrumpfung der Reallöhne durch Streichung von Zulagen, Weihnachtsgratifikationen usw. So kam es, dass die IG Metall noch im Juni 1968, als die Rezession längst überwunden war, ein ausgesprochen mieses Tarifabkommen abschließen konnte, das zwar sehr gut in die 'konzertierte Aktion' zur Steigerung der Profite passte, die Arbeiter jedoch mit läppischen 5 Prozent abspeiste. Sehr bald danach zeigte sich, wie die Kumpels geneppt worden waren: die Stahlkonjunktur überschlug sich wie nie zuvor, es entstand ein schwarzer Markt, auf dem die Richtpreise bis zu 250 Prozent übertroffen wurden - und den Kumpels, die bereits wieder Überstunden in mörderischer Hitze schinden mussten, bekamen noch einmal ganze 2 - sprich zwei Prozent! Dass sie überhaupt weiter stillhielten, liegt nur darin, dass es eben keine völlig 'spontanen' Aktionen geben kann, dass wenigstens ein Embryo von Organisationen bestehen muss, um einen Arbeitskampf zu beginnen und durchzustehen.

Wie die wirkliche Stimmung bei den Kumpels war, zeigten bereits die von den Gewerkschaften nicht legitimierten Streiks um höheres Weihnachtsgeld in den Krupp-Stahlwerken Essen, Rheinhausen und Bochum zu Allerheiligen 1968. Damals bereits bildete sich jener neue Typ von Streik heraus, der sich nun auf das halbe Bundesgebiet ausgebreitet hat: Die Empörung und Kampfbereitschaft der Arbeiter wurde schließlich von einigen, meistens DKP nahestehenden Vertrauensleuten unterstützt. Daraufhin wurde die Arbeit ohne Einverständnis von Gewerkschaftsbürokratie und Betriebsrat niedergelegt. Bereits damals zeigte sich jedoch auch schon die eigene Dialektik dieser neuen Streikbewegung: die jungen Arbeiter versuchten nämlich, die Büros zu stürmen und zu besetzen (möglicherweise unter dem Einfluss der Fernsehberichte über die Arbeiterkämpfe in Frankreich), was natürlich auch den Revisionisten zu weit ging und von ihnen verhindert wurde.

Die Rolle der Revisionisten in diesen Streiks ist dabei ein wichtiges Element der Analyse: hierbei ist festzuhalten, dass der Revisionismus ein Ganzes ist, bestehend aus der revisionistischen Theorie ('friedlicher Weg' usw.), revisionistischen Organisationsstrukturen (Bürokratisierung, Trennung von den Massen) und revisionistischer Praxis (Verrat der Arbeiterklasse durch 'Konzertierung' mit der Ausbeuterklasse). Nun ist es jedoch durchaus möglich, dass einzelne der DKP angehörende oder ihr nahestehende Vertrauensleute nur eine revisionistische Theorie haben, nicht aber eine revisionistische Organisationsauffassung und Praxis - anders ausgedrückt, dass sie engen Kontakt zu den Kumpels haben und keineswegs bereit sind, sie zu verraten. Bei diesen Vertrauensleuten wird sich entweder die Theorie der Praxis oder aber die Praxis der Theorie anpassen müssen. Dazu lässt sich bereits jetzt folgendes sagen: die Bourgeoisie hat bereits geschaltet und ihre Konsequenzen gezogen. Am 9. September brachte die FAZ als Aufmacher eine Erpressung der Revisionisten. Unter dem Titel 'Wilde Streiks von Linksradikalen geplant und geführt' verbreitete sie Gräuelmärchen von DKP-Leuten gegen Manager der Hoesch-Werke (in Dortmund, d. Vf.). Dieses Elaborat erfüllt einen durchsichtigen Zweck: man droht den Revisionisten an, sie wieder zu verbieten und ihnen damit ihre ganze schöne Wahlkampfmühe zuschanden zu machen, wenn sie nicht ihre Vertrauensleute härter an die Kandare nehmen.

Als Marxisten-Leninisten können wir voraussagen, dass die DKP-Bürokratie diesen Wink mit dem Zaunpfahl verstehen und entsprechend handeln wird. Wir können also ebenfalls voraussagen, dass auf die entsprechenden Vertrauensleute eine Zerreißprobe zukommen wird. In den jetzigen Streiks hat die DKP noch Aktionen in die Hand genommen, die 'ein wenig außerhalb der (bürgerlichen) Legalität' waren: sie tat das - nur in der sicheren Annahme, dass diese Streiks sehr rasch zum Erfolg führen würden. Das war bei der jetzigen Lage auf dem Arbeitsmarkt und bei den ungeheuren Sonderprofiten der Stahlbosse nicht schwer vorauszusehen. Die DKP erhoffte sich davon einen Prestigegewinn vor den Wahlen sowie eine Stärkung ihrer Position gegenüber der DGB-Bürokratie. Doch erstens kam es wieder einmal anders, und zweitens als die Herren Revisionisten dachten: Sicherlich hatten sie nicht mit einem 'Mai-Effekt' ihrer Aktionen gerechnet. Sicherlich hatten sie nicht damit gerechnet, dass die Bewegung in wenigen Tagen auf Bremen, Niedersachsen, das Saarland, Baden-Württemberg und Bayern übergreifen würde.

Sie hatten den Monopolen einen Nadelstich versetzen wollen, aber sie konnten nicht wissen, dass es einen so lauten Knall gab. Eine Lawine war ins Rollen gekommen: durch den Streik in Geislingen (Baden-Württemberg), wo bereits seit dem 1. September die 8-Prozent-Tariferhöhung offiziell galt, geriet das ganze 'konzertierte' Tarifsystem, das ständig steigende Unternehmerprofite sichern soll, durcheinander. Außerdem griffen die Kumpels zu Kampfformen, die den Revisionisten höchst unheimlich vorkommen müssen: Besetzung strategisch wichtiger Punkte im Werk (Telefonzentrale, Verwaltung) nach dem Vorbild der französischen Klassenbrüder. Die Revisionisten gleichen dem Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nämlich die Geister des Klassenkampfes, nun nicht mehr beherrscht.

Was folgt nun daraus für die KPD/ML?

Zunächst einmal bewundern wir uneingeschränkt den hervorragenden Kampfgeist der Kumpels in der Stahlindustrie und im Bergbau. Wie oft hatten wir doch im letzten Jahr gehört, 'so etwas wie in Frankreich wäre bei uns nie möglich, weil unsere Arbeiter lahm wären'. All diese nicht marxistisch-leninistischen Einschätzungen sind nun endgültig widerlegt. Man kann sagen, dass die streikenden Kumpels Marcuse, Habermas usw. ideologisch getötet haben. Die hysterische Propaganda der Bourgeoisie gegen 'wilde' Streiks (so nennen sie die berechtigte Selbstverteidigung der Arbeiter gegen die wilde Ausbeutung) zeigt, dass man beim Klassengegner durchaus verstanden hat, dass diese Streiks trotz der rein ökonomischen Forderungen einen bedeutenden Aufschwung des Klassenkampfes in der Bundesrepublik bedeuten. Wir verurteilen daher 'links-radikale' Besserwisserei (etwa, wenn bemängelt wird, dass die Hoesch-Arbeiter 'So ein Tag so wunderschön wie heute' sangen) und Phrasendrescherei (wenn abstrakt getadelt wird, der Streik sei 'nicht politisiert' gewesen usw.). Wir wissen natürlich auch, dass solche Streiks solange keine weitergehende Perspektive haben können, als sie letztlich von Reformisten und Revisionisten noch, wenn auch nur mit Mühe, kanalisiert werden können.

Daraus folgt für uns die absolute Notwendigkeit, alles, aber auch alles zu tun, damit in absehbarer Zeit in allen wichtigen Fabriken Marxisten-Leninisten jene Rolle des Organisations-Embryos erfüllen können, die augenblicklich - mangels Alternative - noch die DKP spielt. Wir müssen also begreifen, dass die Streikbewegung vom September 1969 uns vor schwerwiegende organisatorische Probleme stellt: Die Arbeiterklasse muss in allem die Führung innehaben!“ (40)

Das Lavieren des „Roten Morgen“ hinsichtlich der Jugend- und Studentenbewegung war hier deutlich wie nie zuvor. Der entscheidende Satz der Ausgabe war indes: „Man kann sagen, dass die streikenden Kumpels Marcuse, Habermas usw. ideologisch getötet haben …“

Dass die Septemberstreiks in dieser Weise verklärt wurden, war nur konsequent. Endlich hatte der „Rote Morgen“ seine kämpfende Arbeiterklasse gefunden, die auch „Klassenbewusstsein“ besitze und „kämpfen könne“. Es war natürlich ein Wunschbild, mit dem man hausieren ging. Und ein Credo der Notwendigkeit. Der gewerkschaftliche Verteilungskampf wurde einfach in eine proletarische Erklärung umgewandelt. Seit dieser Zeit gilt der Mythos Hoesch, der gleichzeitig in die Option einmünden sollte, dass die Arbeiterklasse nun von alleine den Weg zur proletarischen Partei finden werde. Diese utopische Rückwendung war insgesamt charakteristisch für den klassischen Revolutionarismus, der jede kleine Regung der lohnabhängig Beschäftigten zum Anlass nahm, in ihnen die Wurzeln des Klassenkampfes zu entdecken.

Die Oktober-Ausgabe des „Roten Morgen“ 1969

Wohl als Folge der ersten „Dazibaos“, der Septemberbeschlüsse und des Aufstandes an Rhein und Ruhr dürfte die Oktober-Ausgabe 1969 des „Roten Morgen“ mit dem Artikel „Schwerpunkt in den Betrieben“ erschienen sein. Der Artikel ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass es nun der „denkenden Klasse“ an den Hals gehen würde. Die Widersprüche schienen offen auszubrechen. Einerseits hatten die Septemberstreiks für die KPD/ML die Wirkung, dass sie meinte, endlich die „revolutionäre Kraft“ am Horizont erblicken zu können, andererseits war der Artikel die plumpe Beschreibung dessen, was allgemeinhin mit politischem Unbehagen zum Ausdruck gebracht werden kann. Natürlich flogen diejenigen, die sich der „proletarischen Denkweise“ verpflichtet sahen, auf die Septemberstreiks und auf die Tatsache, dass es endlich dem „Roten Morgen“ gelang, sich auf die Arbeiterklasse zu konzentrieren.

So konnte er auch mit Stolz vermelden, dass vor zahlreichen Betrieben während der Streikaktionen Flugblätter der Partei verteilt worden waren und das Zentralorgan „Roter Morgen“ verkauft worden war. Auch das Flugblatt „Schluss mit der Herrschaft der Millionäre und ihrer Lakaien, in Staat, Regierung, Gewerkschaft, Parteien“ (41) soll reißenden Absatz gefunden haben. Wenn man es genau nimmt, waren durch die Septemberereignisse die Studenten als „objektive Bündnispartner des Proletariats“ (42) endgültig passee.

Dass Enver Hoxha etwa zur gleichen Zeit meinte: „Die Jugend der kapitalistischen Welt ist auf der Suche nach der Wahrheit, und die Wahrheit führt sie zur Vereinigung mit der Arbeiterklasse, zur Revolution und wird sie bestimmt weiter dazu führen“ (43), schien niemanden zu interessieren.

Später hieß es sogar: „Die westdeutschen Studenten schreiten aber wie immer auf dem Weg des konsequenten Kampfes gegen die kapitalistische Unterdrückungsordnung für die sozialistische Revolution, für ein vereinigtes, unabhängiges sozialistische Deutschland, indem sie ihren Kampf mit dem Kampf des Proletariats vereinigt unter der Führung seiner Partei, der Kommunistischen Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten … Die siegreichen Ideen des Marxismus-Leninismus werden die Köpfe und Herzen der Studenten der ganzen Welt erobern und sie mit der Klasse der Proletarier und der Weltrevolution verbinden. Vereinigt werden sie die kapitalistische Staatsmacht gewaltsam stürzen und den Sozialismus aufbauen.“ (44)

Die leichtgläubige KPD/ML meinte tatsächlich, dass die Treue zum proletarischen Ideal über alle Klippen hinweg hilft. Mit der „Säuberung“ der Parteien von den „kleinbürgerlichen Elementen“ war die Begründung der bolschewistischen Idee, wie sie u. a. in den „Thesen zur Bolschewisierung“ zum Ausdruck kam, nicht mehr hieb- und stichfest. Es war kein Zufall gewesen, dass die nachträgliche Legitimierung des „erwachenden Bewusstseins des Proletariats“ mit den Septemberstreiks zusammenfiel. Das „Hineintragen des wissenschaftlichen Sozialismus“ in die Arbeiterklasse“ wurde zu einem Vollzugsorgan, das über die Partei sogleich an Ort und Stelle gebracht wurde. Folgerichtig übrigens, wie es das Zentralbüro der KPD/ML kurze Zeit später mit seinen Unterstützungsgruppen praktizierte, wobei der Unsinn der Parteimacher gerade darin bestand, dass sie selbst als Intellektuelle, die jedoch im Unterschied zu diesen, die „Avantgarde“ bildeten, tätig waren. Niemand in der KPD/ML konnte somit die Richtigkeit einer Theorie, falls es sie je gegeben haben sollte, überprüfen. Diejenigen, denen sie gebracht wurde, sowieso nicht, und diejenigen, die sie ausgearbeitet hatten, standen ständig in dem Dilemma, sie praktisch überprüfen zu müssen, obwohl es dafür nirgendwo ein Kriterium gab.

Die Artikel „Jetzt spricht die Arbeiterklasse“ und „Schwerpunkt in den Betrieben“ waren auch noch aus anderen Gründen bemerkenswert. Die Philosophie wurde in ihnen zum toten Buchwissen degradiert, die „naturgesetzlich“ das Eintreffen der Vorhersagen der KPD/ML über ihren eigenen Status nur staunend zur Kenntnis zu nehmen hatte. Wer vor diesen dürftigen Artikeln steht, dem fällt sehr bald auf, dass die Intellektuellen-Fresser der KPD/ML nur verbale Zugeständnisse an das damals zur Mode gekommene Proletariat machten. Dass die KPD/ML selbst zu einem erheblichen Teil aus der Studentenbewegung kam, sich allenfalls durch die Berufung auf die Ahnen des Marxismus-Leninismus auszeichnete und eine gewisse Eigendynamik entfaltete, dürfte als Fakt konstatiert werden.

Das Verhältnis der KPD/ML zur Studentenbewegung ging vom Umschmeicheln bis zur traditionellen Verteufelung. Dazwischen lag nur die Agonie. Und später musste dann das „Erstgeburtsrecht“ der Gründung (45) herhalten, sämtliche Fehler der KPD/ML wurden mit der „Jugend der Partei“ begründet. Auch „Stalin hat Fehler gemacht“ wurde fast schon zu einem geflügelten Wort. Beide Artikel grenzten sich deutlich von der Jugend- und Studentenbewegung ab. Mit diesem Bewusstsein beseelt würde sich das politische Gefüge der Partei nun nicht mehr als auf Sand gebaut erweisen. Dass die zerfallende Studentenbewegung sich gerade mit diesen Artikeln der KPD/ML kaum auseinandergesetzt hatte, kann im Nachhinein nur als offene Schelte bezeichnet werden. Es war ein Eingeständnis des Bankrotts der KPD/ML, die außer ihrer Gründungslegitimation und ihren Prinzipien nur Glaubenskriege führte und im Zweifelsfall mit der Schleuder „Revisionismus“ kam, um Kritiker mundtot zu machen. Der Spannungsbogen schien mit den besagten Artikeln endgültig erreicht zu sein.

Der Oktober 1969 brachte nicht die angekündigte Wende. Weder der Artikel „Schwerpunkt in den Betrieben“ noch die Ausrichtung auf die Betriebe nahm einen übergeordneten Stellenwert ein. Sie ergaben eher ein instruktives Muster, bestehend aus Selbstgerechtigkeit und wachsender Unzufriedenheit an der Basis. Vom Landesverband Süd-West des ZK der KPD/ML hieß es rückblickend: „In dieser Zeit (ab Oktober 1969, d. Vf.) fand im ZK eine Auseinandersetzung über wichtige Fragen der Politik und des Parteiaufbaus statt, die sich besonders an der Frage der Aufnahmepolitik entzündeten … Anstatt in der Partei eine breite offene Diskussion zu entfalten, anstatt den Kampf zweier Linien in die gesamte Partei zu tragen, wurden die Differenzen vor der Partei verschwiegen … Die bürgerliche Linie des Verschweigens von Richtungskämpfen, die eine revisionistische Linie darstellt, zieht sich ebenfalls durch die gesamte Entwicklung der Partei und hat der Partei schwer geschadet … Kurz vor diesen Kämpfen wurden noch andere Kämpfe verschwiegen. Die Aufnahmepolitik des 1. Org.-Leiters drohte die Partei zu einem Tummelplatz von Elementen der verschiedensten politischen Richtungen zu machen.“ (46)

Die „Elemente der verschiedensten politischen Richtungen“, die sich in der KPD/ML zusammenfanden, waren eher dem subtilen Spiel aus Zufällen, Neigungen und Kontakten zuzuschreiben. Vermutlich war deshalb die KPD/ML zunächst der Ort, wo sich der verlängerte Arm einer organisierten Opposition jenseits der Sozialdemokratie zusammenfand. Das spezifische Milieu änderte sich mit dem Aufkommen weiterer linker Gruppen, die sich in den Großstädten etablierten und die wie Platzhirsche um ihre Einflussgebiete kämpften. In den sogenannten „Hochburgen“ der Gruppen und Verbände lagen die linken Angebote praktisch auf der Straße. Wenn es dennoch dem „Roten Morgen“ nicht gelang, sie dort aufzulesen, dann wohl deshalb, weil die „Halbwüchsigen“ der Bewegung der politisch-moralischen Autorität kaum trauten und es vorzogen, dem lebenden Popanz den Rücken zu kehren. Das Sammelsurium der Partei, das trotz gefälschter Statistiken des Landesverbandes NRW nach wie vor aus studentischen Kräften bestand, konnte selbst Dickhut nicht ableugnen. Zwar wurde in schwülen Wendungen dem Industrieproletariat gehuldigt, doch es war nichts anderes als eine schon ins Phantastische gedrehte Arbeitertümelei.

Roter Morgen, Oktober 1969
Icon Roter Morgen, Oktober 1969

Bizarre Wendungen gab es im „Roten Morgen“ immer wieder. In der Oktober-Ausgabe erschien u. a. der Leitartikel „Vorwärts im Geiste des Oktober 1923“. Ausgeführt wurde: „Am 23. Oktober 1923, vor 46 Jahren, stand der revolutionäre Vortrupp der Hamburger Arbeiterklasse auf den Barrikaden, griff der beste Teil der Arbeiterschaft zum Gewehr und nahm den Kampf gegen die kapitalistischen Unterdrücker auf. Der Hamburger Aufstand entsprang der revolutionären Situation vom Herbst 1923 … In Hamburg kam es am 20. Oktober 1923 zu zahlreichen Zusammenstößen zwischen Polizei und Arbeitern. Dabei zeigte sich, dass auch viele Kleinbürger und in einigen Fällen sogar die Polizei mit den demonstrierenden Arbeitern sympathisierten. Als am 22. Oktober die Nachricht eintraf, dass die Reichswehr in Sachsen einrückte, legten die Hafen- und Werftarbeiter sofort die Arbeit nieder. In der Nacht vom 22. zum 23. Oktober wurde der Aufruf des Reichsbetriebsräte-Ausschusses der Hamburger Parteiorganisation der KPD von der Zentrale zugestellt und verteilt… Die Hamburger Parteiorganisation, von Ernst Thälmann, im Geiste des Marxismus-Leninismus geschult, stand zum Kampf bereit. Sie hatte einen sogenannten Ordnerdienst (OD) geschaffen, der den militärischen Kern der proletarischen Hundertschaften bildete ...

Am 22.10. nachts beschloss die Bezirksleitung der KPD Wasserkante den Aufstand für den 23. Oktober 5.00 Uhr früh … Im Verlaufe des Aufstandes spielten die Kämpfe im damaligen Arbeitervorort und heutigen Stadtteil Barmbek eine entscheidende Rolle … Am zweiten Tag des Kampfes erhielt die Polizei Verstärkung. Lübecker Polizisten, der Kreuzer 'Hamburg' und zwei Torpedoboote wurden entsandt. Zur Unterstützung der reaktionären Horden kreisten Flugzeuge über Barmbek. Rund 6.000 Mann Polizei und Militär mit schweren Waffen ausgerüstet, versuchten Barmbek zu stürmen. 300 entschlossene Arbeiter mit wenig Munition leisteten ihnen hartnäckigen Widerstand. Als Genosse Thälmann feststellen musste, dass er isoliert mit den Hamburger Arbeitern kämpfte, gab er den Befehl zum Rückzug. Diszipliniert, wie der Aufstand begonnen hatte, wurde er auch beendet … Warum scheiterte der Hamburger Aufstand? Er scheiterte, weil er isoliert blieb … Die Hauptursache des Scheiterns des Hamburger Aufstandes war das Fehlen einer einheitlich handelnden Partei …

Neben der Hauptursache des Scheiterns des Hamburger Aufstandes gibt es noch mehrere Nebenursachen … Der Aufstand führte zur Niederlage, weil er isoliert blieb, weil er nicht in Sachsen und im ganzen Reich sofort unterstützt wurde … Als besonderer Mangel wurde in den Hamburger Oktobertagen das Fehlen einer starken Rätebewegung empfunden … Die größte, wertvollste Lehre des Hamburger Aufstandes ist die großartige Erfüllung der Rolle der Kommunistischen Partei in der proletarischen Revolution … Die kommenden Sieger über die Bourgeoisie müssen durch unzählige Teilkämpfe erzogen, vorbereitet und organisiert werden. Und es ist auch die Hauptaufgabe unserer Partei in der jetzigen Periode … Denn eins ist sicher, auch unter der Brandt-Regierung werden sich die Klassenauseinandersetzungen verschärfen.“ (47)

Nun ist die Mär des „Hamburger Aufstandes“ seit Werner T. Angress: „Die Kampfzeit der KPD 1921-1923“ historisch endgültig widerlegt. (48) Der Artikel des „Roten Morgen“, der aus dem Nachlass der KPD zusammengeraubt war, spiegelte nur die offiziellen Verlautbarungen der KPD wider. Der KPD gelang es noch nicht einmal, ihre eigenen Mitglieder für den Aufstand zu mobilisieren. Von ca. 18.000 Hamburger Kommunisten nahmen etwa nur 150 aktiv an den zwei Tage dauernden Barrikadenkämpfen teil. Mit dem Aufstand verbindet sich weitgehend die Vorstellung von einem „deutschen Oktober“, der das Startsignal für die deutsche Revolution sein sollte, mit der das EKKI unter Sinowjew (als Leiter) endlich auch den Durchbruch in Deutschland schaffen wollte.

Die Rolle, die die KPD hierbei spielte, ist höchst umstritten; denn das Politbüro der RKP (B) beschloss im August 1923 die Bereitstellung erheblicher militärischer und finanzieller Mittel für die Durchführung einer deutschen Revolution. Dass auf einer gemeinsamen Beratung mit Vertretern der KPD das EKKI, den „Hamburger Aufstand“ für den Oktober (auf Vorschlag von Trotzki) festlegte, sollte nicht unerwähnt bleiben. Insofern war die KPD nur Befehlsempfänger. Die Revolutionsvorbereitungen hingen auch engstens mit der Einheitsfronttaktik zusammen, die „realisierte Sofortmaßnahmen“ einforderten, ohne die eine erfolgreiche Revolution im Sande verlaufen musste.

Der Artikel des „Roten Morgen“ ließ aber keinen Zweifel daran aufkommen, dass einer Geschichtsschreibung gehuldigt wurde, die bar jeder Realität war. Von einem „Scheitern des Hamburger Aufstandes“ kann nicht im Entferntesten geredet werden. Eigentlich gab es keinen Aufstand; denn es existierten keine wirklichen Vorbereitungen. Die KPD scheiterte in Hamburg vor allem auch deswegen, abgesehen von der Frage, ob ein solcher Konflikt in Hamburg überhaupt wünschenswert gewesen war, weil es ihr nach der Chemnitzer Arbeiterkonferenz vom 20. Oktober 1923 nicht gelang, eine breite Mobilisierung zu erzielen.

Ebenfalls ist die Rolle Ernst Thälmanns beim Aufstand in Hamburg höchst umstritten. Der Mann der politischen Organisation der KPD in Hamburg war Hugo Urbahn, der von Sinowjew ab dem 1. Oktober die Anweisungen für die Organisierung des Aufstandes erhielt. Hans Kippenberger wurde mit der militärischen Organisation beauftragt. Er und andere dürften eher von dem Ehrgeiz getrieben worden sein, Hamburg an Stelle von Sachsen zum Vorort der deutschen Revolution zu machen.

Heinrich August Winkler führte zum „deutschen Oktober“ aus: „Die Verantwortung für den Fehlschlag trugen nicht, wie die Komintern und die Parteilinke seit Anfang 1924 behaupteten, die ‚opportunistischen‘ Kräfte um Heinrich Brandler. Die Schuld traf vielmehr in erster Linie jene, die im August 1923 die Chancen einer deutschen Revolution falsch eingeschätzt und hierauf eine abenteuerliche Strategie begründet hatten: Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale in Moskau und seine linken Gefolgsleute in der Führung der KPD.“ (49)

Die November-Dezember-Ausgaben des „Roten Morgen“ 1969

War schon die Oktober-Ausgabe des „Roten Morgen“ davon beseelt, den „Schwerpunkt“ der politischen Arbeit in die „Betriebe“ zu verlagern, so kann die folgende Ausgabe als „Von der kühnen Improvisation zu einer phantastischen Überspannung“ bezeichnet werden. Zunächst berichtete die Ausgabe von der ersten Ausgabe der Betriebszeitung „Unsere Stimme“ der KPD/ML-Betriebsgruppe bei der Schallplattenfirma Electrola in Köln und der Zeitung „Der Rote Fordarbeiter“ in Köln.

Roter Morgen, November/1. Dezember_Ausgabe 1969
Roter Morgen, November/1. Dezember-Ausgabe 1969

„Den Klassenkampf organisieren“, hieß es dazu im Leitartikel: „Was können wir daraus lernen? Dass (Betriebszeitungen) … ein ausgezeichnetes Mittel zur Agitation und Propaganda im Betrieb sind. Dieses Mittel gilt es nach den gegebenen Möglichkeiten in vollem Umfang zu nutzen. Doch nicht nur als Agitator und Propagandist sind solche Zeitungen wertvoll, sondern auch als Organisator. Als Organisator Roter Betriebsgruppen, als Organisator von Streiks und Arbeitskämpfen … Der Klassengegner hat schon heute erkannt, welche Gefahr ihm vom Erscheinen marxistisch-leninistischer Betriebszeitungen droht. Während die Unternehmer die Betriebszeitungen der DKPisten im Allgemeinen ungeschoren lassen, reagieren sie auf das Erscheinen unserer Zeitungen hysterisch. Brutal werfen sie jeden Genossen, jeden Kollegen aus dem Betrieb, von dem sie annehmen, er sei an der Herausgabe der Zeitung beteiligt. Das heißt für uns, wachsam zu sein. Wir haben kein Interesse daran, dass unsere Genossen und die mit uns Sympathisierenden entlassen werden … (50)

Es ging auch hier um nichts Genaues, außer eben um das Allgemeine, was mit der Herausgabe von innerbetrieblichen Propagandaschriften verbunden war: Organisation von Streiks und die Führung von Arbeiterkämpfen. Es ging aber auch um ein weitgefächertes Ziel: „Wir müssen beim Schreiben unserer Betriebszeitungen immer unser Ziel vor Augen haben: Die Organisierung des proletarischen Klassenkampfes mit dem Ziel, die politische Macht zu erobern, die Produktionsmittel zu vergesellschaften, den bürgerlichen Staatsapparat zu zerschlagen und an seiner Stelle die Diktatur des Proletariats zu errichten.“ (51)

Die fanatischen Bemühungen, per Klassenkampf „den bürgerlichen Staatsapparat zu zerschlagen“, liefen darauf hinaus, ein hilflos und kopflos gewordenes Feindbild zu erhalten, mit dem das fiebererregende linke Vorbild der politischen Kultur in Deutschland bekannt geworden war. Dieses fossile Urgestein wollte einfach nicht aus den Köpfen verschwinden. Und viel schlimmer war die emotionale Bindung an den Parolismus, der hier schon so lebensfremd wirkte, dass er nur noch als Halluzination wirken konnte. Der Artikel, der einer von vielen mit einer ähnlichen Stoßrichtung war, präsentierte den brühwarmen Rausch der Selbstbeauftragung, demzufolge die patentierte Weltlösung nur über den bewaffneten Sturz der Kapitalistenklasse zu haben war.

Das authentische Erbe der Revolution bildete für die KPD/ML einen eigenen politischen Kontext, indem sich alle politische Taktik, jede Politik und jede Analyse zu einer globalen Strategie zusammenfanden. Es war aber auch die Revolutionsstrategie der KI, die sich hier niederschlug: „Jeder Betrieb sei unsere Burg“, lautete sie. Es konnte auch nicht verwundern, dass es im „Gemeinsamen Organ von KAB (ML) und KPD/ML (RW) „Lernen für den Kampf. Richtlinien für die Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit“ hieß: „Die beste Wirkungsstätte zur Herausarbeitung einer solchen Kampftaktik (gemeint war die Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, d. Vf.) ist der Betrieb, vor allem der Groß- und Mittelbetrieb. Darum müssen alle Kommunisten, die in Betrieben arbeiten, in Betriebsgruppen bzw. Stützpunkten organisatorisch erfasst werden. Die Organisierung in Betriebsgruppen hat unbedingt Vorrang gegenüber den Wohngebietsgruppen. Die Betriebsgruppe hat die Aufgabe, eine systematische politische Arbeit im Betrieb zu leisten.“ (52)

Jene Prinzipien und Positionen, die die maoistischen Gruppen mit den Riten der alten KP paraphrasierten, verschmolzen in der Phantasie zum legendenhaften selbstlos gewordenen Kommunisten, der die rote Fahne hochhält und sich mit den Besten des Proletariats zusammenschließt. Dass ausgerechnet die „Rote Ford-Arbeiter-Zeitung“, jene Zeitung, die die Kölner Ortsgruppe der KPD/ML quasi vom SDS übernehmen sollte und die von Günter Ackermann redigiert worden war, als Vorbild dargestellt wurde, dürfte an bombastischer Arroganz kaum zu überbieten gewesen sein: denn seine „revolutionäre Betriebszelle“ war eine reine Ein-Mann-Unternehmung gewesen.

Die „Rote-Betriebsgruppe“ bei Ford in Köln, die von „Unsere Stimme“ (53) flankiert worden war, zeichnete sich übrigens auch durch jene Fußangeln aus, die in der gesamten Linken üblich waren: Man log sich ständig selbst etwas in die Tasche. Die „schlaflosen Nächte der Bosse“, die ihnen durch die Zeitung(en) bereitet worden waren, wurden mit einer solchen Selbstverständlichkeit vorgetragen, dass der Glaube daran, jene Yü-Gung Berge (54) versetzen konnte, die am Ende nur noch als Fossil übrig blieben.

„Sie deckte schreiende Missstände in diesem Werk auf, wie z. B. die unterschiedliche Entlohnung von Männern und Frauen, sie entlarvte einige Betriebsfunktionäre als faschistische Antreibertypen - kurzum ‚Unsere Stimme‘ traf ins Schwarze.“ (55)

Dass die Zeitungen, die mit zu den ersten in NRW gehörten, „schreiende Missstände aufdeckten“ und Betriebsfunktionäre als „faschistische Antreibertypen“ charakterisierten, passte in diesen virtuellen Geschichtsraum wie die berühmte Faust aufs Auge. Der Zerknirschung über diesen Artikel im Zentralorgan, der auch nicht überall auf Gegenliebe gestoßen war, hatte zur Konsequenz, dass für eine lange Zeit kein betrieblicher Artikel im „Roten Morgen“ erschien. Das Pulver der KPD/ML war somit vorzeitig verschossen.

Die 2. Dezember-Ausgabe des „Roten Morgen“ hatte dann auch nichts mehr zu bieten. Mit dem Abdruck einer Enver Hoxha-Rede „Keine Kraft kann den siegreichen Vormarsch der Völker aufhalten und die völlige Vernichtung des Imperialismus und Revisionismus verhindern“ (56) begab sich die KPD/ML in den Tiefschlaf. Und wurde urplötzlich durch die Auseinandersetzungen im Landesverband NRW wieder aus diesem gerissen. Maßte sich doch gerade dieser Landesverband an, abtrünnig zu werden.


Teil 5: Das Jahr 1970 (erstes Halbjahr)

Hauptseite Theorie

Aufruf der RG NRW: Das Hauptquartier bombardieren! (Gelsenkirchen, 4.3.1970)
Bild vergrößern Aufruf der RG NRW: Das Hauptquartier bombardieren!

Die Frage danach, was dazu führte, dass sich das ZK der KPD/ML mit der Theoriefrage beschäftigte, kann letztlich nur aus der Konfrontation mit der eigenen Praxis beantwortet werden. Die Theorielosigkeit, die seit der Gründung bestand, hatte sicherlich zu einer Anhäufung von Problemen geführt, die insgesamt mit dem Versuch, den Marxismus in der Praxis anzuwenden, zusammenhingen. Immer wieder stieß die KPD/ML dabei auf einen Dschungel von nebeneinander konkurrierenden Auffassungen über den Weg, den die Partei zu nehmen hätte. Die Frage nach der Organisierung der Marxisten-Leninisten wurde ebenso unzureichend beantwortet, wie auch jene, die mit zu einer ersten Spaltung führen sollte: Das Verhältnis zu den Studenten. Jene „kleinbürgerliche Überwucherung der KPD/ML“ (1), die die Tendenz zur kompletten Stagnation der Tätigkeit der KPD/ML in sich trug, sollte sich seit dem September 1969 noch einmal deutlich verschärfen.

Die Erschütterungen brachten bundesweit Rebellion hervor, die zwar primär vom Landesverband NRW der KPD/ML getragen wurde, die aber auch an anderen Ortsgruppen nicht spurlos vorüber gehen sollte. Der LV NRW konnte durchaus als Zentrum einer ersten größeren „Rebellionsbewegung“ gegen das ZK bezeichnet werden, wenn von der „Dazibao-Kampagne“ der Westberliner Gruppe einmal abgesehen wird. Der LV war es auch, der sehr früh mit der ersten Ausgabe des „Bolschewik“, der bezeichnenderweise den Titel „Das Hauptquartier bombardieren“ trug, Front gegen alles, was mit dem ZK zu tun hatte, machte.

Zunächst sollte es dabei um die Frage nach dem Theorie-Praxis-Verhältnis (2) gehen. Darum herum gruppierten sich andere Fragen, etwa die, die die Selbständigkeit des Jugendverbandes betrafen, Fragen des Aufbaus der Partei um ein Zentrum herum, Leitung und Organisierung des Klassenkampfes usw. Nachdem das ZK der KPD/ML auf seiner Januar-Sitzung 1970 die „Septemberbeschlüsse 1969“ aufgehoben hatte und Willi Dickhut kurzzeitig Landesvorsitzender von NRW geworden war, um dann ab März 1970 die Funktion als Leiter der Kontroll-Kommission zu übernehmen, sein Modell von der praxisorientierten KPD/ML ohne Kleinbürger in diesem LV zunächst noch am ehesten zu verwirklichen gedachte, spitzten sich die Widersprüche durch einen Artikel in der Januar-Ausgabe 1970 des „Roten Morgen“ merklich zu.

Dort veröffentlichte das ZK den Artikel: „Bauen wir eine starke bolschewistische Partei auf!“. Er war in vier Teile untergliedert:

  1. Warum braucht das Proletariat eine Partei?
  2. Warum braucht das Proletariat eine bolschewistische Partei?
  3. Wie bauen wir jetzt die bolschewistische Partei auf?
  4. Schwerpunkt in der Theorie.

Der Artikel begann mit: „Die moderne Geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen. In der Epoche des Kapitalismus ist es der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, welcher der Geschichte seinen bestimmenden Stempel aufdrückt. Wie der Marxismus beweist, wird dieser Kampf mit der Erringung der politischen Macht des Proletariats und des Übergangs zur klassenlosen Gesellschaft ohne Privateigentum enden. Triebkraft dieser Entwicklung ist in der Epoche des Kapitalismus das für die Erlangung seiner politischen Herrschaft kämpfende Proletariat. Wie in aller bisherigen Geschichte noch keine Klasse zur Herrschaft gelangt ist, ohne ihre eigenen politischen Führer hervorgebracht zu haben, die fähig waren, die Bewegung zu organisieren und zu leiten. Um ihrer Klasse am wirkungsvollsten dienen zu können, schließen sich die besten und aktivsten Vertreter jeder Klasse in einer Organisation zusammen, die Partei genannt wird. Eine Partei ist die politische Organisation einer Klasse, die deren besten und aktivsten Vertreter, die immer nur eine Minderheit der Klasse ausmachen, vereinigt um den Kampf der gesamten Klasse mehr Wucht zu verleihen.

Auch die Führer der Arbeiterbewegung schließen sich in einer Partei zusammen, um ihrer Klasse noch besser dienen zu können. Genau wie die anderen Klassen braucht das Proletariat eine eigene Partei, die fähig ist, seinem Kampf größere Wucht zu verleihen. Es gibt jedoch einen Umstand, der der Existenz einer Partei des Proletariats besondere Notwendigkeit verleiht: Zusammen mit der historischen Herausbildung des Kapitalismus vollzogen sich relativ unabhängig voneinander einerseits die Entwicklung einer spontanen Arbeiterbewegung, andererseits die Entwicklung der Wissenschaft bis zur Stufe der Aufdeckung der objektiven Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung, die besagen, dass das Proletariat zur herrschenden Klasse und zur vollständigen Emanzipation durch Liquidierung des Privateigentums gelangen wird, während sich alle anderen Klassen ihm unterzuordnen haben. Von dieser Entwicklungsstufe der Wissenschaft an war es offensichtlich, dass das Proletariat fortan als einzige Klasse ein Interesse an konsequenter Wissenschaftlichkeit hat, da anders als bei den übrigen Klassen die objektiven Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung mit seinen Interessen zusammenfallen.

Die andere Entwicklung, die spontane Arbeiterbewegung entsteht auf Grund der sich ständig verschärfenden Ausbeutung, die das Proletariat am eigenen Leibe erfährt und der es sich widersetzt. Infolge seiner elenden Klassenlage ist es jedoch dem Proletariat nicht möglich, über die sinnliche Erfahrung der Ausbeutung hinauszukommen und den Sprung zur rationalen Erkenntnis zu vollziehen. Wegen der raffinierten Verschleierung der kapitalistischen Ausbeutung ist diese nur durch wissenschaftliche Analyse zu erkennen, sie offenbart sich nicht in der Erscheinungsform der gesellschaftlichen Verhältnisse, die der Arbeiter sinnlich erfährt. So neigt der Arbeiter spontan immer eher der bürgerlichen Ideologie zu, die die Erscheinungsformen der gesellschaftlichen Verhältnisse als deren Wesen ausgibt, um den Kampfeswillen der Arbeiter in für die Bourgeoisie ungefährliche Bahnen zu lenken. Die spontane Arbeiterbewegung ist daher blind, ein Schiff ohne Kompass, das die Bourgeoisie in die Irre führt, wenn sie sich nicht von einer wissenschaftlichen Theorie leiten lässt, die das Wesen der gesellschaftlichen Verhältnisse bloßlegt und die realen Bedingungen ihrer Veränderbarkeit zeigt.

Das das Proletariat unter den Bedingungen des Kapitalismus jeglicher Möglichkeiten der wissenschaftlichen Betätigung beraubt ist, kann diese wissenschaftliche Theorie, der dialektische und historische Materialismus, der Marxismus-Leninismus, dem Proletariat nur von außen, von Vertretern der Intelligenz gebracht werden. Daran hat nicht nur das Proletariat Interesse. Die Vertreter der Intelligenz, deren Weltanschauung der dialektische und historische Materialismus ist, haben ebenfalls ein großes Interesse daran, dem Proletariat diese Weltanschauung zu überbringen, da sie wissen, dass das Proletariat die einzige Kraft ist, auf die sie sich im Kampf für ihre Ziele stützen können.

Das gegenseitige Interesse der fortschrittlichen, marxistischen Intelligenz einerseits und des Proletariats andererseits drängt also nach einer Vereinigung, die für beide zur Notwendigkeit wird … Das Proletariat braucht also unbedingt eine Partei, die ihrem Wesen nach die Vereinigung von Sozialismus und Arbeiterbewegung ist, die in ihrer Tätigkeit das Hineintragen des kommunistischen Bewusstseins in die Arbeiterklasse mit der auf wissenschaftlicher Grundlage beruhenden direkten Leitung des proletarischen Klassenkampfes zur Liquidierung des Privateigentums verbindet. Die erfolgreiche Initiative für die praktische Verwirklichung dieser Vereinigung geht notwendigerweise von der Intelligenz aus, da sie allein über die für diese Vereinigung notwendige Theorie verfügt, während die spontane Arbeiterbewegung, wenn auch zuweilen sehr schwach, ständig vorhanden ist …

Spätestens seit Beginn des 1. imperialistischen Weltkrieges ist es offensichtlich geworden, dass die alten sozialdemokratischen Parteien der II. Internationale für den revolutionären Kampf des Proletariats vollkommen untauglich waren. Diese Parteien, die in einer Periode der mehr oder minder friedlichen Entwicklung des Kapitalismus, der parlamentarischen Kampfform als der Hauptform des Kampfes heranwuchsen, versagten vollständig, als infolge der immensen Verschärfung der Widersprüche durch Entwicklung des imperialistischen Stadiums des Kapitalismus eine Periode der offenen Klassenschlachten, der Vorabend der proletarischen Revolution angebrochen war. Die opportunistischen Parteien der II. Internationale bezogen Positionen des Sozialchauvinismus und retteten so faktisch ihre Bourgeoisie, indem sie betonten, sie seien Friedensinstrumente und keine Kriegsinstrumente. Die einzige Partei, die in dieser Periode konsequent die Bürgerkriegsidee zum revolutionären Sturz der Bourgeoisie unter der Losung 'Krieg dem Kriege' verfocht, war die heroische Partei der Bolschewiki unter Führung Lenins. Diese Partei lehrte die gesamte internationale Arbeiterbewegung, wie es möglich ist, eine revolutionäre Partei des Proletariats vom neuen Typus aufzubauen, die den offenen Klassenschlachten, die mit Entstehen des Imperialismus überall auf der Tagesordnung stehen, gewachsen ist und das Proletariat und die übrigen Volksmassen zum Sieg führt. Diese Erfahrungen haben das internationale Proletariat gelehrt, dass es sich wirkliche Kampfparteien schaffen muss, die von der Bürgerkriegsidee durchdrungen sind, wenn es sich aus seinem Elend befreien will. Diese Erfahrungen sind heute aktueller denn je. Die Verschärfung der Widersprüche hat unvorstellbare Ausmaße angenommen. Ständig ist das Proletariat dem drohenden Faschismus ausgesetzt, dem es bereits einmal gelungen ist, die Arbeiterbewegung bestialisch niederzumetzeln. Die Bourgeoisie hat durch die Re-Militarisierung, KPD-Verbot, Notstandsgesetze etc. deutlich genug gezeigt, zu welchen Mitteln sie gewillt ist zu greifen, um ihrer grausamen Herrschaft das Leben zu verlängern. In einer solchen Situation das Proletariat ohne Kampfpartei nach dem Vorbild der Bolschewiki zu belassen, bedeutet, das Proletariat waffenlos dem bourgeoisen Ungeheuer auszuliefern. Das größte Erfordernis einer solchen Partei ist die bestmögliche Bekämpfung jeglichen Opportunismus und Kapitulantentums. Dazu ist die Partei aber nur in der Lage, wenn es ihr gelingt, ihre eigenen Reihen von opportunistischen Elementen vollkommen freizuhalten; sie muss also auch bei ihrer Organisationsform darauf achten, dass diese eine möglichst scharfe Waffe gegen das Aufkommen des Revisionismus darstellt. Die Grundzüge der Partei, die das Proletariat braucht, sind daher durch den demokratischen Zentralismus, der strikten Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit, der unteren Organe unter die oberen, der proletarischen Disziplin, und des Verbots jeglicher Fraktionsmacherei bestimmt. Der Neuaufbau einer solchen Partei wurde zu einer objektiven Notwendigkeit, nachdem der vollkommene Übergang der KPD/DKP zum Revisionismus derart offensichtlich war, dass die organisatorische Trennung von ihnen unumgänglich wurde …

Wenn wir unser Blickfeld auf das Gebiet Westdeutschlands einengen, so scheinen wir uns in einer Phase der ziemlichen friedlichen Entwicklung zu befinden. Es wäre jedoch vollkommen falsch, unter Hinweis auf diesen trügerischen Sachverhalt zu empfehlen, auch nur die geringsten Abstriche an den Bemühungen zur Schaffung einer revolutionären Kampfpartei vorzunehmen. Im Gegenteil, gerade in den Perioden der relativ friedlichen Entwicklung unternehmen wir die allergrößten Anstrengungen, uns auch organisatorisch auf die offenen revolutionären Klassenschlachten, den Bürgerkrieg vorzubereiten; bricht dieser ungeahnt heran, so ist es bereits zu spät. Unsere gesamten organisatorischen Bemühungen lassen wir von der Notwendigkeit des Kampfes für die Diktatur des Proletariats leiten und nicht von den Erfordernissen des Tageskampfes in einer scheinbar noch so friedlichen Periode. Das erfordert den schonungslosesten Krieg gegen jeglichen Opportunismus, der sich natürlicherweise in relativ friedlichen Perioden am leichtesten breit macht. Bereits in der Aufbauphase muss die größte Aufmerksamkeit der Reinhaltung der Partei von opportunistischen Elementen gewidmet werden. Das wiederum ist unmöglich, ohne von Anfang an alle Prinzipien des demokratischen Zentralismus, der Disziplin, des Fraktionsverbots, der Kombinierung der legalen mit der illegalen Arbeit etc. konsequent durchzuführen. Nicht, dass die Einhaltung dieser Prinzipien den Opportunismus von selbst verhinderte, sie stellt lediglich die notwendige organisatorische Waffe zu seiner Bekämpfung dar. Die Hauptwaffe auch zur Bekämpfung des Opportunismus ist selbstverständlich die proletarische Politik; die organisatorischen Prinzipien müssen jedoch derart beschaffen sein, dass sie dieser Politik am besten dienen …

Im Prozess der Schaffung der Partei können wir zwei Phasen unterscheiden: 1. Phase des Gewinns der Avantgarde des Proletariats für den Kommunismus, der Sammlung der Avantgarde um ein auf wissenschaftlichen Analyse beruhendes Programm und die ihm dienenden Grundzüge der Strategie und Taktik, und 2. die Phase der politischen Aktion der von der Partei geführten Millionen-Massen. Von einer bolschewistischen Partei im eigentlichen Sinne kann man erst sprechen, wenn sie die zweite Phase erfolgreich meistert, wenn sie von den Massen als Führerin anerkannt wird. Wir befinden uns zur Zeit am Beginn der ersten Phase, wir haben noch nicht einmal ein Programm. Diesen Tatbestand klar zu erkennen, hat wichtige praktische Konsequenzen. Der Kommunismus, für den wir die Avantgarde des Proletariats gewinnen wollen, ist kein Brocken totes Buchwissen, den wir den Massen in der Erwartung vorsetzen können, dass sie ihn schlucken, sondern konsequent revolutionäre Anleitung zum Handeln, ein Feind jeglichen Dogmatismus. Der Marxismus-Leninismus ist für uns heute kein fertiges Rezept, sondern heroisches Beispiel für konkrete Analyse der konkreten Situation. Wir müssen erst noch lernen, die allgemeingültigen Wahrheiten des Marxismus-Leninismus mit unserer konkreten Praxis zu verbinden, wir müssen erst noch analysieren, in welcher Erscheinungsform sich bei uns diese Grundzüge jeglicher proletarischen Revolution durchsetzen. Wir müssen dazu in der Lage sein, voraus zu blicken, das notwendige Verhalten aller Klassen der Gesellschaft in der zukünftigen Entwicklung im voraus zu bestimmen; wir müssen diese wissenschaftliche Prognose massenhaft propagieren und den Volksmassen Gelegenheit geben, sich durch ihre eigenen Erfahrungen von der Richtigkeit unserer Analyse zu überzeugen, damit sie praktisch die Konsequenzen ziehen, die wir theoretisch gezogen haben. Haben wir jedoch eine solche korrekte Analyse samt ihren Schlussfolgerungen nicht, so werden unsere Bemühungen von vornherein zum Scheitern verurteilt sein. Bevor wir auf diesem Gebiet keine Fortschritte erzielen, wird es uns unmöglich sein, die Avantgarde des Proletariats zu gewinnen; die Massen werden nur dann dem Kommunismus zustreben, wenn wir erläutern können, wie er als einzige Alternative aus der widersprüchlichen Entwicklung der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse entspringt; schaffen wir das nicht, so wird der Kommunismus den Massen fremd bleiben, da er ihnen dann als beziehungslos zu ihrer tagtäglichen Erfahrung erscheint.“

Zum „Schwerpunkt Theorie“ hieß es: „Daraus folgt, dass in der nächsten Zeit der Schwerpunkt unserer Arbeit auf dem Gebiet der Theorie liegen muss. Wir müssen eine prinzipielle Erörterung der Grundfragen der Bewegung eröffnen und uns dabei auf wissenschaftliche Analysen und nicht auf unsere Wunschvorstellungen stützen. Die Grundfragen der Bewegung können keinesfalls dadurch als geklärt angesehen werden, dass wir uns verbal pauschal zum Marxismus-Leninismus und sogar auch zu den Mao-Tse-tung-Ideen bekennen; Liu Schao-tschi tat dies auch. Um nicht Missverständnisse derart aufkommen zu lassen, dass hier empfohlen wird, sich vorerst in die Studierstuben zurückzuziehen, die Praxis so lange auszusetzen, bis man sich in den Studierstuben gründlich genug auf sie vorbereitet hat, soll das Verhältnis von Theorie und Praxis in der jetzigen Etappe näher erläutert werden. Oben wurde festgestellt, dass wir uns in der Phase der Gewinnung der Avantgarde des Proletariats für den Kommunismus befinden. Es ist sicher richtig, dass wir diese Aufgabe nicht durch theoretische Arbeit erfüllen, sondern durch breit angelegte Propaganda und auch Agitation, zweifellos praktische Betätigung. Die jetzige Etappe ist jedoch dadurch gekennzeichnet, dass ungeklärte theoretische Fragen das Haupthindernis zur erfolgreichen Ausweitung unserer Propaganda darstellen. So wie die Praxis immer der Theorie vorangeht, haben auch wir mutig mit Propaganda und Agitation begonnen …

Wir müssen dabei lernen, dass eine Unmenge von Fragen aufgeworfen wurden, auf die wir keine befriedigende Antworten geben konnten, weil diese nur hätten das Ergebnis wissenschaftlicher Analysen sein können, die wir noch nicht geleistet hatten. Es handelt sich bei diesen Fragen keineswegs um Randprobleme, sondern hauptsächlich um Grundfragen der Bewegung, solche wie nach dem Verhältnis der verschiedenen Klassen zueinander, den Auswirkungen der fortschreitenden imperialistischen Entwicklung auf die Lage dieser Klassen, Fragen nach unserer Stellung zur nationalen Frage in Deutschland und Europa etc. Die Praxis selbst ist es also, die in dem Widerspruch zwischen Theorie und Praxis die Theorie zur hauptsächlichen Seite werden lässt. Die Betonung der großen Bedeutung der Praxis darf uns nicht davon abhalten, diese Praxis auch auszuwerten, zu verallgemeinern und die sich stellenden theoretischen Fragen zu lösen. Die Tatsache, dass die theoretischen Aufgaben für uns momentan die dringlichsten sind, bedeutet also keinesfalls eine Aussetzung der Praxis, wofür arbeiten wir denn theoretisch, wenn nicht um den Weg der Praxis zu beleuchten. Die Theorie muss unter korrekter Einbeziehung unserer Situation entwickelt und auf ein höheres Niveau gebracht werden, so dass unsere Praxis theoretisch eine Stütze erhält und gleichfalls auf ein höheres Niveau gebracht werden kann. Davon ausgehend, dass es das Ziel der gesamten ersten Phase ist, an deren Beginn wir jetzt stehen, die Avantgarde des Proletariats für den Kommunismus zu gewinnen, ist es unmöglich, dass die dafür jederzeit notwendige Propaganda, die in der ersten Phase die Hauptform der Praxis darstellt, auch nur einen Augenblick lange aufgegeben wird. Auf allen Gebieten, auf denen wir das bereits können, müssen wir selbstverständlich unaufhörlich den Marxismus-Leninismus propagieren und uns kämpferisch mit allen dem Marxismus fremden und feindlichen Ideologien auseinandersetzen.

Wir müssen bestrebt sein, überall eine revolutionäre öffentliche Meinung zu schaffen, und hauptsächlich in der ideologischen Sphäre arbeiten. Auch müssen wir überall entschieden für die Interessen der Massen eintreten, damit diese erkennen, dass wir ihnen helfen wollen und sie so überhaupt erst an unserer Propaganda interessiert sind. Je besser wir diese praktischen Aufgaben erfüllen, desto leichter wird es uns fallen, die Avantgarde des Proletariats für den Kommunismus zu gewinnen. Nachdem nun eine grundlegende Orientierung auf die dringlichsten aktuellen Aufgaben vollzogen worden ist, steht noch die Klärung der Methode ihrer Bewältigung aus. Es wäre verfehlt, lediglich die allgemeinen Aufgaben zu formulieren und den Ortsverbänden die Ausführung zu überlassen, ohne dass dafür ein gemeinsamer Plan vorliegt. Wir müssen durch die Methoden unserer Arbeit gewährleisten, dass wir nicht nur nominell, sondern faktisch eine einheitliche Partei, eine organisatorisches Ganze bilden. Wir müssen in unserer Arbeit alle Vorteile des Zentralismus gegenüber dem Zirkelunwesen ausnutzen.

Der Anfang dafür besteht in der Verbesserung des zentralen Organs. Diese Arbeit ist das geeignete Mittel, um zu einer faktischen Einheit der Partei zu gelangen. Das Zentralorgan muss zu einem lautstarken Sprachrohr der Volksinteressen, zu einem solchen lebendigen Organ werden, wie es die Leninsche 'Iskra' war. Die Verbesserung der Zeitung, bis sie in optimaler Weise ihre Funktion als kollektiver Propagandist, kollektiver Agitator und kollektiver Organisator erfüllt, ist der jetzt wichtigste konkrete praktische Beitrag zum Aufbau einer starken bolschewistischen Partei. Jede Parteizelle muss sich daran beteiligen. Die Arbeit an der Zeitung ist die einzige Tätigkeit, die dazu zwingt, sämtliche Fähigkeiten herauszubilden, die für eine bolschewistische Partei notwendig sind. In der Zeitung müssen einerseits alle Probleme erörtert werden, die mit der theoretischen Arbeit zusammenhängen, es muss eine prinzipielle Erörterung der Grundfragen der Bewegung organisiert werden, andererseits ist die Zeitungsarbeit das hauptsächliche Mittel für unsere Propaganda.“ (3)

Erstmals in der westdeutschen maoistischen Bewegung wurde die Forderung nach einer „Hauptseite Theorie“ durch die KPD/ML erhoben. Die für die Organisation charakteristischen Wechselbäder kamen nirgendwo so deutlich zum Ausdruck wie hier. An die Stelle des Proletkults, dem bisher gefrönt wurde, trat nun der vorherrschende Intellektualismus. Beides schien von der gleichen Qualität zu sein. Während die Ableitung für eine „Hauptseite Theorie“ prinzipiell vom Aufbau der Partei ausging, die es verlangen würde, die „Avantgarde des Proletariats für den Kommunismus“ zu gewinnen, konnten die „Praktiker“ mit dem gleichen Argument ihre „Hauptseite Praxis“ begründen. Die „erste Phase des Parteiaufbaus“, der „Leninsche Plan“ war es, der Theorie und Praxis dogmatisch rezipierte. Aus dem existentiellen Bedürfnis nach einer politisch stabilen Organisation wandte man sich den Prinzipien des ML zu, die wiederum Rückschlüsse auf eine Organisation legitimierende Theorie zuließen.

„Die Praxis selbst ist es also, die in dem Widerspruch zwischen Theorie und Praxis die Theorie zur hauptsächlichen Seite werden lässt“, meinte der Artikel „Bauen wir eine starke bolschewistische Partei auf“. Diese Behauptung implizierte das Eingeständnis der generell fehlenden theoretischen Grundlagen überhaupt. Damit auch den falschen Anspruch einer Avantgardeorganisation. In dem Maße wie dieser Anspruch auch nicht nachträglich durch theoretische Resultate ausgewiesen werden konnte, musste der Beweis der Vorhutorganisation durch die praktische Tätigkeit ohne bewusste Grundlage erbracht werden. Ob es „die Praxis selbst sei“, die die „Theorie zur hauptsächlichen Seite werden lässt“, konnte immer wieder gewendet werden. Stichhaltige Argumente für die eine oder andere Seite suchte man in den Schriften dieser Bewegungen vergeblich. Mal war einem das Hemd näher, mal der Rock. Theorie und Praxis spielten in der maoistischen Bewegung aber insofern eine Bedeutung, als dass mit diesem Begriffspaar stets die Spreu vom Weizen getrennt werden konnte.

Trotz einer Vielzahl von Kommissionen, die beim ZK eingerichtet wurden (Klassenanalyse, Programmkommission usw.), erwies sich der Anspruch aus dem Januar 1970 als hohl. Die Zuspitzung auf die Leninsche Theorie war historisch auf 1900 beschränkt. Die „Iskra“, die im Dezember den Artikel „Die dringendsten Aufgaben unserer Bewegung“ veröffentlichte hatte, hatte sich zwar zum Ziel gesetzt, „die bewußtesten Teile der russischen Arbeiterbewegung rund um ein marxistisches Programm zu sammeln“ (4), sie musste aber gleichzeitig mögliche Konflikte ausschalten, die diesem Parteiprogramm im Wege standen. U. a. waren es die „Sozialrevolutionäre“, die den Kräften der Revolution um Lenin herum stark zusetzten. Diese spezifisch-zeitbedingte Situation konnte nicht einfach auf die bundesrepublikanischen Verhältnisse übertragen werden. Doch Theorie- und Praxisfraktionen taten das regelmäßig. Sie taten das auch noch in den 1980er Jahren, wenn man etwa an die KGB/E oder die NHT denkt. Einleuchtend war das nie, denn Programmatiken sind immer reine Spekulation. Sie waren aber ein charakteristisches Kennzeichen der ML-Bewegung und sollten stets die „theoretisch-revolutionäre Verbindung“ mit der Arbeiterklasse zum Ausdruck bringen.

Mit dem „Theorie-Sündenfall“ der KPD/ML, den H. Karuscheit noch in seiner „Geschichte der westdeutschen ML-Bewegung“ über alle Maßen lobte (5), waren auch die organisatorischen Grundlagen der westdeutschen ml-Gruppen verbunden. Die MLPD sollte sich aus diesen die Legitimation der „reinen“ proletarischen Organisation schnitzen und somit zu modernen Volkstümlern avancieren, die im Kostüm des Jakobinertums die moralische Rigidität immer auf ihrer Seite hatte. Meistens waren diese theoretischen Grundlagen stets Plagiat. Selbst der Aufruf „Bauen wir eine starke bolschewistische Partei auf“ war dem Parteiprogramm der KPD von 1951 entlehnt (6). Und mit ihm hatte sich für einen gewissen Zeitraum die neue intellektuell-theoretische Führung der KPD/ML manifestiert, die sich gleichwohl in die Tradition der KPD und der Komintern der 1930er Jahre stellte, die fleißig in „Unter dem Banner des Marxismus“ (7) theoretische Artikel publiziert hatten.

„Hauptseite Theorie“ war eine Art Selbstverständlichkeit, die nur theatralische Formen annahm, und vermutlich auch nur als Unternehmung einer „theoretische Praxis“ bezeichnet werden kann. Sie kam in schwierigen praktischen Zeiten der KPD/ML zum Einsatz. Ihre Posituren glichen einem „Feigling“-Spiel, bei dem jede/r sich bemühte „revolutionär“ zu sein. Da keine politischen Veränderungen auf dem Spiel standen, und kein fortwährender politischer Kampf um die Kommunikationen mit einer Öffentlichkeit, bestand das Verhältnis der KPD/ML zur Theorie nur in einem Import der marxistischen Theorie plus Arbeiterbewegung.

Mit einer echten „Hauptseite Theorie“ hatte jene gar nichts zu tun. Bezog sie sich doch auf die Kritikpunkte aus der „Polemik über die Generallinie“, um durch sie mit Behauptungen und Prinzipien die gegenwärtige Linie zu begründen. Sie selbst war auch kein theoretisches System. Sie bestand aus einem Mischmasch von heuchlerischer Rhetorik, falschen Theorien und leninistischen Versatzstücken, die aus der illegalen Agitation heraus entstanden und in universelle Axiome verwandelt worden waren. Ein zusammenhängendes theoretisches System hatte die KPD/ML nicht. Allein schon die Ableitung („Wir müssen erst noch lernen, die allgemeingültigen Wahrheiten des Marxismus-Leninismus mit unserer konkreten Praxis zu verbinden, wir müssen erst noch analysieren, in welcher Erscheinungsform sich bei uns diese Grundzüge jeglicher proletarischen Revolution durchsetzen. Wir müssen dazu in der Lage sein, voraus zu blicken, das notwendige Verhalten aller Klassen der Gesellschaft in der zukünftigen Entwicklung im voraus zu bestimmen; wir müssen diese wissenschaftliche Prognose massenhaft propagieren und den Volksmassen Gelegenheit geben, sich durch ihre eigenen Erfahrungen von der Richtigkeit unserer Analyse zu überzeugen, damit sie praktisch die Konsequenzen ziehen, die wir theoretisch gezogen haben.“) war der charakteristische Kurzschluss, den die ml-Bewegung mit sich herumschleppte: Proletariat gleich Partei. Und dies alles fand sich dort wieder in der „Wissenschaft über die Theorie“, die dem Proletariat „gebracht“ werden müsste. Die „Hauptseite Theorie“ der KPD/ML war eine rigorose Kompilation von Texten der kommunistischen und Arbeiterbewegung, die seit ca. 1840 geschrieben worden waren.

Die Erfindung der „Hauptseite Theorie“ hatte nicht die Eroberung der Theorie zum Ziel, sondern vielmehr die Aufgabe, sie in das „bessere“ System der KPD/ML einzuweben; denn: „Die Hauptwaffe auch zur Bekämpfung des Opportunismus ist selbstverständlich die proletarische Politik; die organisatorischen Prinzipien müssen jedoch derart beschaffen sein, dass sie dieser Politik am besten dienen …“.

Die Theorievorstellungen der KPD/ML können sogar mit Fug und Recht als selbstgenügsame Summe des Marxismus in den Jahren erhöhter politischer Aktivitäten bezeichnet werden. Eine aktive Erforschung der Welt konnte aus dem Artikel „Bauen wir eine starke bolschewistische Partei auf“ nicht entnommen werden. Hier spiegelte sich die subtile Form einer Anzahl von „nur“ theoretischen Vorstellungen, oder besser, einer Anzahl von „Marxismen“ wider, die im „unerledigten“ Aufgabenkatalog (Ausweitung der Agitation und Propaganda, Kaderpolitik, Entwicklung der Zeitung etc.) einen von vielen Stellenwerten hatte.

Doch damit nicht genug. Die KPD/ML meinte: „Da das Proletariat unter den Bedingungen des Kapitalismus jeglicher Möglichkeiten der wissenschaftlichen Betätigung beraubt ist, kann diese wissenschaftliche Theorie, der dialektische und historische Materialismus, der Marxismus-Leninismus, dem Proletariat nur von außen, von Vertretern der Intelligenz gebracht werden …“

Das war der Satz für die „Praktiker“, der sie auf die Palme brachte. Das apologetische Vokabular erwies sich als dehnbar genug, um in ein idealistisches Delirium abzugleiten. Von den unzähligen Akademismen des Marxismus war die Prophezeiung des „Roten Morgen“ von der religiösen Deutung, die der Marxismus als der Wahrheit letzter Schluss gesetzt hatte, eine reine Theologie. Wie es zu diesem erkenntnistheoretischen und erkenntnislogischen Bruch kam, dürfte sich nicht mehr in der Gänze herausfiltern lassen. Doch diese Selbstabschottung, die mit einer Reihe von ahistorischen Kategorien, missverstandenen, vergewaltigten, festgenagelten und enthistorisierenden Füllseln besetzt war, führte zum Besitz der „Wissenschaft“, die dem provinzielle Ghetto der Intelligenz sowieso schon wie eine Klette anhing.

De facto konnte aus dem obigen Satz eine „Vorherrschaft der Intelligenz“ nun gar nicht abgeleitet werden. Der Trugschluss bestand in der Tatsache, dass alle Bildungsinstitutionen von einer scharfen Trennung von Theorie und Praxis geprägt sind. Die KPD/ML-Theorie-Fraktion brachte diese Trennung nur auf die berühmte „Höhe der Zeit“ (Scheren-Problematik), indem sie die Radikalisierung von Intellektuellen in diesen Institutionen „marxistisch“ beschreiben wollte. An diesem Satz war nichts marxistisch, außer das aus allgemeinen politischen und bestimmten Erfahrungen heraus, andere (in diesem Falle „Proletarier“) an diesem Prozess nicht teilnehmen können. Warum die KPD/ML damit den Marxismus-Leninismus „verletzt“ bzw. eine „kleinbürgerliche Linie“ vertreten haben sollte, erhellte sich hier nicht.

Diese ideologischen Präpositionen der KPD/ML wurden zweifellos gefördert durch die schlechten Erfahrungen mit der Praxis des „proletarischen Klassenkampfes“, der an der Kommunikation mit ihr zweifeln ließ. Nicht umsonst konnte formuliert werden: „Je besser wir diese praktischen Aufgaben (des Klassenkampfes, d. V.) erfüllen, desto leichter wird es uns fallen, die Avantgarde des Proletariats für den Kommunismus zu gewinnen …“

Das Proletariat durfte somit auf die Segnungen der Theorie durch die KPD/ML hoffen. In jeder Konstellation konnte entweder die Theorie oder die Praxis zur herrschenden „Instanz“ erklärt werden, und das völlig unabhängig von einer historisch-dialektischen Erklärung der einen oder der anderen „Hauptseite“. Das Theorie-Praxis-Verhältnis war in der KPD/ML eine Modeerscheinung wie viele andere auch. Auf der Ebene des vulgären politischen Diskurses lieferten diese Vorstellungen die dümmsten und gefährlichsten Halbwahrheiten, die der Maoismus je hervorbrachte. Am extremsten kam diese Sichtweise im kommenden KABD zum Ausdruck. Das Proletariat wurde hier zu einer Gelehrtenkaste in Wartestellung. Die Endstation des Irrweges, den die Praktiker anstrebten, lag somit außerhalb des „Reichs der Erkenntnis“. Selbiges konnte auch nicht als Erkenntnisproduktion bezeichnet werden, da die Partei die ideologische Dominanz vorgab.

„Die Betonung der großen Bedeutung der Praxis darf uns nicht davon abhalten, diese Praxis auch auszuwerten, zu verallgemeinern und die sich stellenden theoretischen Fragen zu lösen. Die Tatsache, dass die theoretischen Aufgaben für uns momentan die dringlichsten sind, bedeutet also keinesfalls eine Aussetzung der Praxis, wofür arbeiten wir denn theoretisch, wenn nicht um den Weg der Praxis zu beleuchten. Die Theorie muss unter korrekter Einbeziehung unserer Situation entwickelt und auf ein höheres Niveau gebracht werden, so dass unsere Praxis theoretisch eine Stütze erhält und gleichfalls auf ein höheres Niveau gebracht werden kann …“, formulierte das ZK.

Das war seltsam. Die Theorie sollte (oder musste!) dazu dienen, „den Weg der Praxis zu beleuchten“. Diese Aussage erhielt ihre eigene Prämisse: Weil die Marxsche Theorie wahr war (ohne dass sie nachgewiesen werden konnte), konnte sie mit Erfolg in der Praxis angewandt werden. Wahre Theorien könnten somit gewöhnlich so angewandt werden. Doch was war mit der Theorie, die von Marx „erfolglos“ angewandt wurde? Dieser Rückschluss wurde nicht erlaubt. Das ZK räumte somit der Theorie, ohne erkenntnislogischem Schluss, nur eine Beiläufigkeit zu. Offenbar handelte es sich bei diesen Theorievorstellungen nur um eine sehr niedrige Theorieebene, die nämlich „unserer Praxis dient“.

Die Beziehung zur Theorie war keine Erkenntnisbeziehung. Sie nahm keine reale Beziehung in dem Sinne ein, dass sie dem Realen selbst (der Praxis!), dessen Gedanken die Erkenntnis ist, diente. Eine Theorie ließe sich nämlich ohne Weiteres auch ohne aktive Anwendung in der Praxis denken. Allerdings wäre das der Weg eines theoretizistischen Solipsismus gewesen. Diesen Vorwurf jedoch sollte erst ein gutes Jahrzehnt später von Schröder/Karuscheit erhoben werden, als es darum ging, die Kritiker der NHT abzustrafen.

Vom Artikel „Bauen wir eine starke bolschewistische Partei auf“ blieb somit nicht viel. Die gängige Interpretation der „Studierstube“ nebst Liquidierung der Praxis war eine ziemlich hässliche Antiquiertheit. Die „Praktiker“ befanden sich augenscheinlich auf einem Dampfhammer, der immerzu mit gleicher Monotonie einen begrifflichen Freiraum platt drückte. Eine Theorie im strengen Sinne existierte in dieser Auseinandersetzung nicht. Dem ZK zu unterstellen, dass es eine falsche Vorstellung von der Theorie als Theorie hatte, wäre nicht falsch. Es reduzierte ganz einfach die Praxis auf die Theorie.

Das philosophische Gebäude der ml-Bewegung war indes so strukturiert, dass sie nur mit dem Begriffspaar „Theorie-Praxis“ etwas anfangen konnte. Wenn an die kruden dialektischen Vorstellungen des „Revolutionären Weges“ gedacht wird, die nur im Praxis- oder Theorietausch bestanden, dann wird auch klar, dass diese stets frisch gefilterte Erkenntnis keine war. Denn auch dort unterlag die Theorie keiner empirischen Kontrolle, sie führte die Auseinandersetzung nur um den Ort der Praxis. Als „dialektische Einheit“ ist dann auch selbige sinnlos. In der realen Welt wirkt sie nur als dürre akademische Scholastik mit dem brutalen Pragmatismus der Macht.

Den „revolutionären Intellektuellen“ schrieb das ZK auf dem zweitägigen Plenum, das am 17. Januar 1970 begann und das, wie bekannt, die „Septemberbeschlüsse 1969“ außer Kraft setzte, eine besondere Rolle zu. Ging es doch für die KPD/ML darum, „… ihr Ziel, die führende Rolle der Arbeiterklasse durch die Herstellung des Bündnisses der Arbeiterklasse mit den werktätigen Bauern und der fortschrittlichen Intelligenz sowie den anderen Mittelschichten zu verwirklichen … In dieser Lage beschloss das ZK die Septemberbeschlüsse … Keinem der ZK-Mitglieder waren damals die Meinungen der Ortsorganisation zu einer so schwerwiegenden Weichenstellung bekannt, auch eine genaue historische Analyse der Erfahrungen marxistisch-leninistischer Parteien mit Kandidatensperre ging nicht voraus, eben sowenig wie eine ernsthafte Analyse der Rolle revolutionärer Intellektueller im Allgemeinen und in der BRD im Besonderen. Das ZK fasste also einen schematischen und bürokratischen Entschluss, ohne eingehende Begründung und Anleitung zur Durchführung an die Basis zu leiten“. (8)

Die Berufung auf die „ernsthafte Analyse“ könnte als Vorwand bezeichnet werden. Wer sonst, außer der „fortschrittlichen Intelligenz“ oder den „revolutionären Intellektuellen“, hätte denn das Fließband der „Mini-Theorien“ zum Laufen bringen können? Ob das ZK gewusst hat, worauf es sich bei seiner „Kurskorrektur“ einließ? Da es nicht die „Große (vereinheitlichte) Theorie“ erstellen konnte, musste es die Münze wenden und nach einer hypothetischen Setzung für die „ideale“ Arbeiterklasse suchen, die gegenwärtig noch im „falschen Bewusstsein“ befangen war und die nach dem Ebenbild der Partei als Theoretikerin erst geschaffen werden musste. Durch diesen eher unbewussten „Trick“ sollte sie das Drehbuch der Theorie bestens ausfüllen, im „Allgemeinen und im … Besonderen“.

Das Besondere bestand für die KPD/ML im Allgemeinen. Folglich waren die schwer beschädigten Intellektuellen mit einem historischen Know-how gesegnet. Sie waren es, und daran bestand kein Zweifel, die die Modernisierungen der KPD/ML überhaupt einleiteten und, folgerichtig, auch abschlossen, was spätestens auf dem a. o. Parteitag der KPD/ML im Dezember 1971 der Fall gewesen sein dürfte. Der „schematische und bürokratische Entschluss“, den das ZK hinsichtlich der „kleinbürgerlichen Intellektuellen“ einst fasste und nun zurücknahm, hatte nichts mit der berühmten Fehlleistung zu tun, sondern entsprang der Tatsache, dass hier ein Scheingegensatz wirkte, aus dem die Praktiker ihre „Hauptseite Praxis“ strickten. Einerseits behauptete das ZK, dass die Theorie ausschließlich eine Sache der Erkenntnis sei, und andererseits führte diese kümmerliche Unternehmung die andere Seite in ihrer Praxis. Doch bei dieser Clownerie fehlte jeweils die wissenschaftliche Beweisführung als unbedingte Voraussetzung, dieses Begriffspaar zu interpretieren und, was viel wichtiger war, auch anzuwenden.

Mit der grafischen Darstellung der Klassen in der BRD, die ein Mitglied der Bochumer KPD/ML im Januar 1970 vorgelegt hatte, konnten die Praktiker nichts anfangen. Die „Geschichte der MLPD“ meint dazu: „Wieso sollte gerade jetzt die Frage der Klassenanalyse so dringlich sein … Was wollten denn die Intellektuellen mit der Klassenanalyse machen, falls sie überhaupt eine zustande brächten? Das Projekt Klassenanalyse war damals ein Lieblingssteckenpferd vieler Intellektueller in der ‚marxistisch-leninistischen Bewegung‘. Die ständige Betonung der Klassenanalyse war ein prägnanter Ausdruck des kleinbürgerlichen Führungsanspruchs …“ (9)

Die Betonung lag hier auf: „war damals ein Lieblingssteckenpferd vieler Intellektueller“. Klassenanalyse war für die „Hauptseite Praxis“ wertlos. Es war für sie bezeichnend, die Dialektik auf einen formalen Code zu reduzieren. Schon bald sollte das zu katastrophalen Resultaten führen und sich wie ein Strudel bewegen, wo dieselben alten Formen empor gespült wurden und sich aufs Neue nach unten beschleunigten. Die Klassenanalyse selbst musste somit (und notwendigerweise) antihistorisch sein, da die tatsächliche Arbeitergeschichte für die „Hauptseite Praxis“ offenbar nur diese eine Sichtweise, die sich in der Form der Praxis ausdrückte, zuließ. Dass Theorie auch eine Form der Praxis sein kann, wurde noch nicht einmal in Erwägung gezogen. Historisches oder anderes empirisches und zeitgenössisches Quellenmaterial ließ man nicht zu, und/oder es wurde als „kleinbürgerlich“ belächelt.

Diese ungewöhnliche Denkweise für Materialisten glich einer Statik, in der die Praxisform (endlich!) nun als endgültige Abgeschlossenheit existieren konnte. Dass die Welt voller Widersprüche war, hatte die begriffliche Grenze der „Hauptseite Praxis“ nicht sprengen können. Hier wurde eindeutig die Einsicht artikuliert, dass es keine andere Grundlage außer der Praxis geben würde. „Von außen kommend“ wurde schroff zurückgewiesen und sollte empören. Dickhuts berühmter Spruch der „ideologischen Flohknackerei“ war in diesem Sinne das Markenprodukt einer praxisfernen Mischung, die einem, wie auch immer gewendeten, historischen Materialismus diametral entgegenstand.

Die Strategie-Debatte

Mit dem „B1“-Paper aus dem Januar 1970, das zunächst an der RUB Verbreitung fand und das vom Komitee Sozialistischer Arbeiter- und Studenten verfasst worden war (10), musste das gegenwärtige Theorie-Bild der KPD/ML ernüchternd wirken. Zu den „Nächsten Aufgaben der Marxisten-Leninisten“ meinten die B1ler: „Die revolutionäre Partei des Proletariats hat - seit es überhaupt Klassenkämpfe zwischen Kapitalistenklasse und Arbeiterklasse gibt, die Aufgabe, diese Klassenkämpfe anzuleiten und das Proletariat zu führen. Auch in den Phasen der 'Atempausen' im Klassenkampf muss die revolutionäre Partei des Proletariats ihre Agitation und Propaganda auf allen Ebenen und in allen Schichten des Volkes voran treiben …“

Dieser „Roter Morgen“-Jargon, in dem die B1 vortrug, pries ebenfalls die utopische Verkörperung des Klassenkampfes und des Proletariats an. Erstaunlich waren hier die Hinweise auf die blühende Reinkarnation der Partei, die die „Klassenkämpfe anzuleiten“ hätte und die völlig fiktive Projektion auf „allen Ebenen und in allen Schichten des Volkes“. Das erinnerte auch stark an den Artikel des „Roten Morgen“: „Die Angst der Herrschenden. Schlagt den Faschismus, wo ihr ihn trefft“ aus dem Juli/August 1969. Eine Konfrontation mit der KPD/ML dürfte vorprogrammiert gewesen sein; denn auch sie vermittelte das Gefühl, mit dem Proletariat Geschichte machen zu wollen. Die „Entdeckung“ der Arbeiterklasse und das planvolle Anstreben, die Wiederherstellung des marxistischen Originals erreichen zu wollen, gipfelten in einer Reihe von Aktionen, die den „großen Plan“ beschrieben und sich in einer allumfassenden ideologischen Unversöhnlichkeit gegenüber anderen Gruppen äußerten.

Das „B1“-Paper sollte die dementsprechende Wirkung auf die linken Gruppen im Ruhrgebiet haben. Mangels Masse mussten die Rote Garde NRW und die wenigen arbeitenden Ortsgruppen der KPD/ML sich der B1 annähern. Die Gespräche, die das Landeskomitee der Roten Garde mit dieser Gruppe führte, hatten dann auch zum Inhalt:

  1. „Die Einschätzung der gegenwärtigen Phase des Klassenkampfes: die Bestimmung des Hauptwiderspruchs der Epoche.
  2. Die Nachkriegsetappen des Klassenkampfes in der BRD.
  3. Die nächsten Aufgaben der Marxisten-Leninisten.
  4. Die Fehler einer ökonomistischen Politik, das Ruhrgebiet betreffend.
  5. Wie können wir die ökonomistischen Fehler korrigieren und die Schaffung einer marxistisch-leninistischen Partei unterstützen.“ (11)

Als plebejische Manifestationen, die der B1 unterstellt worden waren, konnten die Verhandlungspositionen nicht bezeichnet werden, meinte doch der „Revolutionäre Weg“, dass die „Einheit der marxistisch-leninistischen Partei“ erst zu „schaffen sei“. Insofern musste das Zirkelwesen in der KPD/ML selbst überwunden werden, die „Tagesaufgabe“: den „Aufbau der marxistisch-leninistischen Partei in Angriff nehmen“. Dieser Terminus war allen Gruppen gleich. Warum diese Tatsache dann doch als eine Besonderheit der Abtrünnigen bezeichnet wurde, lag in der Tatsache begründet, dass der Marxismus als karikaturhafte-glamouröse Selbstinszenierung verstanden worden war, in einem Wort, als hohle in der Leere flatternde Fahne.

So präsentierte sich die „proletarische Linie“ selbst nur als „Kleinbürgerei“, die im stalinistischen Dogmatismus eingehüllt war. Die vermeintlichen Rettungsoperationen („Heran an die Arbeiterklasse“) überließen sie ausgerechnet denen, die sie verteufelten. Da der Zustand der KPD/ML 1969/70 als äußerst erbärmlich bezeichnet werden konnte und die Vorstellung vom Marxismus als Wissenschaft hier keinen Platz hatte, wurde nach einer verzweifelten Lösung gesucht, das Vorhaben der marxistisch-leninistische Partei auch zu realisieren.

„Die Aufgaben der Marxisten-Leninisten in der BRD müssen natürlich nach der spezifischen Ausprägung des Hauptwiderspruchs der Epoche, d. h. auf Grund der Analyse der Etappe der Klassenkämpfe in der BRD bestimmt werden …“, meinte die B1 (12). Diese Tatsache war selbst der KPD/ML nicht fremd; denn eingangs des Artikels „Bauen wir eine starke bolschewistische Partei auf“ ging es auch um die Analyse des „Hauptwiderspruchs“ und um jene Agenturen des Kapitals in der Arbeiterklasse, die zur Verschärfung des Klassenkampfes beitragen würden, vor allem die Sozialdemokratie.

„Im Gegenteil, gerade in den Perioden der relativ friedlichen Entwicklung unternehmen wir die allergrößten Anstrengungen, uns auch organisatorisch auf die offenen revolutionären Klassenschlachten, den Bürgerkrieg vorzubereiten; bricht dieser ungeahnt heran, so ist es bereits zu spät …“, hieß es in besagtem Artikel. Die Lesart dieser Verhältnisse umschrieb die B1 mit dem Satz: „Die Aufgabe der Arbeiterklasse in der BRD ist der Sturz der Diktatur der Monopolbourgeoisie“ (13).

Das Kräfteparallelogramm der Gruppen in dieser Zeit bestand in der Tatsache, die kollidierenden Atome des Kapitalismus neu zu definieren. „Wir machen unsere Geschichte selbst“. Dieser Satz galt als übergeordnete Strategie überhaupt. Bei näherem Hinsehen hatte man ideologische Uhrmacher identifiziert und Ziele gefunden - nicht nur am Endpunkt des Prozesses, sondern in der automatischen Bewegung der Uhren selbst. Vielleicht war das dass „Geheimnis“ der B1 überhaupt? Was der KPD/ML in ihrer Strategiedebatte nicht gelangt, erledigte sie kurzerhand selbst: Sie zerlegte den Pappgegner KPD/ML ganz alleine. Zwar stützte sie sich in ihrem Ausgangspapier auf eine positivistische Methode, die Althusser ziemlich nahe kam, doch die Beschreibung der Strukturen des Kapitalismus (Produktionsweise, Gesellschaftsformationen, reformistische Fraktionen (SPD) usw.) eröffnete das Maul des Wales und verschlang die öden Formulierungen der theoretischen Praxis der KPD/ML.

Der nicht weg zu debattierende Einfluss der italienischen „Unione“ auf die Fraktionierungen der frühen KPD/ML bestand natürlich nicht in deren Totalität beim Parteiaufbau. ML-Gruppen brausten stets mit verschiedenen Fahrplänen durch die Gegend. Ob Italien, Belgien, Frankreich oder BRD: Es ging um das Zusammentreffen verschiedener Theorien, die untereinander konkurrierten und die auf ihre analytische Brauchbarkeit hin abgeklopft wurden. Meinte doch die B1: „Gemeinsam mit den Fraktionen in der KPD/ML, die die richtige proletarische Linie vertreten, den ideologischen Kampf gegen alle Sektierer zu führen und sie ideologisch und organisatorisch zu schlagen … Unsere Aufgabe kann nicht sein, einen individuellen Kampf in der KPD/ML um die richtige Linie zu führen, denn damit würden wir die Desorganisation nur fördern, die die Sektierer schon in die KPD/ML hineingetragen haben. Wir müssen eine Union der Marxisten-Leninisten unter straffer, einheitlicher Führung schaffen, die in enger Verbundenheit mit der KPD/ML die ideologische Vereinheitlichung leistet … Die nationale Organisation und der demokratische Zentralismus, der Marxismus-Leninismus und die Strategie zum Sturz der Monopolbourgeoisie sind notwendige Elemente der revolutionären Partei des Proletariats. Die nationale Organisation, die Herausbildung einer zentralen Gruppe muss von uns mit aller Kraft vorangetrieben werden.“ (14)

Diese Sache entpuppte sich zwar als reine Wortspielerei (Zentralismus plus Demokratie, Demokratie plus Zentralismus), doch der Praxisfraktion in der KPD/ML fehlte bei ihrer Kritik an dieser Konzeption einfach nur der Motor, den sie nicht anzuwerfen vermochte. Jede Gruppe baute ihre Organisation „straff“ auf. Dabei war es egal, ob sie „Unione“ hieß, KPD/ML oder mit einem anderen Namen als Fraktion bekannt geworden war. Es war die Inszenierung, die zählte. Und nichts weiter. In der Chirurgie heißt dieser Kunstgriff „Transplantation“. Der Marxismus dieser Gruppen war nichts anderes als ein Organ, das mit der einen Argumentation herausgeschnitten und mit der anderen wieder eingefügt wurde.

Der Bochumer Ortsverband der KPD/ML echauffierte sich ob dieser Fixiertheit und beantworte das Paper der B1 im Januar 1970 mit den Worten: „Die proletarische Linie kann nur marxistisch-leninistisch sein, eine andere gibt es nicht. Die Arbeiter der KPD/ML sind die ersten, die das wissen und dafür eintreten. Die Arbeit an der Klassenanalyse ist äußerst wichtig für die Partei. Das ist eine theoretische Arbeit. Selbstverständlich ist marxistisch-leninistische Theorie immer eine Theorie, die dialektischer Teil gesellschaftlicher Praxis ist. Aber über die Liquidierung der revolutionären Theorie durch Praxis-Fetischisten hat schon Stalin alles Wichtige gesagt. Der Selbsthass von Intellektuellen, die bei ihrer Verfechtung einer 'proletarischen', in Wahrheit sektiererischen und dogmatischen Linie überall mechanisch den Klassenstandpunkt aus der Klassenherkunft ableiten außer ausgerechnet bei sich selbst, stellt eine große Gefahr für das Proletariat und seine Partei dar.“ (15)

In diesem Sinne war das „Elend der Philosophie“ ein „Elend der Theorie“, ein Satz von Variationen über das eigentliche Grundthema: Renegaten und „kleinbürgerliche Elemente“, die den Marxismus und den Aufbau der Partei nur „als Betätigungsfeld für ihre Karriere“ (16) betrachteten.

Die Widersprüche spitzen sich zu

Die Versuche, eine theoretische oder praktische Ebene zu konstruieren, ergossen sich in schwere Gefechte. Bisweilen bekam man den Eindruck, dass die ideologischen Strukturen des „kalten Krieges“ übernommen worden waren, in dem der notwendige Kampf für Frieden von Blinden auf dem Boden der Unaufrichtigkeit und unter dem Banner der Illusionen ausgetragen wurden. Es waren immer wieder die bekannten Rosstäuschertricks, die das stalinistisch-intellektuelle System erneut befestigten, indem sie dieselben alten Märchen wiederholten und dieselben Sperren errichteten. Man agierte mit Marx, Lenin, Stalin und Mao Tse-tung um drohenden Ansteckungen zu bekämpfen.

So war die Gründung der Ortsgruppe Wuppertal der KPD/ML, die sich im Januar 1970 aus RJS-Mitgliedern, die vormals in der SDAJ/DKP mitgearbeitet hatten, konstituierte, ein verheddertes Wollknäuel, das natürlich nur der Praktiker Dickhut entwirren konnte. Als die OG zwecks weiterer Informationen B1-Mitglieder zu einer Zellensitzung, auf der auch Dickhut anwesend war, einlud, „entlarvte“ er sie als „Intriganten“. (17) Im Dickhutschen System waren das nicht nur Irrtümer oder unzulängliche Praktiken; denn das waren die Beigaben zum Menü des „proletarischen Klassenkampfes“ ohne Kleinbürger, die als „Agenten in der Arbeiterklasse“ ihre Hauptseite Theorie in die bemitleidenswerte OG hineintrugen.

Anfang 1970 forderte ein Teil der Mitglieder der RG Westberlin den Rücktritt des von der Landesleitung der KPD/ML-Westberlin eingesetzten Rote-Garde-Zentralkollektivs (ZKoll), da vor allem „die falsche Anweisung 'erst Theorie, dann Praxis' die politische und organisatorische Arbeit lähmen“ würde. (18) Interessant war, dass gleich zu Anfang des Jahres die B1 noch einmal ihre Auffassungen deutlich artikulierte:

„Hierbei legte sie (die „Unione, d. Vf.) drei Phasen fest:

  1. Zusammenfassung aller bestehenden Gruppen unter einer starken Führung zur Festlegung einer gemeinsamen politischen Linie.
  2. Erweiterung der Basis, d.h. eine vorwiegend organisatorische Arbeit in verschiedenen Gebieten und gesellschaftlichen Bereichen.
  3. Festigung der Parteistruktur auf allen Ebenen, d.h. die Durchführung folgender Bedingungen für den Aufbau der Partei in der Praxis: 1. Sie muss national organisiert sein. 2. Sie muss nach den Prinzipien des demokratischen Zentralismus organisiert sein. 3. Sie muss überall die Ideen Mao Tse-tungs schöpferisch anwenden und die Erfahrungen der Kulturrevolution verarbeitet haben.

Wir kamen darin überein, dass die Erfahrungen der 'Unione' in Bezug auf den Aufbau einer marxistisch-leninistischen Partei nach dem drei-Phasen-Konzept auch für uns wichtig sind …“ (19)

Die moralische Missbilligung dieses Konzeptes, das als „trotzkistisch“ gegeißelt worden war, war noch zusätzlich mit einem Irrtum unterlegt. Denn gerade die italienische „Unione“ hatte bei genauer Lesart ihrer Konzeption kein anderes praktisches Parteiaufbaukonzept als die westdeutschen Maoisten. Aber allein schon der Verdacht der Abspaltung von der PCI/ML und deren Zusammenschluss mit der „Falcemartello“ und „Movimento Studentesco“ reichte aus, um sie mit dem Makel der Bösartigkeit zu belegen. Mangels ungenügenden Studiums der Quellenlage und nur auf einen simplen Verdacht hin stand man ihr folglich mit wütender Feindseligkeit gegenüber. Als am 10. Januar 1970 die zweitägige Konferenz der Ruhrgebietsgruppen begann, wo über den Aufbau einer ML-Partei diskutiert wurde, lag das vorab abgefasste Urteil über diese Konferenz und deren Wortführer bereits vor. Es reichte aus, dass ein Mitglied der ehemaligen Wuppertaler RSJ ins Redaktionskollektiv der Zeitung „Proletarische Linie“ (20) gewählt worden war, um zu erklären: „Die Vorstellungen der Unione kamen den kleinbürgerlichen Karrieristen entgegen, weil sie ihren Führungsanspruch unterstützten“. (21)

Mit der Beendigung der Konferenz der Ruhrgebietsgruppen, die übrigens personell bei Weitem die Mitgliederstärke der KPD/ML übertraf, reifte die Erkenntnis heran: „Auf Grund der am Sonntag stattgefundenen Delegiertenkonferenz, an der Vertreter von 35 Gruppen aus dem Ruhrgebiet teilnahmen, sind wir gezwungen, unsere Arbeit zu forcieren. Auf dieser Konferenz haben unsere Vertreter als einzige eine klare Linie aufgezeigt und deshalb den Führungsanspruch herausgestellt.“ (22)

Das mag erklären, warum es in der „Geschichte der MLPD“ heißt: „Die B1 versucht, eine eigene marxistisch-leninistische Partei zu gründen“. (23) Und: „Die kleinbürgerlichen Intellektuellen bilden ein Zentralbüro und usurpieren die Führung der KPD/ML.“ (24)

Indem jede andere Auffassung oder auch nur Zweifel als Revisionismus, Trotzkismus oder Kleinbürgertum denunziert oder diffamiert wurde, trug die KPD/ML selbst mit dazu bei, eine theoretische Klärung der Fragen, die noch großsprecherisch in „Bauen wir eine starke bolschewistische Partei auf“ angekündigt worden waren, zu verhindern.

Indes ging der Fraktionsprozess rigoros weiter. Weder der „Hauptseite Theorie“ noch der „Hauptseite Praxis“ gelang es, über die Verkündung der allgemeinen Prinzipien hinauszugehen („Reform oder Revolution“, Führung der Massenkämpfe). So könne die KPD/ML die „zweite Periode des Parteiaufbaus“ erfüllen. „Wenn sie Klassenanalyse und Programm erstellt hat … Der nächste Schritt ist, Massenorganisationen um sich zu scharen. Aus diesen Massenorganisationen muss sie die Fortschrittlichsten des Proletariats und der revolutionärsten Intellektuellen und Kleinbürger in die Partei aufnehmen …“ (25)

Die Forderung nach der Theorie sollte hier noch einmal mit dem Parteianspruch verbunden werden. Damit reduzierte sich letztlich die Theorie als eine demagogische Rationalisierung. Sie reproduzierte sich gewissermaßen auf ein schlechtes Gewissen.

Vorweggenommen meinte die „Plattform des ZK. Zur Auseinandersetzung um die Proletarische Linie beim Aufbau der Partei und der Roten Garde“ in der März/April-1970 Ausgabe des „Roten Morgen“: „Da wir augenblicklich weder eine marxistisch-leninistische Analyse des heutigen Monopolkapitalismus noch eine richtige Klassenanalyse Deutschlands besitzen, wird deren Ausarbeitung zur absoluten Notwendigkeit … Solange wir keine marxistisch-leninistische Analyse des heutigen Imperialismus und seiner Klassenverhältnisse besitzen, werden wir immer wieder hilflos in die Denkschemata des Revisionismus und anderer bürgerlicher Theorien versinken.“ (26)

Die Theorie hatte nur eine kurze Überlebenschance. Und sie sollte sich auch kaum ernsthaft durchsetzen können. Sie ging mit der praktischen Handwerkelei unter: „Lohnfragen sind Machtfragen“, „Klassenkampf bei Opel“ (hier wurde die „3-Wälle-Theorie“ entwickelt) usw. (27), und sie wurde, wenn überhaupt, eine praktische Anleitung zum Handeln.

Verwunderlich war insgesamt, dass trotzdem die Intellektuellen im „Roten Morgen“ Hoffnungsträger wurden. Das verbale Zugeständnis an das damals modische Vorbild repräsentierte sich als Relikt der Studentenbewegung und ihres Scheiterns in Fragen der Klassenanalyse. Dass die aufkommende B1 dieses Feld für sich zu beanspruchen meinte, war aus ihrer Vergangenheit heraus nur konsequent. Die „Proletarische Linie“ trat dann auch mit dieser Eigendynamik auf. Der Unterschied der „Proletarischen Linie“ zur „proletarischen Linie“ könnte so beschrieben werden: Wer die Initialen der Arbeiterbewegung am besten beschwören konnte, war auch prädestiniert, sie zu führen.

Das Praktikermodell fand unter dieser begrifflichen Abstraktion schnell genügend Anhänger, um einen Amoklauf hinsichtlich der „naturgesetzlichen“ und „wissenschaftlichen“ Erfahrungen der Arbeiterbewegung zu starten. Der sich formierende Intellektualismus des ZK wurde einfach mit der „proletarischen Partei“ kaschiert. Die eigentliche Debatte war somit im Vorfeld bereits beendet. Das „Königreich NRW“ ging daran, „kühn die Massen zu mobilisieren“. Hinzu kam, dass eine Reihe von Mitgliedern der Basis des ZK jene Debatte, die die KPD(AO) führte und die aus der RPK-Arbeitskonferenz bekannt war, nämlich die Theorie- und Organisationsfrage zu modifizieren, einfach nicht mehr wollte und sich auch dem Praxiskurs des Zentralbüros zuwandte.

Auch wenn die Organisationsfrage fast einen aberwitzigen Höhenflug einnahm, die sich einmal mehr in der Forderung der „Rebellen“ nach der Selbstständigkeit der Jugendorganisation zeigen sollte (28), so konnte man sagen, dass das ZK sich in dieser Phase als „kollektiver Theoretiker“ sah, wobei es zur stellvertretenden Avantgarde der beherrschten proletarischen Massen wurde. Ähnlich hatte im Übrigen auch Hans-Joachim Krahl, der Gegenspieler Dutschkes in Frankfurt/M., verlauten lassen: „Die Bewegung wissenschaftlicher Intelligenz muss zum kollektiven Theoretiker des Proletariats werden - das ist der Sinn ihrer Praxis.“ (29)

Anfang Februar 1970 erschien dann im Ruhrgebiet erstmals das Organ „Proletarische Linie“ als Organ der „Marxistisch-Leninistischen Zirkel des Ruhrgebiets“. Es wurde herausgegeben von der Betriebsgruppe 1 des SDS Bochum. Angeblich soll es zwei Fassungen gegeben haben, was nicht mehr nachprüfbar ist.

„Als besondere Überwindung der antiautoritären Bewegung existiert im Zirkelwesen eine maoistische Strömung, die bis in die KPD/ML und ihre Jugendorganisation, Rote Garde, hineinreicht. Sie ist gekennzeichnet durch einen Antirevisionismus, der nichts anderes ist als eine schematische Anwendung der Mao Tsetungideen ... Wir müssen eine Unione der Marxisten-Leninisten unter straffer, einheitlicher Führung schaffen, die in enger Verbundenheit mit der KPD/ML die ideologische Vereinheitlichung leitet.“ (30)

Der Stand der damaligen Debatte ließ jeweils einen eigenen Interpretationsrahmen zu. Der Theorieanspruch beider Gruppen, der B1 und der KPD/ML, führte zu einer Vielzahl von Problemstellungen und Fragen, die in der Geschichte des Marxismus stets kontrovers diskutiert, aber weniger beantwortet worden waren. Man könnte auch sagen, dass der Begriff der Theorie, der von beiden Gruppen hier äußerst schwammig erklärt wurde, sich stets in Abgrenzung zur bürgerlichen Theorie (bei der B1 fälschlicherweise mit „ideologischer Vereinheitlichung“ verwechselt) befand. Ein ausgearbeitetes Konzept mit einer (marxistischen) philosophischen Ableitung gab es nicht. Vor diesem Hintergrund waren die Einlassungen der B1 eine verfremdete Marxismusdeutung, die versuchte, ihre „einheitliche Führung“ (mit oder ohne KPD/ML) mit dem marxistischen Grundmodell zu beantworten. Und natürlich wie KPD/ML, die Glaubenssätze zu verteidigen. Die Neigung, theoretische Ansätze; denn mehr war es bei allen Gruppen ja nie gewesen, ohne neugewonnene Erkenntnisse zu debattieren, führte zu unterschiedlichen Konsequenzen in der „Handhabung“ des Parteiaufbaus.

Hatte Dickhut noch im März bemerkt: „Von einigen Fehlern abgesehen, ist es eine ausgezeichnete Schrift (gemeint war die „Proletarische Linie“, d. Vf.), die die Hauptprobleme, vor allem die Durchsetzung der proletarischen Linie, klar herausgeschält hat“ (31), so konnte er der am 30. März erschienenen „Plattform des ZK“ nun gar nichts mehr abgewinnen, obwohl sie doch die dominierende Bedeutung der „Hauptprobleme“, die er vormals noch meinte zu loben, nannte.

Plattform des ZK der KPD/ML
Bild vergrößern Plattform des ZK der KPD/ML (März/April 1970)

Die „Plattform des ZK der KPD/ML zur Auseinandersetzung um die proletarische Linie beim Aufbau der Partei und der Roten Garden.“

Die „Plattform“ war unterteilt in:

  1. Die Funktion der marxistisch-leninistischen Partei
  2. Das Organisationsprinzip der marxistisch-leninistischen Partei
  3. Die Hauptaufgabe unserer Partei in der jetzigen Phase
  4. Beziehungen zwischen Partei und Roten Garden
  5. Abschließende Bemerkungen

Zu „Die Funktion der marxistisch-leninistischen Partei“ wurde ausgeführt:

„Augenblicklich gibt es bei vielen Genossen der KPD/ML Unklarheiten über die Rolle der marxistisch-leninistischen Partei im Klassenkampf. Allgemein gesprochen hat die marxistisch-leninistische Partei die Aufgabe, das Proletariat im Kampf um seine Befreiung und die der gesamten Gesellschaft zu führen. Dazu reich jedoch der subjektive Wille und die Begeisterung der Parteimitglieder nicht aus, denn der Verlauf der Geschichte richtet sich nicht nach den subjektiven Wünschen und Hoffnungen der Menschen. Er folgt vielmehr objektiven Gesetzen, die durch die Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse bedingt sind. Deshalb muss sich die marxistisch-leninistische Partei die Kenntnisse dieser objektiven Gesetzmäßigkeiten aneignen. Sie muss fähig sein, die Bewegung der Klassen und der Revolution im Voraus zu überblicken, um daraus die Etappen des Kampfes des Proletariats zu bestimmen. Die Erfüllung dieser Bedingung ist unbedingt notwendig, um die Partei zur Vorhut des Proletariats werden zu lassen.

Deshalb ist unser Sozialismus keine Illusion der Utopie, sondern wie uns Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao Tse-tung lehren, wissenschaftlicher Sozialismus. Die marxistisch-leninistische Partei verkörpert daher die Verbindung von wissenschaftlichem Sozialismus und Arbeiterbewegung - das heißt proletarische Linie.

Die Unkenntnis der objektiven Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung hat in der Geschichte der Kämpfe des Proletariats immer zu schweren Niederlagen und zur Demoralisierung der Arbeiterklasse geführt. Die katastrophalen Niederlagen der deutschen Arbeiterbewegung 1918 und 1933 mit ihren Blutopfern sind hierfür ein warnendes Beispiel. Die Verachtung des wissenschaftlichen Sozialismus, der seinem Wesen nach kritisch und revolutionär ist, ist daher eine große Verantwortungslosigkeit dem Proletariat gegenüber, ist Verbrechen an der Arbeiterbewegung. Es ist eine zynische Haltung gegenüber dem Proletariat, das auch noch als proletarische Linie anzusprechen. Wenn augenblicklich immer mehr Arbeiter und Jungproletarier sich hoffnungsvoll an uns wenden und uns ihr Vertrauen entgegenzubringen, so wäre es ein großer Verrat an ihnen und der Sache aller Arbeiter, wenn wir sie in vereinzelt sinnlose Kämpfe schickten und sie verheizten. Die Verachtung des wissenschaftlichen Sozialismus führt unweigerlich zum Subjektivismus.

Der Subjektivismus zeigt sich in zwei Erscheinungsformen, die sich nur scheinbar widersprechen, sich aber in Wirklichkeit häufig ergänzen. Es handelt sich um Dogmatismus und Empirismus. Die Dogmatiker spielen sich, im Gegensatz zu den Empiristen, als Vertreter des wissenschaftlichen Sozialismus auf, sie begreifen jedoch nicht den Kern des Marxismus-Leninismus, der in der dialektisch-materialistischen Methode besteht. Sie verstehen es nicht, die allgemeinen Wahrheiten mit der konkreten Lage unserer Revolution zu verbinden und weigern sich, nach der richtigen Methode einer konkreten Analyse einer konkreten Situation vorzugehen. Stattdessen verwandeln sie den Marxismus-Leninismus in eine Anhäufung von hohlen Phrasen, wobei sie häufig Zitate aus dem Zusammenhang reißen, um damit Genossen einzuschüchtern. Die andere Form des Subjektivismus ist der Empirismus. Die Empiriker erheben sie sinnlichen und Teilerfahrungen zu allgemeinen Wahrheiten, ohne in der Lage zu sein, sie auf das Niveau der Theorie zu heben und ihnen einen systematischen, synthetischen Charakter zu verleihen. Während sie blind in der Praxis herumtappen, versuchen sie ihre Teilerfahrungen ('Detailanalysen') als Theorie an den Mann zu bringen.

Die Dogmatiker machen das Allgemeine zum Besonderen, die Empiriker verfallen in den entgegengesetzten Fehler, indem sie das Besondere zum Allgemeinen erheben wollen. Beide Formen des Subjektivismus schaden der Arbeiterbewegung und bilden Abweichungen vom korrekten marxistisch-leninistischen Arbeitsstil und gefährden damit die Arbeiterbewegung. Um diese Abweichungen zu überwinden, muss die Methode der dialektischen Verbindung vom Allgemeinen und Besonderem, d. h. der wissenschaftliche Sozialismus jederzeit von der Partei vorangetrieben werden. Da die Partei die Verbindung von wissenschaftlichem Sozialismus und Arbeiterbewegung darstellt, muss sich dieses Verhältnis auch in der revolutionären Organisation niederschlagen. Diese 'muss die sozialistischen Kenntnisse und die revolutionären Erfahrungen, die sich die revolutionäre Intelligenz aus den Lehren der Vergangenheit erarbeitet hat, vereinigen mit der Kenntnis des Arbeitermilieus und mit der den Arbeitern eigenen Fähigkeit, unter den Massen zu agitieren und sie zu führen. Was wir vor allem und in erster Linie anstreben müssen, ist nicht, eine künstliche Scheidewand zwischen Intellektuellen und Arbeitern zu errichten, nicht, eine 'reife Arbeiterorganisation zu schaffen, sondern eben die erwähnte Vereinigung' (Lenin).

Jene führenden Arbeiter rekrutieren sich aus der 'Arbeiterintelligenz', die Lenin als jene 'wirklichen Helden' bezeichnet, 'die - trotz ihrer abscheulichen Lebensverhältnisse, trotz ihrer abscheulichen Lebensverhältnisse, trotz abstumpfender Zwangsarbeit in der Fabrik - soviel Charakter und Willensstärke aufbringen, um zu lernen, zu lernen und nochmals zu lernen und sich zu Klassenbewusstsein Sozialdemokraten, zu einer 'Arbeiterintelligenz' herausbilden … Die Gewinnung und Heranbildung einer solchen 'Arbeiterintelligenz', deren Vereinigung mit den sozialistischen Intellektuellen in der revolutionären Partei zeichnet die 1. Phase der Entwicklung der Partei hauptsächlich aus.

Dabei ist besonders darauf zu achten, dass die Intellektuellen jegliche Überheblichkeit (Arroganz), alle intellektualistischen und individualistischen Allüren gänzlich abstreifen, dagegen revolutionäre Bescheidenheit und Disziplin an den Tag legen und alle Verbindlichkeiten eines Parteimitglieds voll erfüllen.“

Zu „Das Organisationsprinzip der marxistisch-leninistischen Partei“ hieß es:

„Das grundlegende Organisationsprinzip der marxistisch-leninistischen Partei ist der demokratische Zentralismus. Bei vielen Genossen unserer Partei scheinen erhebliche Unklarheiten über dieses Prinzip zu bestehen. Sie stellen mechanistisch bald den Zentralismus gegen die Demokratie, bald die Demokratie gegen den Zentralismus, statt deren dialektische Einheit jeweils konkret zu bestimmen.

Daraus folgt, dass die proletarische Demokratie immer schon auf Einheit und Zentralismus abzielt. Dabei muss vor allen Dingen ein Missverständnis von vornherein ausgeschaltet werden: Proletarische Demokratie dient dem Kampf von Ansichten mittels Argumenten und nicht einem rein formalistischen Abstimmungsmechanismus. Wir sind keine bürgerliche Partei, in der unter 'Demokratie' die rein statistische Mehrheit von subjektiven Interessen verstanden wird. Unsere Demokratie muss die Möglichkeit beinhalten, dass ein richtiges Argument hundert falsche besiegt. Deshalb ist die Methode Kritik-Selbstkritik ein wesentlicher Bestandteil der proletarischen Demokratie. Kritik bedeutet der Kampf der richtigen Argumente gegen die falschen, Selbstkritik bedeutet die Aufgabe der falschen Positionen zugunsten der richtigen. Wenn man die proletarische Demokratie nicht richtig verstanden hat, gerät man leicht in Gefahr, sie mit bürgerlicher Demokratie zu verwechseln. Dann führt man den Kampf um die Mehrheit nicht mit Argumenten, man unterscheidet nicht klar zwischen richtig und falsch, sondern man versucht durch Manipulation und Intrigantentum hinter den Kulissen rein formale 'Mehrheiten' zusammenzuzimmern.

Genosse Mao Tse-tung hat festgestellt, dass die Methode Kritik-Selbstkritik nur richtig angewandt werden kann, wenn man vom Wunsch nach Einheit ausgeht, um danach zu einer neuen Einheit zu gelangen … Diese Aussagen bilden die Grundlage für die 4 Regeln der Parteidisziplin:

  1. Unterordnung des einzelnen unter die Organisation;
  2. Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit;
  3. Unterordnung der unteren Instanzen unter die oberen;
  4. Unterordnung der gesamten Partei unter das Zentralkomitee.“

Zu „Die Hauptaufgabe unserer Partei in der jetzigen Phase“ wurde ausgeführt:

„Unsere Partei steht noch in ihren ersten Anfängen. Um ihre Aufgabe als marxistisch-leninistische Partei in unserem Lande in dieser Epoche erfüllen zu können, muss sie konkret für unsere Situation die Verbindung von wissenschaftlichem Sozialismus und Arbeiterbewegung leisten. Da wir augenblicklich weder eine marxistisch-leninistische Analyse des heutigen Monopolkapitals noch eine richtige Klassenanalyse Deutschlands besitzen, wird deren Ausarbeitung zur absoluten Notwendigkeit. Dabei genügt es keinesfalls, zwar abstrakt diese Notwendigkeit zu bejahen, in Wirklichkeit aber nichts zu ihrer Erstellung beizutragen. Solange wir keine marxistisch-leninistische Analyse des heutigen Imperialismus und seiner Klassenverhältnisse besitzen, werden wir immer wieder hilflos in die Denkschemata des Revisionismus und anderer bürgerlicher Theorien versinken. Das gilt auch und gerade für sogenannte Teilanalysen. Eine Detailanalyse erhält ihren Aussagewert nur durch die allgemeinen Begriffe und Vorstellungen, mit denen sie arbeitet. Wenn diese Begriffe und Vorstellungen nicht aus einer marxistisch-leninistischen Analyse hervorgehen, werden sie notwendigerweise vom Revisionismus oder anderen bürgerlichen Theorien entlehnt werden müssen. Das beste Beispiel dafür stellt die 'Detailanalyse' dar, die dem Lehrlingsaufruf der Roten Garde NRW (RG - vom 15.2.1970, d. Vf.) zugrunde lag. Bei dem untersuchten 'Detail' handelte es sich um den Krupp-Plan und das Berufsausbildungsgesetz (BBiG, d. Vf.). Da man die Analyse ohne marxistisch-leninistische Vorstellungen und Begriffe in Angriff nahm, unterlag man unbewusst reformistischen Vorstellungen und Begriffen. Das zeigte sich darin, dass man zu einer 'Entqualifizierungs'-Theorie kam, die im Grunde völlig mit der von der rechts-trotzkistischen (lambertistischen) IAK entwickelten übereinstimmte. Aufgrund dieser 'Theorie' läuft man die Gefahr, die KPD/ML von dem Weg einer Partei der Avantgarde des Proletariats auf dem Weg einer Partei der Nachhut der Arbeiteraristokratie zu bringen. Tendenzen dazu zeigten sich bereits in einer Lehrlingszeitung, die arbeiteraristokratisches Bewusstsein bei den Lehrlingen (gegenüber den Hilfsarbeitern) züchtet.

Solche gefährlichen Abweichungen zeigen, dass wir mit aller Kraft das theoretische Niveau in unserer Partei heben und die Erforschung der objektiven Verhältnisse vorantreiben müssen. Die Praxis selbst ist es also, die im Widerspruch zwischen Theorie und Praxis für uns die Theorie zur hauptsächlichen Seite werden lässt. Aufgrund dieser Einsicht hat das ZK folgende Richtlinien erlassen:

  1. Kommissionen zur Analyse des heutigen Imperialismus und seiner Klassenverhältnisse (einschließlich Gewerkschaftsfrage), zur nationalen Frage sowie zur Geschichte der Arbeiterbewegung.
  2. Rote Betriebs - und Stadtteilgruppen als Organe einer von den Komitees geleiteten systematischen Praxis sowie als Keimformen einer möglichen proletarischen Massenorganisation.
  3. Komitees als Organe der Verbindung von Massenorganisation und -Propaganda und Untersuchungen an Ort und Stelle einerseits sowie der theoretischen Analyse des heutigen Imperialismus und seiner Klassenverhältnisse in den Kommissionen anderseits.
  4. Ständige Propagierung des Marxismus und der Mao Tsetungideen unter den Massen sowie politische Propaganda zu grundsätzlichen und aktuellen Fragen anhand der von der Partei im Zentralorgan festgelegten Linie.

Alle vier Aufgaben stellen eine enge dialektische Einheit dar, in der unsere revolutionäre Praxis ihre theoretische Stütze findet. Dadurch wird ein Abgleiten in die verschiedenen Arten des Opportunismus weitgehend verhindert. Auf keinen Fall können wir dulden, dass die Tätigkeit der Partei von irgendwelchen 'Praktizisten' auf eine rein ökonomistische Agitation eingeschränkt wird. Dazu muss klargestellt werden, dass man den Ökonomismus nicht schon dadurch überwindet, dass man an ökonomistische Betriebs-Enthüllungen abstrakte Aufrufe zum 'Kampf gegen die Regierung' sowie zur 'Revolution' anhängt.

Wenn solche Aufrufe in keinerlei logischem Zusammenhang mit der ökonomistischen Argumentation stehen, dann wird durch sie in keiner Weise zur Enthüllung der politischen Herrschaft der Kapitalistenklasse und zur Entwicklung eines revolutionären proletarischen Bewusstseins beigetragen. Dadurch wird der Kampf der Arbeiterklasse auf dem Bereich des nur-gewerkschaftlichen Kampfes beschränkt … Die Theorie wird zur hauptsächlichen Seite der dialektischen Einheit von Theorie und Praxis. ... Das bedeutet nicht, dass das Schwergewicht der Arbeit auf die Entwicklung der Theorie gelegt wird, oder etwa erst in einer späteren Phase mit der Praxis begonnen wird. Vielmehr besagt diese Feststellung, dass die uns zur Verfügung stehende Theorie nicht soweit entwickelt ist, dass sie ausreichen würde, eine entfaltete gesellschaftliche Praxis der Organisation einzuleiten.“

Zu den „Beziehungen zwischen Partei und Roten Garden“ hieß es:

„Das Verhältnis von Partei zu den Roten Garden ist (nun) das Verhältnis von Kader- zur Massenorganisation. Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass die Jugendorganisation sich von vornherein unter die Führung der Partei, auf ihr Programm und ihre politische Linie stellt. Die Rote Garde muss als Massenorganisation der Jugend selbstverständlich einen eigenen demokratischen Zentralismus entfalten und organisatorisch selbständig sein.

Diese Selbständigkeit ist aber nur unter bestimmten Bedingungen politisch sinnvoll:

  1. Das Programm und die Strategie und Taktik der Partei muss weitgehend entwickelt sein. Insbesondere die politische Linie für das Vorgehen in der Frage der Jugend- und Massenorganisation sowie verschiedener anderer Massenorganisationen muss ausgearbeitet sein.
  2. Die Jugendorganisation muss von zahlreichen Parteikadern durchdrungen sein, die der Parteidisziplin unterworfen sind und die Beschlüsse der Partei propagieren.
  3. Der Jugendorganisation muss es aufgrund der ausgearbeiteten richtigen politischen Linie für den Jugendbereich bereits gelungen sein, wirklichen Masseneinfluss zu gewinnen und entsprechend Teile der jugendproletarischen Massen zu organisieren. D. h. die Jugendorganisation muss ihren Anspruch als Massenorganisation beginnen, in der Praxis einzulösen.

Es ist offensichtlich, dass in den heutigen Roten Garden diese Bedingungen noch in keiner Weise erfüllt sind.

Bei der Bestimmung der derzeitigen Verhältnisse zwischen Partei und Roten Garden müssen wir unbedingt die konkrete politische Lage, den Zustand der Kaderorganisation und den der Jugendgruppen richtig einzuschätzen. Das ZK der KPD/ML ist der Meinung, dass in der gegenwärtigen Phase der Aufbau, die Konsolidierung und Säuberung der Kaderorganisation gegenüber dem Aufbau von Massenorganisationen den Vorrang hat.

Ohne funktionsfähige Kaderorganisation bleiben die Massenorganisationen Führungs- und orientierungslos.

Wer also zur Zeit sein Hauptaugenmerk von der Partei weg auf die Massenorganisation richtet, der führt das Wort von der Partei als höchste Form der Klassenorganisation, von der Partei als bewusstem Vortrupp der Arbeiterklasse, der Führerin des Gesamtproletariats und damit auch seiner Massenorganisationen nur als hohle Phrase im Mund und tut im Grunde nichts dafür, um diesen Worten praktische Bedeutung zu verleihen … Die Arbeit in den Massenorganisationen muss daher augenblicklich in erster Linie der Festigung und Stärkung der Kaderorganisation dienen. Deshalb müssen die in den Massenorganisationen arbeitenden Parteikader ihre Massenarbeit in den Dienst der Hauptaufgaben der Partei stellen. Besonderen Wert ist darauf zu legen, dass sie immer wieder die Richtlinien der Partei in der Massenorganisation propagieren. Dadurch stählen sie sich selbst die Kader, indem sie lernen, überzeugend zu argumentieren, und gleichzeitig heben sie das ideologische Niveau der Massenorganisation.

Daraus folgt, dass es in der jetzigen Phase einen schweren Irrtum darstellt, die 'Unabhängigkeit' der Roten Garden zu betonen. Auf keinen Fall darf geduldet werden, dass die Massenorganisation zur Hausmachtbasis einiger Parteimitglieder wird, um sie als Gewicht bei fraktionistischen Intrigen in die Wegschale zu werfen.

Da weder das Programm über Strategie und Taktik der Partei entwickelt, noch die Politik gegenüber der Klassenorganisation des Proletariats und verschiedener Massenorganisationen festgelegt, noch die politische Linie für die Arbeit im Jugendbereich bestimmt ist, ist es zur Zeit völlig verfehlt, von den Roten Garden als einheitlicher Jugendorganisation der Partei zu sprechen, die die Aufbauphase bereits erfolgreich hinter sich gebracht hat und die alle Kriterien einer Massenorganisation schon erfüllt.

Aus diesen Tatsachen ergeben sich drei verschiedene Aufgabenstellungen in der Arbeit der Roten Garden:

  1. Heranziehung zur Untersuchungsarbeit vor allem im jungproletarischen (aber auch im Schüler-) Bereich. Diese Arbeit dient der Erstellung des Programms der Partei und des Jugendprogramms der Roten Garde, dient also auch dem Aufbau der Kaderorganisation.
  2. Heranbildung von Kadern durch gründliche Schulung (selbstverständlich bilden die praktischen Erfahrungen und die Entwicklung der organisatorischen Fähigkeiten der Genossen einen wesentlichen Bestandteil bei der Heranbildung von Kadern). Die Schulung dient außerdem der Entfaltung der Propaganda.
  3. Propagierung des Marxismus, des Leninismus und der Mao Tsetungideen und Entlarvung des Kapitalismus im Jungproletariat.

Diese drei Formen der Tätigkeit der Roten Garden können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es uns noch an einem einheitlichen Plan für den Kampf der Jugend fehlt, dass wir die verschiedenen Etappen dieses Kampfes und die zentralen Kampfparolen noch nicht entwickelt haben.

Von Seiten der Partei müssen beim Aufbau von Roten Garden folgende 5 Punkte beachtet werden:

  1. Ideologische Erziehung der Genossen (insbesondere ideologische Umerziehung der Genossen, die aus der 2.-Juni-Bewegung kommen).
  2. Gewährleistung der Durchführung der politischen Linie der Partei zum Aufbau von Partei und Roter Garde.
  3. Ausrichtung der Roten Garden auf die derzeitigen Hauptaufgaben.
  4. Das Verhindern von Unterwanderung der Roten Garde.
  5. Schaffung der Grundlagen für den demokratischen Zentralismus.

Diese Bedingungen haben folgende Konsequenzen für die Organisierung der Roten Garden:

Ein eigener demokratischer Zentralismus in den Roten Garden ist in der gegenwärtigen Phase undurchführbar. Wegen des relativ niedrigen ideologischen Niveaus kann die proletarische Demokratie, d. h. die Durchführung der Methode Einheit-Kritik-Einheit, von Seiten der Rotgardisten nicht in vollem Umfang geleistet werden. Es würde daher häufig zu einem Abgleiten in bürgerlichen Demokratismus kommen und für Intriganten und Abweichler bestände die Möglichkeit, mittels ihrer Demagogie sich bürgerliche 'Mehrheiten' zusammenzuzimmern. Daher müssen die Rote-Garde-Kollektive von Parteibeauftragten geleitet werden, die die Durchführung der politischen Linie der Partei in den Massenorganisationen garantieren. Die Parteibeauftragten sind verpflichtet, die Methode von Diskussion und geduldiger Überzeugungsarbeit anzuwenden, einerseits zentral anzuleiten, zum anderen die Initiative der Mitglieder voll zur Geltung kommen zu lassen. Sie müssen sich stets der Kritik der Mitglieder stellen. Sie müssen nach Diskussion mit den Mitgliedern eine kleine aktive, führende Gruppe um sich scharen, die in Perspektive die Führung der Roten Garde in die Hände nimmt. Auf diese Weise muss der eigene demokratische Zentralismus der Roten Garde vorbereitet werden. Sollte der Parteibeauftragte seine Pflichten bei der Anleitung grob verletzten oder parteifeindliche Tendenzen an den Tag legen, so ist es das Recht jedes Rote Garde-Mitglieds, sich an die entsprechende Parteileitung zu wenden. Die Parteileitung hat dann eine Aussprache mit dem entsprechenden Rote-Garde-Kollektiv in Anwesenheit des Beschuldigten zu führen, und sollte sich die Kritik als berechtigt herausstellen, ihn abzusetzen.

Bei Neueinsetzung eines Parteibeauftragten sind die Anregungen der Genossen Rotgardisten zu berücksichtigen:

Das Prinzip des Parteibeauftragten gilt für alle Ebenen. Treffen der Parteibeauftragten auf allen Ebenen zur Koordination und zum Austausch der Erfahrungen werden regelmäßig einberufen. Der Übergang zur Wählbarkeit der Gruppenleitungen in der RG vollzieht sich schrittweise. Glaubt eine Gruppe, dass die 5 aufgezählten Punkte kein Hindernis mehr für die volle Entfaltung der proletarischen Demokratie in der Gruppe darstellen, so kann sie bei der zuständigen Parteileitung die Wählbarkeit ihrer Leitung beantragen. Die Versammlung der Parteibeauftragten bzw. der gewählten Gruppenleitungen auf Landesebene kann bei der LL die Ausdehnung des Prinzips der Wählbarkeit auf den gesamten LV beantragen. Der Prozess der vollen Verwirklichung des demokratischen Zentralismus in der RG wird abgeschlossen durch die Wählbarkeit der Bundesleitung. Sie fällt zusammen mit dem Inkrafttreten eines eigenen Statuts. Der Bundesbeauftragte der Partei für die RG in Zusammenarbeit mit der Versammlung der Landesbeauftragten fasst bereits vom jetzigen Zeitpunkt an alle organisatorischen Erfahrungen sämtlicher RG's zusammen, um sie für einen Entwurf des Statuts der RG auszuwerten. ... Der endgültige Entwurf wird von der Bundeskonferenz der Landesbeauftragten vorläufig verabschiedet und dem ZK der Partei vorgelegt.“

Die abschließenden Bemerkungen erklärten:

„Die KPD/ML ist eine junge Partei. Es war unvermeidlich, dass sie in der Anfangsphase noch häufig unklare Vorstellungen entwickelte, schwankende Haltungen einnahm und Fehler beging. Dennoch war sie imstande, aufgrund des bereits verwirklichten demokratischen Zentralismus ihren Kurs zu korrigieren und langsam zu klären … Es konnte also nicht ausbleiben, dass in dem gleichen Maße, indem die marxistisch-leninistische Linie sich konkretisierte, auch abweichende Linien immer deutlicher zum Vorschein kamen. In dieser Situation musste es die Aufgabe des ZK sein, die marxistisch-leninistische Linie aufgrund der bisherigen Erfahrungen systematisch zusammenzufassen und in der vorliegenden Plattform niederzulegen. Die Plattform ist das entscheidende Instrument, um die Einheit der Partei in der jetzigen Phase zu verwirklichen. Die Existenz der Plattform soll allen Genossen helfen, abweichlerische Linien als solche zu erkennen, eventuelle Unklarheiten zu überwinden sowie vom Willen zur Einheit zu einer wirklichen prinzipienfesten Einheit zu gelangen. Gegenüber der marxistisch-leninistischen Linie dieser Plattform kann es keine 'Neutralität' geben. Alle Organe der Partei und der RG sind aufgerufen, diese Plattform gründlich zu studieren und sich auf ihren Boden zu stellen. An ihr werden sich die Geister scheiden. Es geht jetzt um die Linie! ... Die Einheit der marxistisch-leninistischen Partei ist es wert, dass man mit allen Kräften um sie kämpft, aber eine prinzipienlose Einheit kann es nicht geben.“ (32)

Die „Plattform“ machte den unverhohlenen Versuch, die führende Rolle der Intelligenz in der KP zu „beweisen“. Von allen anderen Positionen einmal abgesehen (Eigenständigkeit des Jugendverbandes etc.), war jene wohl die entscheidende überhaupt. Nach der Behauptung des ZK, dass sich die spontane Arbeiterbewegung und die Entwicklung der Wissenschaft (gemeint war der dialektische Materialismus, d. Vf.) „relativ unabhängig voneinander“ vollzogen oder entwickelt hätten, war das Proletariat in die Defensivrolle geraten. Der verlängerte Praxisarm der KPD/ML, die NRW-Fraktion, konnte diese Formulierungen benutzen, um die vulgär-marxistische Linie des ZK nun zu „enthüllen“. Die B1, deren „proletarische Linie“ und die KPD/ML-NRW sollten sich nun für eine kurze Zeit zusammenschließen, um diesen Thesen eine Abfuhr zu erteilen.

Dass alle drei Positionen abstrakt um den Parteiaufbau kreisten, erklärt auch, wie die Theoriebildung verstanden worden war: Als Drang, über die Klassenanalyse zur politischen Linie des Klassenkampfes zu kommen. Das ZK machte mit der „Zwei-Wege“-Theorie zumindest einen einzigen Versuch, den proletarischen Klassenkampf unter den Bedingungen des Imperialismus zu untersuchen. Das war es dann auch. Demgegenüber hatte das ZB mit der „Lohndiktatstheorie“ unter der „Sozialfaschismustheorie“ zwei politische Anschauungen vorgelegt, die sich nachhaltig weit über den Rahmen der ml-Bewegung hinaus halten sollten.

Um diese Bedeutungen zu verstehen, muss man letztlich auf die dahinter stehende Praxis verweisen. Während sich das ZK, trotz aller Versuche, in seiner „Klassenanalyse“ verhedderte, konnte immerhin das ZB der KPD/ML mit der Konstruktion von „Zwischenetappen“ und der „Einheitsfront der Volksmassen im demokratischen Kampf“ („gegen den bürgerlich-junkerlichen Staat“, „Notstand, Aufrüstung und Revanchepolitik“) weiter punkten und dem ZK den Rang ablaufen. Zwar waren die ZB-Theorien nur eine Aktualisierung der SED-Verlautbarungen ab den frühen 1950er Jahren, doch gerade darin bestand die Crux. Die ZB-Theorien lebten nach dem Zerfall der Organisation im ZK weiter fort, auch wenn es nicht müde wurde, deren „Ulbrichtsche Brille“ stets zu benennen, wenn es darum ging, ihm „Revisionismus“ zu unterstellen. Die praktische Bewältigung der Aufgaben, die im Klassenkampf entstehen würden, wurde nun vom ZK kurze Zeit später wieder zur „Hauptaufgabe“ erklärt. Das Bestreben, eine eigene Theorie zu erarbeiten, war somit nur geborgt, aus fremden Theorien entlehnt, und sie sollte nur die fehlenden Antworten auf die Praxis der Organisation des Parteiaufbaus geben.

Von der Plattform bis zum „Durchbruch des Klassenkampfes“

Die „Plattform des ZK“ wollte versuchen, die „Klassenanalyse Deutschlands“ zu erstellen, und leitete deren Notwendigkeit aus der fehlenden Verknüpfung von „wissenschaftlichem Sozialismus und Arbeiterbewegung“ ab, die es verunmöglichen würden, die „marxistisch-leninistische Analyse des heutigen Monopolkapitals“ zu erstellen.

Worum es hier nur ging, war eine reine begriffliche Reduktion auf Fragen von Strategie und Taktik; denn das ZK meinte selbst, dass „weder das Programm über Strategie und Taktik der Partei entwickelt, noch die Politik gegenüber der Klassenorganisation des Proletariats und verschiedener Massenorganisationen festgelegt“ sind. Von Interesse war nur der Ansatz des ZK, den Dornröschenschlaf der fehlenden Analyse mittels der Verbindung von „wissenschaftlichem Sozialismus und Arbeiterbewegung“ zu beenden. Dabei war ganz und gar nicht klar, was es unter „wissenschaftlichem Sozialismus“ eigentlich verstand. Aus keinem einzigen Dokument aus dieser Zeit wurde das deutlich. Vermutlich war eher an eine Eigenbewegung gedacht, die sich aus den Theorien der „Klassiker“ nährte.

Wenn die maoistische Bewegung daran ging, sich dieser Frage zu nähern, schwangen immer ihre Weltfremdheit und deren Naivität mit. Freilich nicht im späteren Karuscheitschen Sinne des „naiven Opportunismus“, sondern im naiv-wissenschaftlichen, allgemeinhin mit „bürgerlicher Ideologie“ zu charakterisieren. Die Auflistung des Aufgabenkatalogs (Kommissionen zur Analyse, Aufbau von Stadtteil- und Betriebsgruppen als Keimformen möglicher Massenorganisationen, Untersuchungskommissionen, Propaganda zu aktuellen Fragen etc.) des ZKs war demnach auch nur eine entstellte Form dieser ihrer Vorgehensweise, naiv also und verworren, mit dem scheinbaren Ansatz unterlegt, dem „klassischen Opportunismus“ zu begegnen. Damit überhaupt eine Abgrenzung von ihm vorgenommen werden konnte, entwarf das ZK den großen Bogen von der Einheit (einschließlich des Jugendverbandes) aller bei der Erstellung der „Klassenanalyse“.

Mit Fug und Recht kann daher behauptet werden: Wer sich auf die Leninschen Verdikte dieser Programm-Konzeptionen berief, war mit dem falschen Bein aufs Pferd aufgestiegen. Die „Plattform des ZKs“ gab aber viele Hinweise auf die allgemeinen Erscheinungsmerkmale dieser Bewegung, die ständig lärmte, ohne jedoch theoretische und soziale Stützen zu haben. Da passte es ins Bild dieser verkrüppelten Mainstream-Soziologie/Methode, das, was als unfehlbar galt, den historischen Materialismus nämlich, anzurufen, um mit ihm mit Überzeugungskraft all diejenigen mit Ausschluss zu bedrohen, die sich den Beschlüssen des ZK widersetzen würden.

Gemünzt war das auf den LV NRW und die Gruppen, die sich ihm anschließen sollten. Als sich im April 1970 die Rote Garde in den Kommunistischen Jugendverband Deutschlands umbenannte, konterte das ZK mit einem „Anhang zur Analyse des ZK“ (April), wo es erklärte: „Wir stellen fest, dass es zwischen dem Landeskollektiv der Roten Garde NRW und dem ZK grundlegende Differenzen in den wichtigsten Fragen gibt. Wir werden Euch unsere Plattform mitteilen. Ihr seid dann als Parteimitglieder verpflichtet, euch an die Linie dieser Plattform zu halten und sie durchzuführen. Andernfalls handelt ihr organisationsschädigend. Wir hoffen, dass ihr euch von der Richtigkeit der proletarischen Linie der Plattform überzeugen lasst.“ (33)

Die „Plattform“ wurde schlicht zur „revolutionären Theorie“ erhoben, ja zur Abgrenzung gegenüber all denjenigen, die ihren eigenen Weg gehen wollten. Die weitere Existenz von Organisation und Unterorganisationen der Partei hing davon ab, sich „an die Linie dieser Plattform zu halten und sie durchzuführen“, ansonsten würde man „organisationsschädigend“ handeln, was in der Regel den Ausschluss zur Folge hatte. Die Forderung nach der „Hauptseite Theorie“ entpuppte sich nun gar als reine Organisationstheorie, die die Erfüllung von historischen Aufgaben enthielt und sich selbst repräsentierte. Dem ZK müsste es entgegengekommen sein, dass der „Bolschewik“ des LV NRW in seiner Null-Nummer, den Ausgaben 1 und 2, die (menschliche) Praxis in den Vordergrund rückte. Hier wirkte nämlich die Praxis als subjektive Wahrheit, während die „Plattform“ die objektive Seite des Materialismus darstellte.

Bolschewik zur Plattform des ZK (Juni 1970)
Bild vergrößern Bolschewik zur Plattform des ZK (Juni 1970)

Die von Klasseninteressen beseelte „Plattform“ stand am Ende dieses Arbeitsprozesse, oder besser, eines Schattenentwurfes der Theorie, der die Praxis zu folgen hatte. Beide Varianten unterstellten sich nur abstrakten Begrifflichkeiten, die keineswegs auf objektive Bedingungen zurückgriffen. Für das ZK und das ZB war die objektive Wahrheit des Erkennens, der man sich bemächtigte, zunächst „endgültig“. Das zeigte, wie dieses Begriffspaar verballhornisiert worden war.

Diese Richtung sollte sich im Juni 1970 bestätigen. Die dritte Ausgabe des „Bolschewik“ (eigentlich die Nr. 2, d. Vf.) hieß im Untertitel: „Theoretisches Organ des KJVD“. (34) Zur „Plattform des ZK“ und zu „Bauen wir eine starke bolschewistische Partei auf“ führten die Verfasser aus: „Die Vertreter der schwarzen Linie meinen also, dass die hervorragendsten Vertreter der Arbeiterklasse zur revolutionären Partei der Intelligenz gelaufen kommen, um sich mit den Intellektuellen zu vereinigen …“

Das „Theoretische Organ“ des KJVD löst den Widerspruch zwischen Theorie und Praxis auf seine eigene Art und Weise: Es stellte nicht nur die angebliche (politische) Bevormundung in Frage, sondern eine objektive Erkenntnistheorie überhaupt. Die grundlegende Lösung lief schon nach der bekannten Art ab: Problem gesehen, Problem gelöst! Mit dem „Geschwätzartikel“ des „Roten Morgen“ aus dem August 1970 („Über die Aufgaben des Roten Morgen, dem Klassengegner die Faust ins Gesicht“) konnten sich selbst die Praktiker des ZB nicht mehr anfreunden. Und das, obwohl die Kurskorrektur deutlich wie nie war, denn Ernst Aust erklärte dort: „Die Gefahr, dass sich der Rote Morgen in eine theoretisierende Zeitschrift für Intellektuelle verwandeln könnte, ist spätestens mit dieser Ausgabe gebannt.“ (35)

Später, als alles wieder wie weißer Rauch verschwand, Ernst Aust sich auf dem a. o. Parteitag im Dezember 1971 in der Defensive sah, erklärte er unverblümt, was er nun von der Theorie vers. „Plattform“ überhaupt hielt: „Ferner wurde in der Plattform des ZK die Hauptaufgabe nicht korrekt bestimmt, so dass man annehmen konnte, dass gegenwärtig die Hauptaufgabe beim Parteiaufbau allein die Schaffung der revolutionären Theorie, die Ausarbeitung der Klassenanalyse sei … Das ist natürlich falsch. Die Hauptaufgabe der Partei in der gegenwärtigen Entwicklungsperiode ist die Gewinnung der Vorhut des Proletariats für den Kommunismus.“ (36)


Teil 6: Das Jahr 1970 (zweites Halbjahr)

Am Ende der Auseinandersetzung zwischen der „Bolschewik-Fraktion“ (KPD/ML-ZB, d. Vf.) und der Mutter aller Parteien, der KPD/ML-ZK, sollte der einstige Streit um die Vorherrschaft im leninistischen Lager zugunsten des ZK enden. Denn mit der Auflösung des ZB im Frühjahr 1973 waren die ideologischen Segmente, mit denen das ZB seit Anfang des Jahres 1970 punkten konnte, nun auch in deren Händen vereint. Ob das ZK, außer dem ewigen Wortschwall, endlich die „Klassenanalyse“ erstellen zu wollen, eigene theoretisch-ideologische Positionierungen erarbeitet hatte, war in Frage zu stellen. Außer einigen wirren Thesen, die sich später in der sog. „Zwei Wege-Theorie des westdeutschen Kapitals“ niederschlagen sollten, hatte es 1970 nicht viel anzubieten. Es sei denn, man würde die „Dreibund-Theorie“ oder Bildung der „Roten Betriebsgruppen“, aus denen später die „Revolutionäre Gewerkschaftsopposition“ werden sollten, die immerhin ab den späten 1970er Jahren eine Reihe von RGO-Betriebsräten (etwa bei Hoesch in Dortmund) hervorbrachte, als ureigenste Schöpfung des ZK betrachten. Doch auch diese war der KPD-Politik aus der Weimarer Zeit entlehnt, die aber im Gegensatz zu der Politik der K-Gruppen einst massenwirksamen Charakter hatte.

Für eine ganze Generation der Marxisten-Leninisten in der BRD war das theoretische Gerüst des ZB, ob es geglaubt wird oder nicht, ein sog. politischer Meilenstein. Es sollte vor allem die Linie zur Sozialdemokratie sein, die sich stets von Kampagne zu Kampagne fortentwickeln sollte und die alle politischen Themen (vom Faschismus bis zur deutschen Wiedervereinigung) besetzen sollte. Aus einer einfachen „Lohndiktatstheorie“ sollte sich bis zum Herbst 1972 der „Sozialfaschismus der SPD“ (mit staatstragendem Charakter) mit all seinen Varianten als eigene Linie oder Position herauskristallisieren. Diese Politik dürfte als primäre Abgrenzung gegenüber allen anderen Gruppen zu verstehen gewesen sein. Gleichzeitig sollte sie sich noch steigern können. Indem die „Sozialfaschismuslinie“ (die später von der RGO als eigene Erkenntnis verkauft werden sollte) vers. Revanchismus nach Auffassung des ZB eine innere Schlüssigkeit aufwies, sollte sie gleichzeitig auch als Standortbestimmung für die weiteren „Massenkampagnen“ dienen. „Bonn fordert Revanche - Ostverträge - Kriegsverträge“ (April 1972) war nicht nur der Titel einer Broschüre, sondern ideologischer Kronzeuge für die Eroberungspläne des westdeutschen Kapitals gegenüber der DDR, deren Mauerbau 1961 verteidigt werden sollte.

Bethanien_Protestmarsch 1970
Die KPD/ML bei einem Bethanien-Protestmarsch

Das ZK, dass diese „Ulbrichtsche Brille“ mit dem Schlachtruf „Es lebe der Marxismus-Leninismus“, der in der „Plattform des ZK“ zum unverrückbaren Standpunkt mutierte, verteidigen sollte, und darin auf die Liquidierung der ZB-Theorien verwies, hatte aber selbst keine ideologischen Formeln gefunden, um ihnen effektiv zu begegnen. Ihre betrieblichen Kampfgruppen machten in Allzweckagitation, wo ganz nach Belieben Propaganda betrieben wurde, die sich augenscheinlich auch an keine vorgegebene Parteilinie hielt; denn das strategische Ziel für die Betriebsgruppen bestand einfach darin, die „Avantgarde des Proletariats“ aus jeder Klitsche aus dem Boden zu stampfen, um gleichzeitig im Kampf gegen die Kapitalistenklasse, den Staat und die DGB-Bürokratie („Dreibund“) auf die Schaffung von „revolutionärem Bewusstsein“ zu insistieren. Die hoch gelobte „Bethanien-Kampagne“, die im Februar und März des Jahres 1970 in Westberlin für Furore sorgte, und die unter den Parolen „Bauen wir eine starke Kommunistische Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten auf“, „Kämpfen wir für die Einheit der Arbeiterklasse“ stand (1), war in Wirklichkeit der Versuch, den studentischen Mitgliedern eine Alternative anzubieten, zur Unterstützung der Arbeitskämpfe Flugblätter zu verteilen und Demonstrationen zu organisieren.

Dass die KPD/ML ihren Standpunkt zur (revolutionären) Intelligenz nie ablegte und dass sie sich trotz aller Beteuerungen gewappnet sehen wollte, ihren Angriff als einen auf die „führende Rolle der Arbeiterklasse“ zu verstehen, machten die endlosen Debatten bis zum außerordentlichen Parteitag im Dezember 1971 deutlich. Die Herabminderung der (revolutionären) Theorie, die bei der ZK- und der ZB-Fraktion gleichermaßen als Selbstrettungsaktion verstanden worden war, wurde so zum eigentlich Fanal, das immer dann zu neuen Fraktionierungen führte, wenn eine Gruppe es wagte, gegen Spontaneität, Ökonomismus, Reformismus etc. der Gruppierungen anzukämpfen und mögliche Erkenntnisgewinne dieser über politische Zusammenhänge in Frage zu stellen.

Jeder Schritt der KPD/ML war mit einer programmatischen Festlegung verbunden und verbindlich festgelegt. Spaltungen und Trennungen von Gruppen waren schlichtweg „erkauft“ worden, das heißt, dass das Eine nicht ohne das Andere zu haben war. Aber im Wesentlichen war es, was damals öfter durchaus noch als Autorität durchging, die Kokettiererei mit dem „Erstgeburtsrecht“, was im Frühjahr 1973 dazu führte, dass sich ein erheblicher Teil der KPD/ML-ZB dieser schwerlastigen Glocke unterordnete und Tonnen von Papier vorlegte, um die Korrektheit der KPD/ML-ZK zu „beweisen“.

Nicht zufällig hatte die ZK-Fraktion um ihre führenden Leute gebuhlt. Dazu gehörte Peter Weinfurth ebenso wie Willi Dickhut oder Gerd Flatow. Schon beschämend musste sich das ZK nach seiner Niederlage auf der Kölner Landesdelegiertenkonferenz vom 26. April 1970 zurückziehen. Offenbar hatte die dort debattierte „Plattform des ZK“ keinerlei Bindung mehr erreichen können. Der Autoritätsschub, mit dem einst „Rote Garde“ und KPD/ML-Gruppen im Ruhrgebiet wie „Pilze aus dem Boden schossen“ (Peter Weinfurth), war dahin. Der KJVD, der am 18. April in Bochum gegründet worden war und der dem ZK viele Perspektiven in der Jugendarbeit nahm, war vielleicht der unverbrauchteste Teil der traditionell-bürokratischen Organisationsform. Schon der Name „Kommunistischer Jugendverband Deutschlands“ erinnerte mehr an das Erbe der KPD, während „Rote Garde“ als maschinenstürmerische Peking-Variante anmutete, die als Zitatenverein und Phrasendrescherin nun in Verruf geriet.

Die Kölner Konferenz war aber auch noch aus einem anderen Grunde wichtig. Insgesamt ging es nämlich um „disziplinarische Maßnahmen“, die nun (und auch endgültig) ergriffen werden müssten, so das ZK, um den Bruch zu verhindern. Nach einer Serie von Abgrenzungen und Anwürfen war dieser Hinweis jedoch nur noch Makulatur und die logische Fortsetzung dessen, was an der organisatorischen Front als „Mehrheits- oder Minderheitsgruppe“ bezeichnet werden kann. Ernst Aust wurde das Misstrauen ausgesprochen, was ihn nicht daran hinderte, mit einigen Getreuen im Nebenzimmer die „wahrhafte KPD/ML“ anzuleiten. Doch auch der Landesverband der nun zurückgekehrten Emigranten (unter ihnen auch Willi Dickhut) hatte es schwer, sein zerzaustes Fähnlein in die richtige Richtung zu halten. Sie, die Unbeugsamen, hatten nur am obligatorischen Grundkurs gegen „Doppelzüngler“ und „Spalter“ teilgenommen, der sich in der folgenden Zeit zur bekannten weiteren Spaltung auswachsen sollte.

Das ZK hatte eine eigene Deutung dieser Konferenz: „In dieser Situation fand auf Initiative des ZK der KPD/ML - das es, obwohl dazu berechtigt, vermieden hatte, disziplinarische Maßnahmen (Ausschlüsse) zu ergreifen - am 26.4.1970 in Köln eine außerordentliche Vollversammlung der Mitglieder und Kandidaten des Landesverbandes NRW der KPD/ML statt. Ausgehend von dem Prinzip Einheit-Kritik-Einheit versuchte es in sachlicher Diskussion die ideologischen Meinungsverschiedenheiten zu klären. Demgegenüber gab die Fraktion von Anfang an klar zu erkennen, dass ihr Ziel nicht die Einheit, sondern die Spaltung des Landesverbandes war. Sie wich jeder prinzipiellen politischen Auseinandersetzung, in der es darauf ankam, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden, aus und versuchte sie in eine persönliche Loyalitätserklärung gegenüber dem Genossen W. D. umzufunktionieren.

Auf diese Weise führte sie selbst die von ihnen aufgestellte Tagesordnung ad absurdum und trat aus der Partei aus. Ihr Austritt wurde vom ZK bestätigt … Anschließend setzten die in der KPD/ML verbliebenen Genossen die Sitzung fort. Sie stellten fest, dass durch den Austritt der parteifeindlichen Fraktion der Landesverband NRW der KPD/ML nicht grundsätzlich betroffen werde, da fünf Mitglieder der auf der letzten Landesdelegiertenkonferenz gewählten Landesleitung sowie ein Kandidat anwesend waren. Zum Vorsitzenden des Landesverbandes wurde jetzt ein klassenbewusster Arbeiter, der in seinem Heimatort großes Vertrauen bei seinen Kollegen hat, gewählt. Stellvertretender Vorsitzender wurde ebenfalls ein Arbeiter. W. D. aber blieb nach der Sitzung mit denen, gegen die er die ganze Zeit zu kämpfen vorgegeben hatte, nämlich den Studenten, die die Partei 'kleinbürgerlich zu überwuchern drohten', wie er sich ausdrückte, allein. Die proletarischen Genossen des Landesverbandes hatten ihm in weit überwiegender Zahl den Rücken gekehrt, nachdem sie seine revisionistischen Praktiken scharf kritisiert hatten …

Fassen wir zusammen: Kritisiert wurden die aus der Partei ausgetretenen Genossen nicht, weil sie Kritik übten. Das ist ihr gutes Recht. Kritisiert wurden sie, weil sie dies nicht innerhalb - sondern außerhalb der Partei mit der Methode des bürgerlichen Fraktionismus taten … Was unser Verhältnis zur abgespaltenen Fraktion angeht, so stellte der Landesverband NRW auf seiner Vollmitgliederversammlung vom 26.4.1970 bereits fest, dass sie sich durch den Namen ihrer Jugendorganisation (KJVD statt Rote Garde) bereits klar von uns unterscheiden. Das italienische Beispiel zeige, das man im Übrigen nicht verhindern könne, dass die parteifeindliche Fraktion sich ebenfalls KPD/ML nennen werde. Wir würden uns schon durch unsere politische Linie und unsere Praxis klar genug voneinander unterscheiden. Man dürfe die meisten ausgetretenen Genossen auf keinen Fall als Feinde ansehen. Man müsse sich geduldig mit ihnen auseinandersetzen und ihre berechtigte Kritik anerkennen …“ (2)

Die innerparteiliche Linke zu vereinheitlichen, kam auch für das ZK nicht in Frage. Die revolutionären Gedankenspiele, die Fraktion zu überreden und zu vereinnahmen, denn um mehr ging es ja nie, verpufften angesichts eines solchen Statements. Die populistisch gedeutete Wendung des Prinzips „Einheit-Kritik-Einheit“ gehört insgesamt zu den negativ zu bewertenden Erbschaften dieser Zeit und könnte als theoretisierendes Weltanschauungsgeschwätz bezeichnet werden, das über allem schwebte. Der auf dieser Konferenz geprägte Begriff „Ezristen“ (von Ezra Gerhard, dem ehemaligen Jugendbeauftragten des ZK, d. Vf.) durch die ZB-Fraktion war der hilflose Versuch, alle politischen Abweichungen unter einen Anwurf zu fassen. Er hielt sich bis zur Auflösung der ZB-Organisation und war auch immer Vorwand genug, bei jeder Auseinandersetzung den „schwarzen Peter“ irgendeiner „schwarzen Linie“ oder sogar „weißen Verschwörung“ zuzuschieben - eine Konzeption, mit der das Landessekretariat der KPD/ML, das verächtlich als „4-Männer-Gremium“ galt, Dickhut und seinen Mannen zum Nachsehen in diversen Streitigkeiten verurteilte.

Tatsächlich sollte die Phase der Hackerei um die richtige „proletarische Linie“ innerhalb der KPD/ML für einen kurzen Augenblick eingestellt werden. Das Ende des „intellektuellen Geschwätz“ (Ernst Aust) läutete jedoch wiederum die nächste Attacke ein. In der Juni-Ausgabe des „Roten Morgen“ hieß der Leitartikel: „Gegen den Gründungsopportunismus“. Er richtete sich gegen die KPD/Aufbau-Organisation (KPD/AO). Dort hieß es u. a.: „In der Bundesrepublik und Westberlin ist das Gründungsfieber ausgebrochen. Diesen sogenannten marxistisch-leninistischen Organisationen ist eigen, dass

1. ihrer Gründung kein aktiver ideologischer Kampf mit der KPD/ML vorausgegangen ist,

2. die beiden Seiten ihres Gründungsopportunismus sich einerseits in Ökonomismus, andererseits in verbalradikalem Gebaren und putschistischen Tendenzen offenbaren. Statt die Vereinigung von wissenschaftlichem Sozialismus und Arbeiterbewegung, sozial gesehen, die Vereinigung von Arbeitern und revolutionären Intellektuellen anzustreben, beschränkt sich dieser Opportunismus jeweils auf die eine oder andere Seite … Aus der reichhaltigen Palette der Gruppierungen beschäftigen wir uns zuerst mit der KPD/AO, einer Gruppe von ca. 20 Westberliner Studenten, die den bescheidenen Anspruch stellt, die KPD im nationalen Rahmen aufzubauen …

Jeder Marxist-Leninist in der Bundesrepublik und in Westberlin hat zur Zeit eine zentrale Aufgabe: die Schaffung der Kommunistischen Partei im nationalen Rahmen voranzutreiben. Das tut er nur, wenn er die bestehende Partei, die KPD/ML tatkräftig unterstützt und in ihr kommunistische Arbeit leistet. Er tut das keinesfalls, wenn er eine andere marxistisch-leninistische Organisation gründet, sei es eine Aufbau- oder eine Übergangsorganisation. Im Gegenteil, dadurch wird das bestehende Zentrum nicht gestärkt, sondern geschwächt, indem mehrere Zentren geschaffen werden, die angeblich alle eine zentrale Aufgabe wahrnehmen: den Aufbau der KP …

Eine Gruppe früherer SDS-Häuptlinge in Berlin hat eine vorläufige 'Plattform der Aufbauorganisation für die Kommunistische Partei Deutschlands' (KPD-AO) veröffentlicht. Zeitlich fiel sie mit der endgültigen Auflösung des SDS-BV und des SDS als überregionaler studentischer Organisation zusammen … Die KPD/ML wird in diesem Traktat, das die Aufbaukommunisten Plattform nennen, nicht einmal beim Namen genannt ..., nur angedeutet. Als inhaltliche Abgrenzung von der KPD/ML nicht ernst zunehmende Floskeln sind sie Ausdruck der Hilflosigkeit. So sucht der eifrige Leser der 'Plattform' auch vergeblich nach der historischen Notwendigkeit der KPD/AO …

Den Argumenten der Aufbaukommunisten ist eigen, dass sie die Entwicklung der Partei in Etappen leugnen, dass sie die verschiedenen historisch notwendigen Aufgaben der Partei leugnen, die den verschiedenen Etappen entsprechen. Sie reduzieren in ihrem subjektivistischen Denken die Aufgaben der Partei auf die einer voll ausgereiften Massenpartei … Der durchgängige Trick bei fast allen Argumenten der KPD/AO ist der, dass sie ihre subjektivistischen Absolutheitsansprüche an einer imaginären Partei mit der Wirklichkeit konfrontiert und aus dem negativen Erlebnis dann die Existenzberechtigung ihrer Aufbauorganisation ableiten …

1 1/2 Monate nach dem Erscheinen der 'Plattform', nachdem die KPD/AO von der KPD/ML zur öffentlichen Stellungnahme gezwungen wurde, ist in der RPK Nr. 63 ein kläglich gescheiterter Versuch einer nachträglichen Rechtfertigung der eigenen Organisationsgründung nachzulesen. Er enthält nur Plattheiten und Unwahrheiten … Da wird also behauptet, die Organisationsform der KPD/ML sei sozialdemokratisch, weil die Ortsverbände ihre Grundeinheiten seien, und das ist natürlich kritikwürdig. Diesem inhaltsschweren Vorwurf ist wiederum eigen, dass er sich nur an der Form orientiert. Es gibt keine Form ohne Inhalt …

Da der Parteiaufbau sich nicht organisch von unten nach oben vollzieht, d.h. nicht von bereits vorhandenen Betriebs- und Stadtteilzellen ausgeht, ist es ein notwendiges Durchgangsstadium, dass z.B. einzelne Genossen vorerst in einem Ortsverband zusammengefasst werden …Das heißt, der Aufbau geht primär von oben nach unten. Was ist denn daran sozialdemokratisch? ... Ein weiterer Fehler vieler Mechanisten ist, dass sie Theorie und Praxis auseinanderreißen und dann undialektisch gegenüberstellen … Diese Leute begreifen nicht, dass es keine Theorie 'an sich' zu entwickeln gilt, sondern dass die Erarbeitung der revolutionären Theorie wiederum nur in der Einheit von Theorie und Praxis möglich ist … Sämtliche bisher veröffentlichten Traktate des SDS-Altherrensyndikats zeigen ..., dass diese Leute sich lieber um die konkrete Bestimmung der Widersprüche und den daraus resultierenden Aufgabenstellungen herumdrücken. Schwergewichtig rasseln sie mit dem Säbel und rennen überall mit ihrem 'Primat der Politik' durchs Gelände.

Gerade das Studium der Widersprüche erlaubt es uns, das Verhältnis von politischem, theoretischem und ökonomischem Kampf zueinander zu bestimmen und jede dieser Formen des Klassenkampfes konkret inhaltlich zu füllen … Es dürfte unseren SDS-Veteranen doch sehr schwer fallen, sich am eigenen Kragen aus dem Sumpf zu ziehen. Da nützt es gar nichts, sich selbst zu organisieren und umzubenennen. So laut sie es auch in die Welt posaunen mögen, dass sie es jetzt aber wirklich geschafft haben, ihre Vergangenheit zu überwinden, den praktischen Nachweis bleiben sie schuldig. Zum 1.Mai 1969 hat der damalige Infi-Stratege, heute Aufbaukommunist, Christian Semler gegen die in Berlin auftretende, marxistisch-leninistische Rote Garde heftig polemisiert … Dem Konzept der RG wurde entgegengetreten, damit, dass jede Avantgardeorganisation 'gleichzeitig die Transmissionsriemen aufzeigen' muss, 'wie das Gros der Mobilisierten einzubringen ist'. Vom selben Sprecher, heute natürlich aufrechter Marxist-Leninist, wurden dann noch einige gängige anarchosyndikalistische Thesen propagiert.

Dem Transmissionsriemenargument liegen 2 Fehler zugrunde. Erstens wird die politische Situation der studentischen Linken als einziges Kriterium dafür angesehen, was eine Avantgarde ist und was nicht … Zweitens handelt es sich um ein opportunistisches Anknüpfen an wild mobilisierte studentische Massen in der Organisationsfrage. Hier liegen die zentristischen Organisationsansätze und Vorstellungen der nächsten Monate, nach dem Mai 69 im Kern begründet …

Genau diesen Fehler, nämlich sich opportunistisch an den wild Mobilisierten zu orientieren, das Überbewerten der politischen Situation der studentischen Linken als Kriterium für die Avantgarde des Proletariats, für ihre Praxis, wiederholen die Aufbaukommunisten heute aufs neue … In den Thesen der KPD/AO zur Arbeit an den Hochschulen heißt es, dass man die 'Verantwortung gegenüber dem Proletariat' klar erkennt und deshalb die 'Wichtigkeit von Massenbewegungen wie der Studentenbewegung' für den Kommunisten erkennt und ernst nimmt.

Die Funktion des Kleinbürgertums als 'potentiellem Bündnispartner' des Proletariats wird anhand eines Lenin-Zitats aus 'Was tun' illustriert … Die Fragen des Bündnisses mit Fraktionen des Kleinbürgertums hat für das Proletariat erst aktuelle Bedeutung, wenn es selbst erwacht ist, selbst kämpft und in diesem Kampf Bündnisse eingeht. Genauso sind allseitige politische Enthüllungen und Arbeit in allen Klassen der Gesellschaft erst dann politisch sinnvoll, wenn die Kommunisten in der Arbeiterklasse fest verankert sind, Fuß gefasst haben …

Was soll es also heißen, wenn die AO von der 'Verantwortung gegenüber dem Proletariat' redet und in diesem Zusammenhang jetzt die Bedeutung von Massenbewegungen wie der Studentenrevolte hervorhebt? Da auch aus der Plattform nichts hervorgeht, heißt es, dass sie die Hauptaufgaben der jetzigen Etappe nicht bestimmen, nicht bestimmen können, weil sie die verschiedenen Widersprüche nicht studieren. Also auch in dieser Frage kommen sie über ihren eigenen bornierten Gesichtskreis der Studentenbewegung nicht hinaus …

Auf der Grundlage des bornierten Verständnisses vom 'Primat der Politik' schwätzen die Spaltergenossen von einer 'bloß proklamativ bleibenden Wiederholung des Führungsanspruches der Partei' … Dieses Argument ist falsch, weil erstens Massenaktionen, Kämpfe, praktisches Eingreifen in die Politik der Bewegung als einziges Kriterium für die Avantgarde angesehen werden. Zweitens werden die Formen des Klassenkampfes auf eine reduziert, und diese eine wird nicht einmal richtig inhaltlich gefüllt. Drittens hat die Spalterorganisation es bisher konsequent unterlassen, die für die jetzige Etappe historisch notwendigen Aufgaben konkret zu formulieren …

Das Zaubermittel, mit dem die Aufbaukommunisten die inzwischen weitgehend anerkannte Aufgabe - den Aufbau der proletarischen Partei - in Angriff nehmen wollen, ist die strategische Forderung nach der Verkürzung des Arbeitstages. Während für die Bourgeoisie die ökonomische Macht immer schon das Entscheidendste war, d.h., es war für sie von zweitrangiger Bedeutung, mit welcher Staatsform sie ihre ökonomische Herrschaft ausübt, ist für das Proletariat der Kampf um die politische Macht das absolute Kriterium. Das bedeutet, dass der ökonomische Kampf, der Kampf um ökonomische Reformen wie Lohnverbesserungen, Verkürzung des Arbeitstages etc. immer dem politischen Kampf, dem Kampf für die sozialistische Revolution untergeordnet sein muss ...

Damit stellt die AO das ABC des Marxismus-Leninismus auf den Kopf, ordnet den politischen Kampf dem ökonomischen Kampf unter. Zu Lenins Zeiten hieß das Ökonomismus. Wenn die Spalterorganisation dann auch noch behauptet, der Kampf um Verkürzung des Arbeitstages sei der Kampf um die Einheit der Arbeiterklasse, sei der beginnende Kampf um die Macht, so reihen sich diese Genossen ein in die Tradition von Bernstein, Martow, Chruschtschow und Liu Schao-tschi, die ja allesamt das Proletariat irrezuführen versuchten …

Wenn die AO meint, die Forderung nach Verkürzung des Arbeitstages sei die strategische Forderung, um die Arbeiterklasse zu einen, so geht man doch offensichtlich von der Einschätzung aus, dass die ökonomische Front in dieser Etappe die Hauptfront des proletarischen Kampfes ist … Da der ökonomische Kampf bisher jedoch nur in Zeiten der totalen Defensive des Proletariats die Hauptfront des proletarischen Klassenkampfes darstellte, so muss man zu dem Schluss kommen, dass das Proletariat auch weiterhin in dieser totalen Defensive zu bleiben habe, nicht offensiv vormarschieren darf …

Sie mögen noch so sehr marxistisch-leninistisch tönen und sich als die ideologischen und theoretischen Führer des Proletariats aufspielen: Ihre wahre Haltung gegenüber dem Proletariat kommt schon darin zum Ausdruck, dass sie ihre strategische Forderung, d.h. die Forderung, die sie für die wichtigste halten, am 1.Mai noch nicht einmal in den Mittelpunkt ihrer Agitation und Propaganda stellten. Ihre zentrale Forderung war als zentrale Forderung noch ökonomistischer, noch reformistischer: Die Vorbedingungen für den Kampf für die Verkürzung des Arbeitstages - die Forderung, über die sie die Partei aufbauen wollen - sei der Kampf gegen die weitere Spaltung und Diskriminierung der Arbeiter. Der politische Kampf ist damit noch weiter in den Hintergrund getreten, die Notwendigkeit und Möglichkeit des sofortigen Aufbaus der Partei geleugnet …

Das SDS-Altherrensyndikat glaubte also, wegen des politisch recht belanglosen Umstandes, dass sich - ihrer Meinung nach - gegenwärtig keine revolutionäre Organisation KPD 'nennen' kann, eine eigene Organisation gründen zu müssen. Diese Apostel des Marxismus-Leninismus haben es unterlassen, den Aufbau einer weiteren kommunistischen Organisation in öffentlichen Auseinandersetzungen mit der KPD/ML zu begründen und haben es vielmehr vorgezogen, einem aktiven ideologischen Kampf aus dem Wege zu gehen.

Diese Taktik des prinzipienlosen Friedens ist eine Erscheinungsform des KPD/AO-Liberalismus … Bei alledem haben es die Aufbaustrategen wohlweislich unterlassen, für oder gegen die Fraktionisten innerhalb der KPD/ML Partei zu ergreifen. Und das bedeutet eben: prinzipienloser Kampf gegen die KPD/ML, prinzipienloser Frieden mit allen Fraktionisten. Das ist das Primat des KPD/AO-Liberalismus. Prinzipienloses Taktieren und effektheischerisches Wortgerassel einerseits, ökonomistische Praxis andererseits, das sind die beiden Seiten des Primats des KPD/AO-Ökonomismus … Das Scheitern der AO ist also jetzt schon in ihrer durch und durch opportunistischen Linie 'im Kern begründet'. Hier und heute verdammen sie sich für kommende offene Klassenschlachten zur völligen Bedeutungslosigkeit.“ (3)

Der Artikel im „Roten Morgen“ strotzte geradezu von einem gewachsenen Selbstbewusstsein. Im Zentrum der Auseinandersetzung mit der KPD/AO (später KPD) stand die monströse KPD/ML-ZK und deren Anspruch, im Mittelpunkt der Bewegung zu stehen. Man könnte es auch so formulieren: Alles, was marxistisch-leninistische Beine hatte, sollte sich ihr unterordnen. Daher meinte das ZK auch das Instrument zur Massenbeeinflussung gefunden zu haben.

„Jeder Marxist-Leninist in der Bundesrepublik und in Westberlin hat zur Zeit eine zentrale Aufgabe: die Schaffung der Kommunistischen Partei im nationalen Rahmen voranzutreiben. Das tut er nur, wenn er die bestehende Partei, die KPD/ML tatkräftig unterstützt und in ihr kommunistische Arbeit leistet …“ (4)

1970 trat man durch Fraktionierung einer Gruppe bei, teils aus persönlichen, teils aus praktischen Gründen, die sicherlich mit der innerstädtischen Präsenz von Gruppen zusammenhingen, und teils aus Gründen, die in gesellschaftlichen Umschichtungen (Sozialisierung) und in organisatorischen Selbsthilfeaspekten, was sich z. B. in den sich entwickelnden Häuserbesetzungen durch die späteren Autonomen niederschlug, gelegen haben dürften. Die KPD/ML hatte hierzu absolut keinen Zugang. Das Gruppenverhalten war sozusagen ambivalent. Und der Marxismus-Leninismus dürfte nur in der Gestalt der „roten Überväter“, die von der Tribüne winkten, anwesend gewesen sein. Der Maoismus hatte trotz aller heutigen literarischen Versuche, ihm sozusagen einen folkloristischen Zug und „Bauernmentalität“ (vgl. etwa: Henning Böke: Maoismus. China und die Linke. Bilanz und Perspektive) zu unterstellen, viel Gewicht bei der Gruppenbildung. Vor allem war es die Kulturrevolution, die das Neue heraufbeschwor und die die geschichtslastige Welle, die die Jugend nach oben spülte, die, wenn von Che Guevara einmal abgesehen wird, ohne Beispiel war. Aber wahrscheinlich wurde Mao von allen falsch interpretiert.

Historisch betrachtet war die Widerspruchstheorie, so könnte gemutmaßt werden, der (populistische) Grundzug seiner materialistischen Dialektik, die in der „Massenlinie“ gipfelte. Jene Theorie, die die Basis und die spontanen Erhebungen in den Mittelpunkt stellte. Mao hatte nie einen Hehl daraus gemacht, von der Partei aus an die Massen zu appellieren, wenn er die revolutionäre Zukunft des Landes bedroht sah. „Rebellion ist vernünftig“ (tsao-fan yu-li) war der Kernsatz der maoistischen Philosophie. „Vernünftig“ hieß aber nicht „berechtigt“. Über die richtige Übersetzung kann gestritten werden. Doch in der ZB-Variante war sie „berechtigt“. Und damit war jener antagonistische Widerspruch („Bombardiert das Hauptquartier“) begründet, der keinerlei Rehabilitierung mehr zuließ. Die Auseinandersetzung mit dem ZK sollte in einen „Kampf zweier Linien“ einmünden, den es jedoch nicht gab; denn die Verwässerung der Positionen beider Seiten ließ es gar nicht zu, dass klare Trennungsstriche in den Auseinandersetzungen gezogen werden konnten.

In den frühen Auseinandersetzungen in der KPD/ML konnte niemand etwas mit deutlichen Positionierungen anfangen. Meistens standen die Debatten schon unter Vorverurteilungen. Mühe gab sich niemand, sie klar und deutlich zu benennen. Der Marxismus-Leninismus galt als „uralte Weisheit“ schlechthin. Und da in ihm so ziemlich alle politischen Willenserklärungen enthalten waren, ging es nur noch um deren operative Umsetzung. Ein Trotzkist blieb Trotzkist, und ein Linksopportunist Linksopportunist. Die Zentralen Arbeitskonferenzen des ZK (auch: ZK-Sitzungen), die in all ihren Richtlinien Attacken gegen die aller Orts auftauchenden „bürgerlich-reaktionären Linien“ ritt, konnten sich gar nicht - bei den sich ständig widersprechenden Ansichten - zu einer von allen getragenen Meinung durchringen. Sie griffen zu disziplinarischen Maßnahmen gegen alles, was gegen „die Linie der Partei gerichtet war“, was in der Regel Ausschluss bedeutete. Sämtliche gruppendynamischen Prozesse, die hier wirkten, konterkarierte das ZK mit dem Hinweis auf seine Sichtweise in der „Intellektuellenfrage“: „Statt die Vereinigung von wissenschaftlichem Sozialismus und Arbeiterbewegung, sozial gesehen, die Vereinigung von Arbeitern und revolutionären Intellektuellen anzustreben, beschränkt sich dieser Opportunismus jeweils auf die eine oder andere Seite …“ (5)

Das eigentliche Proletariat verkörperte somit das ZK. Und auch die alte Frage, die sich im Streit mit der ZB-Fraktion entzündet hatte, wurde hier wieder als politische Strategie oder Vorstellung entwickelt. Die Einlassung des ZK diente zur reinen Legitimation. Dass das „SDS-Altherrensyndikat“ noch einige Monate vor diesem Artikel sogar von Ernst Aust persönlich in die Nähe der KPD/ML gerückt worden war und er sie als „vorwärtstreibende Elemente“ bezeichnet hatte, interessierte niemanden mehr.

Hier war die KPD/ML-ZK wie die KPD/ML-ZB: Sollte es jemand wagen, die Herrschaftsstrukturen anzutasten, so musste das nachhaltige Konsequenzen nach sich ziehen. Möglicherweise war dieser überrevolutionäre Avantgardismus die politische Unabhängigkeitserklärung der beiden Gruppen schlechthin. Sie wetteiferten um den richtigen „proletarischen Kurs“ oder die „proletarische Linie“. Jeweils gewendet, wurde mit großer dramatischer Geste erklärt, dass der „Weg das Ziel“ sei. Der Theoretiker der II. Internationale, Eduard Bernstein, der einst diesen Halbsatz prägte, war auf einmal wieder allgegenwärtig. Nicht im Sinne seiner Programmatik, sondern in dem Versuch, mit der KPD/ML den „Aufbau der proletarischen Partei“ in Angriff zu nehmen, was als Weg und Ziel zugleich gedeutet werden könnte.

Auch das Parteiaufbaukonzept von oben nach unten, das für alle Gruppen gleichermaßen galt, sollte sich in der Juni-Ausgabe des „Roten Morgen“ wiederfinden. Hatte das ZK noch gegen das ZB heftig wegen seines Aufbaukonzepts polemisiert, dass den zentralistischen Aufbau von einem Zentrum aus vorsah, so begegnete es diesem Konzept mit einem sophistisch ausgeklügelten Bild über den Parteiaufbau: „Da der Parteiaufbau sich nicht organisch von unten nach oben vollzieht, d.h. nicht von bereits vorhandenen Betriebs- und Stadtteilzellen ausgeht, ist es ein notwendiges Durchgangsstadium, dass z.B. einzelne Genossen vorerst in einem Ortsverband zusammengefasst werden … Das heißt, der Aufbau geht primär von oben nach unten …“ (6)

Ein knappes Jahr später geißelte der KABD diesen, wie er meinte, „Ultralinkismus“: „Das Austsche Sammelsurium konnte keine andere Politik entwickeln als die des Subjektivismus, des Abenteurertums und ‚linken‘ Radikalismus. Eine Politik, die in der Geschichte des ‚Linksopportunismus‘ wohl einmalig, der Gipfel der Dummheit ist …“ (7)

Dass das nichts anderes war, als die Traditionslinie der Arbeiterbewegung zu rekonstruieren, war nicht eine einfache Randerscheinung der Bewegung, sondern die Wiedereinsetzung des „Geistes des Marxismus“. Dass er der komplexer werdenden Realität kaum noch Stand hielt, sondern anderen einfach aufgezwungen wurde, rächte sich bitter; denn er sollte missbraucht werden und nur als Schaltstelle politischer Lenkung fungieren.

In der Juni-Ausgabe 21/22 des „Rebell“ wurde das ZK der KPD/ML über seine eigene Geschichte belehrt. Der „Rebell“ meinte, dass die „die Behauptung des 'Roten Morgens' im September 1968 von den 21 Städten mit ML-Gruppen falsch gewesen“ sei. Und fügte hinzu: „Es gab kaum 10 Gruppen, die eine längerfristige Arbeit leisteten. Nur wenige Gruppen verfügten über qualifizierte Kader. Keine einzige Gruppe arbeitete jedoch nach festen Kaderprinzipien.“

Die Gruppe Roter Morgen Hamburg habe Ende September 1968 gesagt: „... die auf den 'Roten Morgen' orientierten Gruppen sind weder ideologisch noch organisatorisch in der Lage, eine Partei zu gründen.“

Anfang Oktober 1968 habe auch die Gruppe Roter Morgen Mannheim erklärt: „Ausgehend von unserer Situation in Mannheim können wir die Wiedergründung der KPD nicht befürworten.“

Die ML Tübingen hätten sich dem angeschlossen. So sei aus den süddeutschen ML die RJ/ML entstanden.

Die KPD/ML habe damals gegenüber der bürgerlichen Presse von schon mehr als 1.000 Mitgliedern geredet, als es eben 40 gewesen seien.

Rote Garde 1970
Rote Garde 1970

Ezra Gerhard sei ein Anhänger der trotzkistischen „Unione dei Marxisti/Leninisti Italiani“ (UdMLI). In der Führung von Partei und „Roter Garde“ (RG) in Berlin säßen ja auch Leute von der KJO Spartacus. Das passe gut zusammen. Die befreundete KPD/ML-RW sei zumeist in NRW beheimatet. (8)

Damit brach der „Rebell“ noch einmal den Streit vom Zaun, der in den kommenden Monaten von eminent wichtiger Bedeutung werden sollte. Es ging nämlich um die Neugründung einer weiteren „proletarischen Organisation“, die diesen Namen auch zu Recht tragen sollte. Diverse Versuche des KAB/ML, aus der Tübinger ZAK-Konkursmasse eine eigene Gruppe zu gründen, die aus der Schattenexistenz der Hochschule heraustreten sollte, waren gescheitert. Die Polemik gegen das ZK, die die Gründung der KPD/ML noch einmal in Frage stellte, wurde einige Monate später von der KPD/ML-RW dazu benutzt, nun ihrerseits Front gegen die „prinzipienlose Vereinigungsprojektmacherei“ der „Linksradikalen“ um den „Roten Morgen“ und die „Rote Fahne“ zu machen. Merkwürdig war nur, dass sich alle in die „Kontinuität der KPD/ML“ stellten. Das ZB hielt an der Gründung und am „Revolutionären Weg“ fest, obwohl der „Bolschewik“ ein ganz anderes Organ war, und die KPD/ML-RW wollte über den „Bund“ zur Partei und die Voraussetzungen für eine Parteigründung einfach nur nachholen, was als offener Blödsinn bezeichnet werden darf; denn der Parteiaufbau des KAB/ML und der KPD/ML-RW, der von der SdAPR in Russland um die Jahrhundertwende (1900) entlehnt worden war, fand unter ganz anderen Bedingungen und Verhältnissen statt.

Womöglich ging es immer noch um die „Urwahl“, die mit abstrakter Überzeugungskraft ausgestattet war und im subtilen Spiel von Zufällen und Umständen, Kontakten und Neigungen, Cliquenbildung, Freundschaften, Lokalpatriotismus etc. schnell an Grenzen stieß. Lokale und regionale Gruppen, Untergruppen und Zellen, vermochten auch gar nicht mehr zu unterscheiden, worin sich Bünde, Aufbauorganisationen, Zirkel und Parteien eigentlich unterschieden. Und was überhaupt ein „marxistisch-leninistischer Parteiaufbau“ war. Der Kaderstamm der Gruppen entstammte möglicherweise sogar einem biografischen Aktionismus, der sich seit der Studentenbewegung in den großen Städten gehalten haben dürfte. Hier war das Rekrutierungsfeld relativ übersichtlich. Und schnell dürfte auch klar gewesen sein, wer sich mit dem Arbeitermilieu anfreunden konnte, wer Sponti blieb usw. Die KPD/ML blieb unter diesen Gesichtspunkten zeitlebens eine politische Kleinfamilie mit gesellschaftlichen Ansprüchen.

In der Juni-Ausgabe des „Bolschewik“, dem Theoretischen Organ des KJVD, feilte der Jugendverband der KPD/ML-ZB weiter an seiner Polemik gegen das ZK. Die „Plattform des ZK“ wurde dort als „Dokument des Liquidatorentums“ bezeichnet und die Polemik war gegen den Artikel „Bauen wir eine starke bolschewistische Partei“ aus der März-Nummer des „Roten Morgen“ gerichtet. (9)

Die Polemik des „Bolschewik“ gegen das ZK kann nur als komplette Verdrehung der Tatsachen bezeichnet werden. Aber das war so. Man verdrehte gerne ins Gegenteil, gab aus dem Zusammenhang gerissene Halbsätze preis, und oftmals war es auch so, dass die Quellen, aus denen zitiert wurde, nebulös blieben. Einer dieser verfälschten Sätze lautete: „Die Vertreter der schwarzen Linie meinen also, dass die hervorragendsten Vertreter der Arbeiterklasse zur revolutionären Partei der Intelligenz gelaufen kommen, um sich mit den Intellektuellen zu vereinigen …“

Das ZK hatte nie von „hervorragendsten Vertretern der Arbeiterklasse“ gesprochen. Allerdings sprach das ZK von den „Fortgeschrittensten (auch Avantgarde) der Arbeiterklasse“, die es zu gewinnen gelte. Und schon gar nicht sprach das ZK von denen, die „zur revolutionären Partei der Intelligenz gelaufen kommen …“ Zwar war der letzte Halbsatz billige Polemik, aber der KJVD meinte, sich damit wohl gegen den eigenen Intellektualismus abschirmen zu müssen.

Auch in der Frage der Jugendorganisation hatte das ZK die Theorie vertreten, dass es darauf ankäme, die „Selbständigkeit der Jugendorganisation“ für eine Zeit einzuschränken, aber nie einzustellen oder sie sogar gänzlich zu eliminieren. Später sollte das ZK ja ausdrücklich jene Formulierungen zurücknehmen, die den Streit entfacht hatten. Das Wesen einer Massenorganisation solle nach Ansicht des KJVD darin bestehen, dass sie „führenden Einfluss auf die nichtorganisierten Jugendlichen ausübt“. Hatte das ZK etwa etwas anderes behauptet?

Wieder einmal musste das viel geschmähte Berliner ZKoll (Zentralkollektiv bzw. Bundesleitung der „Roten Garde“) für einen Trotzkismus herhalten, den es gar nicht gab. Den damaligen Schriften jene Tendenzen nachzuweisen, erscheint auch aus der heutigen Perspektive ziemlich konstruiert und weitaus komplizierter als es auf den ersten Blick erscheint. Worum es ging, war für den KJVD relativ einfach gestrickt: In den Pamphleten und Plattformen sollen sich, versteckt, alle möglichen Abweichungen vom Marxismus-Leninismus befunden haben, die sogleich das Gesamtbild „Trotzkismus“ hervorbrachten.

Was dem russischen Revolutionär und Mitbegründer der „Roten Arbeiter- und Bauerarmee“ (kurz: Rote Armee) nicht alles unterstellt worden war, dürfte ein ganzes Arsenal der berühmten „konterrevolutionären Abweichungen“, die in dem (gesamten) Kontext der Schriften, Pamphlete und Manifeste der IV. Internationale enthalten waren, gewesen sein. Natürlich war der „Trotzkismus“ vom klassischen Schrifttum begleitet. Und seine Vertreter legten durchaus (vgl. etwa Ernst Mandel) Beeindruckendes vor. (10)

Mitunter erschien es so, als ob er für den Maoismus als Katalysator funktionierte. In der Programmdiskussion, so könnte gemutmaßt werden, ließ er die Maoisten weit hinter sich. Und auch im Aufbau einer neuen Weltpartei dürfte er mehr zu bieten gehabt haben. Ziel des Trotzkismus war es, eine proletarische Weltpartei mit leninistischen Zügen aufzubauen, die für die „sozialistische Weltrepublik“ kämpfen würde. Das zog den Zorn der Maoisten nach sich, die sich in ihrer Wohlgefälligkeit der III. Internationale suhlen konnten und die ihn, neben der Sozialdemokratie, als einen der „Weltfeinde“ überhaupt erklärten. (11)

War schon „Schlagt die weiße Verschwörung“, jenes Pamphlet, das einst der Auslöser für die Trennung des Landesverbandes NRW der KPD/ML von der sog. „Dickhut-Flatow-Clique“ war, vom Vorwurf des „Trotzkismus“ getroffen, so konnte der „Bolschewik“ hieran anknüpfen. Einem Mitglied des ZKoll wurde vorgeworfen, dass er im März 1969 Mitglied der Leitung von „Spartacus - Initiativausschuss für eine kommunistische Jugendorganisation“ gewesen sein soll. Obwohl diese Gruppe kaum im Schrifttum Erwähnung fand, war sie ein „Hort der Verschwörung“. Dies betraf auch die unselige Geschichte des Jürgen L., der in der „Brutstätte der schwarzen Linie“ in Bochum seinen „Trotzkismus verbreiten konnte“ (Peter Weinfurth). Dieser soll sogar im Mai 1968 in Frankreich Mitglied der PSU gewesen und bei der Organisierung des Trotzkismus dort eine wesentliche Rolle gespielt haben. Einem ehemaligen Herausgeber von „Was Tun?“ wurde vorgeworfen, sich in die KPD/ML eingeschlichen zu haben, um deren Parteiarbeit zu sabotieren.

Man merkte dem „Bolschewik“ an, dass er überall seine Gegner sah, die sich auf Leitungsebene einnisten würden und die mit ihrem sog. „Entrismus“, einem angeblichen Markenzeichen des „Trotzkismus“, überall für Unordnung sorgten. Dass die KPD/ML im Prinzip nichts anderes machte, also Fraktionen bildete und spaltete, war für die Parteigänger wohl zu hoch. Spätestens mit dem Abgang Peter Weinfurths aus den führenden Positionen der KPD/ML (12), der als „Operettentrotzki“ auch konfessionell festgelegt worden war, hätte es dämmern müssen. Doch niemandem gelang es, den gordischen Knoten aus Halbwahrheiten, Verdächtigungen und Verächtlichmachungen zu durchschlagen.

Auch die sog. „Strähle-Gruppe“ aus Mannheim, die sich schon früh kritisch zur Gründung der KPD/ML geäußert hatte, teilte das Schicksal der zähnefletschenden Aufrechtenden, die gegen jedes Renegatentum rigoros vorgingen. (13) Im Juni 1970 gab die Gruppe, d. h. der KAB/ML Mannheim, ein Organ heraus, dass sich ebenfalls, wie das Organ von RJ/ML und KAB/ML, „Rebell“ nannte. Es handelte sich hierbei um die erste und zugleich letzte Ausgabe dieser Zeitung. Es wäre gar nicht so wichtig, sie zu erwähnen, wenn dort nicht der Vorwurf der „Unione-Konzeption“ wieder entdeckt worden wäre. Ein „Konzept“, das in den verschiedenen Fraktionen der KPD/ML immer Grund genug war, „Verdächtige“ zu orten.

In dieser Ausgabe hieß es zur Tübinger Organisation des KAB/ML und der RJ/ML: „Aufgrund ihrer besonderen Situation - reine Uni-Praxis, keine Betriebe, kleinstädtisches Milieu, kein nennenswerter Einfluss von Revisionisten, Trotzkisten u. ä. - sind die Tübinger Studenten gar nicht in der Lage, ihrem angemaßten Hegemonieanspruch auch nur ansatzweise gerecht zu werden. Dass sie dennoch versuchen, proletarische Gruppen, die sich im Betrieb tagtäglich mit den verschiedenen Erscheinungsformen der bürgerlichen Ideologie auseinanderzusetzen, ihre Buchweisheiten aufzuzwingen, wie z. B. der Kampf gegen den Revisionismus zu führen sei, beweist nur ihre unheilvolle Arroganz … Die Trennung der Tübinger Studenten von der Mannheimer Gruppe unter hergesuchten Vorwänden ist darauf zurückzuführen, dass es den Tübinger Studenten zu unbequem ist, sich von uns ständig in ihrer kleinbürgerlichen Praxis kritisiert zu sehen …“ (14)

Jene „Erscheinungsformen“ der „Union“ (u. a. Hegemonieanspruch, Buchweisheit, Arroganz, kleinbürgerliche Praxis etc.) hatte schon Dickhut ständig im Munde geführt, wenn es darum ging, seiner bundesweiten Sammlungsbewegung gegen die „Kleinbürger“ einen proletarischen Halt zu geben. Dass das ZB sich kurzfristig mit der „Strähle-Gruppe“ arrangierte, konnte nicht verwundern; denn sie sollte als Sympathisantengruppe fortan im süddeutschen Raum aktiv werden. Auch das ZK bemühte sich, nach den bisherigen Erkenntnissen, um sie. Da es im Sommer 1970 dort relativ schwach war, sollte sie als „Aufbaufraktion“ den Spaltern um den KAB/ML (ab August 1970 KABD) eine Abfuhr erteilen. Beide Gruppen buhlten also um Nachwuchskader, die selbst, außer einigen Betriebsarbeitern, nicht viel anzubieten hatte. Diese Arbeitertümelei vermittelte aber das Gefühl, die „Besten des Proletariats“ zu sammeln. Auch dann noch, wenn in ihren Reihen „Opportunisten“ und „Verräter“ standen, die isoliert werden sollten.

Eine fast ähnliche Geschichte spielte sich um Hugo Lanz, einem Parteisekretär der OG München der KPD/ML-ZK, ab. Lanz, der seit 1969 wohl zu den frühen Marxisten-Leninisten im Münchener Raum gehörte, wurde nun verdächtigt, „Agent des Klassenfeindes“ gewesen zu sein, der den Ortsverband sogar in den „finanziellen Ruin“ geführt haben soll. (15) Im Juni 1970 zeichnete dieser noch für eine Broschüre des Kreisverbandes München der KPD/ML-ZK „Parteiaufbau - Schulung - Klassenanalyse - Eine Stellungnahme der KFML“ (Schweden, d. Vf.) verantwortlich. Kurze Zeit später wurde er als „kleinbürgerlich“ abqualifiziert und geriet in Verruf. Der „Rote Morgen“ berichtete ausführlich über die „Lanz-Affäre“ und seinen Ausschluss aus der KPD/ML-ZK im Februar 1971. (16)

Lanz teilte, wie viele „Agenten“ in der KPD/ML, das Schicksal, in den ideologischen Irrungen dieser Zeit die „konterrevolutionäre Agententätigkeit“ offen ausgeübt zu haben. Dieser spontane Hass unterschied sich eigentlich gar nicht von jenem, den man etwa der DKP oder den Trotzkisten entgegenbrachte. Im Grunde war hier alles eins: Die Ideologie der Partei hatte einen eigenen Stilwillen entwickelt, der gegen alles anzustinken begann, was verdächtig aussah. Waren nicht alle somit irgendwo „Agenten“? Das Paradestück der KPD/ML war auch nicht nur Hugo Lanz. Es war gleich ein ganzes Arsenal von allen möglichen „Parteifeinden“ und „Liquidatoren“, die ihr Unwesen trieben und schon lange vor dem KABD „enttarnt“ worden waren. Mit dem außerordentlichen Parteitag der KPD/ML-ZK und der faktischen Auflösung der ZK-Fraktion, die außer einem „Exekutivkomitee“ und vielleicht 300 bis 400 Leuten und dem TKB/ML (Kiel) nichts mehr anzubieten hatte, verstummte der bizarre Ton der feindlichen Kolonnen in der KPD/ML nicht. Ganz im Gegenteil: Das Ende der Loyalität war nun gänzlich erreicht.

In der unmittelbaren Konkurrenz um die „korrekte Linie der KPD/ML“ zeichnete sich ab, dass das ZK nicht alleine blieb. Im Juni 1970 konstituierte sich nach langen Auseinandersetzungen in West-Berlin unter der Führung von Klaus Sender ein weiteres Spaltprodukt, die KPD/ML-NE (Neue Einheit) oder KJVD (NE). Damit gab es neben dem ZK und dem ZB nun eine weitere Gruppe, die sich traditionsgemäß auf die Gründungsphase der KPD/ML berief. Nimmt man den Dickhut-Ableger und die obskure Heuzeroth-Gruppe mit dem Namen „KPD/ML-Kreisverband Siegen/Olpe“ (Organ: „Die Wahrheit“) und die „Sozialistische Deutsche Arbeiterpartei“, eine Abspaltung der KPD/ML-ZK in West-Berlin noch hinzu, dann stritten sich gleich sechs Gruppen um den Namen KPD/ML. Diese heillose Verwirrung konnte sicherlich niemand nachvollziehen. Dass die KPD/ML (Neue Einheit) „als ein Konzentrationspunkt aus der Spaltung und zugespitzten Auseinandersetzung der Jahre 1969-1972 hervorgegangen“ ist (17), mag zwar stimmen, aber zeigt im Grunde nur, dass in Zeiten von allgemeinen Auflösungen und Neuorientierungen niemand den Standesdünkel aufgeben wollte und die Wege der Parteiaufbau-Organisationen einfach als Grundausstattung das Gerüst der KPD/ML übernahmen. (18)

Die ZK-Fraktion konnte sich in ihrer politischen Linie nicht sonderlich hervortun. Ihre ubiquitäre Gewaltrhetorik ließ ein wenig nach. Dagegen setzte sie seichte Ergüsse und schwülstige Wendungen, die in einer Reihe von Flugblättern, die vor den Betrieben verteilt wurden, deutlich hervortraten. Ein solches FB verteilte ihre OG-Frankfurt/M. u. a. im Juni 1970 vor „Adler“. Nach einer einleitender Moralpredigt über die Auswüchse des Kapitalismus meinte die OG: „Die Bosse beuten die Jugendlichen und Frauen besonders aus. Sie lassen die Frauen für weniger Geld dasselbe schaffen wie Männer. Sie stellen Jugendliche als Hilfsarbeiter für einen Hungerlohn ein. Sie zwingen uns in allen Abteilungen ein mörderisches Tempo auf. Hauptsache, es kommen Maschinen raus … Wir spüren die Folgen am eigenen Leib: unsere Nerven gehen immer mehr kaputt. Im Betrieb schreien wir uns an. Die Familie hat nichts mehr von uns. Wir werden 'managerkrank': Herzbeschwerden, Magenentzündungen, Hautausschlag ...

Wir brauchen eine Arbeiterpartei ohne bezahlte Funktionäre. Sie muss die Schandtaten der Kapitalisten und all ihrer Handlanger schonungslos aufdecken. Sie muss die klassenbewussten Arbeiter organisiere und die schwankenden Kollegen beeinflussen und stärken. Sie muss Schlag auf Schlag den Kampf gegen die gesamte Kapitalistenklasse aufnehmen.

Das kann nur die kommunistische Partei. Das kann nur die KPD/ML …“ (19)

Friedlich vereint unter Hammer, Sichel und Gewehr der KPD/ML ging es nun darum, endlich die „Roten Betriebsgruppen“ aufzubauen, „Schlag auf Schlag“, um die „kampferstählten Massen“ konzentriert und geschlossen in die KPD/ML überzuführen.

Dennoch dürften die Öffnung der Organisation und der Blick auf die politischen Tagesereignisse ein zweischneidiges Schwert gewesen sein. Der Kampf gegen „Teuerung und Lohnraub“, der von der ZBGK nun angefacht worden war, hieß nicht automatisch, dass die üblichen fraktionellen Querelen zur Seite geschoben wurden. Im Juni 1970 berichtete der KDAJ darüber, dass zwei AUSSler, die der ZK-Fraktion angehört hatten, nun zum KJVD gewechselt seien. (20) Und im gleichen Monat schloss sich ein Teil der ehemaligen KPD/ML-ZK Hamburg der KPD/ML-ZB an. (21)

In diesem diffusen Dunkel aus Illoyalitäten Politik zu betreiben, dürfte dem Kampfverband, KPD/ML, ein Gräuel gewesen sein. Seine Erfolgsgeschichte bestand darin, quasi aus dem Nichts heraus, eine Konzeption des neumodernen Berufsrevolutionärs entworfen zu haben, der in die Lage versetzt werden konnte, im entscheidenden Augenblick, ohne Rücksicht auf Mehrheiten oder demokratische Gepflogenheiten, die proletarische Masse zu beglücken. Wahrscheinlich deswegen konnte sie sich in ihrer Anfangsphase bei den Linken sogar ein wenig beliebt machen. Das änderte sich schlagartig dort, wo man begann, (kritisch) zu hinterfragen und nicht alles zu schlucken, was die KPD/ML einem vorsetzte.

Somit dürfte ihre Revolution auch eine von oben gewesen sein, die zweifelsfrei alle Traditionsreste beheimatete, die es gab. Das Ganze sollte sich um das „Große Zentrum“ scharen, dem ZK. Das ZK als „interne Avantgarde“ bezeichnen zu wollen, wäre nicht falsch; denn durch die verbindlichen Direktiven, die es vorlegte, versuchte die Leitgruppe, die revolutionäre Theorie und Praxis der vielleicht letzten 50 Jahre auf den Prüfstand zu hieven und sie zu modernisieren. Natürlich gelang ihr das nicht. Dazu fehlten alle Voraussetzungen. Aber im Gegensatz zum ZB war das ZK sicherlich doktrinärer und seine allgemeinen politischen Kampagnenthemen erwiesen sich, trotz aller Fehler und enormer Lücken, als Erfolg versprechender. Immerhin gab es in der ZK-Fraktion einen deutlich höheren Arbeiteranteil als beim Intellektuellen-Zirkel ZB.

In den großen Revierstädten z. B. buhlte man um deren Mitgliedschaft. Dass sie sich vor den „Zielbetrieben“ (etwa: Opel Bochum, Hoesch Dortmund, Krupp Bochum) teilweise heftig bekriegten, mag auch daran gelegen haben, dass keine Gruppe einen Arbeiter der anderen gönnte. Die Betriebszeitungen sprechen auch eine deutliche Sprache. Ob nun „Die Presse“ (KPD/ML-ZB für Opel), „Die Zündkerze“ (KPD/ML-ZK für Opel), „Die Walze“ (KPD/ML-ZB für Krupp-Bochum), die „Rote Westfalenwalze“ (KPD/ML-ZB für Hoesch) oder die „Rotfront“ (KPD/ML-ZK für Hoesch) zur Grundlage genommen wird, es ging immer um die Schilderung der „korrekten Linie“ der KPD/ML und die Verächtlichmachung der anderen Gruppe. Auch so ist zu erklären, dass es tatsächlich nur zu wenigen Aktionseinheiten der beiden KPD/ML-Gruppen überhaupt kam. Die 1. Mai-Verhandlungen von 1970 bis 1972 waren primär davon getragen, die Differenzen breit vorzutragen, um am Ende der Debatte zu erklären, dass die „politischen Differenzen“ unüberbrückbar waren.

Mit jenen „Differenzen“ hatten auch das Uni-Kollektiv des KJVD in Bochum und der SDS/ML (Gründung: 2. Juni 1970) zu kämpfen. Beide Gruppen, die sich den Intellektuellen an der RUB als Alternative zu den Trotzkisten, den SAG und dem MSB-Spartakus darstellten, ließen in ihrem Streit erkennen, dass es stets die andere war, an der die Arbeiterbewegung vorbeiging und sie sich nur im Glanz des „Intellektualismus“ suhlte. Das Uni-Koll konnte im Frühsommer 1970 kaum Erfolge aufweisen. Der SDS/ML dagegen, der in Uni-Parlamenten vertreten war und über die „BSZ“ politische Artikel platzieren konnte, können Mobilisierungsfähigkeiten zugesprochen werden. Es war im Gegensatz zum Uni-Koll an der RUB stets ein politischer Faktor.

Eine Kontroverse löste am 4. Juni 1970 ein Artikel in der „BSZ“ (22), der vom SDS/ML stammte, aus. Dort hieß es u. a. in „Stärken wir die 2.-Juni-Bewegung“: „Die ML-Gruppierungen, von denen sich bald die Fortgeschrittensten der KPD/ML anschlossen, verdeutlichen eine konsequente Linksentwicklung der 2.-Juni-Bewegung, deren bestimmende Hauptelemente der antiimperialistische, antibürokratische und antirevisionistische Kampf sind. ... Wie kann der SDS/ML die 2.-Juni-Bewegung weiter festigen? ... Die 2.-Juni-Bewegung ist nicht tot, sie klärt nur ihre Ziele und reorganisiert sich. Mit jedem neuen Semester kommen neue Kommilitonen an die Universität, die darauf brennen, den antibürokratischen und antirevisionistischen Kampf weiter zu führen. Der SDS/ML wird ihnen die revolutionäre Perspektive zeigen und gemeinsam mit ihnen kämpfen. Das kann nur bedeuten, dass wir uns wirklich mit dem Proletariat verbinden und in seinen Dienst stellen. ... Wir werden uns verpflichten, in dialektischer Verbindung mit der Praxis der roten Stadtteil- und Betriebsgruppen bei der Kommissionsarbeit der KPD/ML zur Klassenanalyse zu helfen. ... Die drei Jahre nach dem 2. Juni 1967 haben uns an Erfahrungen reicher gemacht. Wir wissen, dass uns bürgerliche Scharlatane wie Marcuse, Horkheimer und Adorno lange Zeit Sand in die Augen gestreut haben. Wir wissen nun, dass Randgruppenstrategien ... und die These 'Die Arbeiterklasse ist subjektiv nicht revolutionär, also ist sie es auch nicht objektiv', gröbster bürgerlicher Humbug sind …“ (23)

Die „2.-Juni-Bewegung“, deren Name an Benno Ohnesorg erinnern sollte, der am 2. Juni 1967 während einer Demonstration in West-Berlin von einem Polizisten erschossen worden war, könnte als kommende Miniaturausgabe der RAF bezeichnet werden. Nach dem Tod von Georg von Rauch, der am 4. Dezember 1971 während eines Schusswechsels mit der Polizei tödlich verletzt worden war, fanden sich vermutlich Ende 1971/Anfang 1972 einige autonome und linke Gruppen zusammen, um über den weiteren Weg ihres „Kampfes gegen den Imperialismus“ zu beraten. Ende Januar 1972 riefen sie die Gruppe „Bewegung 2. Juni“ ins Leben. (24) Die Gruppe, die sich als (proletarische) Stadtguerilla verstand, war von ihrem Selbstverständnis her, eine Metropolengruppe, die den bewaffneten Kampf im Sinne von Fanon, Debray, Guevara und anderen auf die Tagesordnung setzte. Aufmerksamkeit erreichte sie durch Sprengstoffattentate, Entführungen (u. a. am 27. Februar 1975 Peter Lorenz, Spitzenkandidat der CDU für West-Berlin), Banküberfälle und Befreiungsaktionen (25). Ihr Einfluss auf das linksradikale Spektrum war nicht zu unterschätzen, zumal seit Ende der Studentenbewegung und der APO auch über die Frage des „bewaffneten Kampfes“ debattiert worden war.

Das Spektrum selbst war von 1970 bis 1971 (zumindest in der Anfangsphase) äußerst diffus. Viele der untereinander konkurrierenden Gruppen hatten einen eigenen Habitus, Sprache, Stil, Taktik usw. Zumindest gehörte auch die erste Generation der RAF dazu, die die direkte Aktion favorisierten. Alle Gruppen speisten sich aus einer Vielzahl von Paradigmenwechseln, die in sich viele Kurskorrekturen enthielten. In gewisser Weise spiegelte das auch die Strukturen des Milieus wider. Dazu gehörten sicherlich auch die „Tupamaros Westberlin“, „Schwarze Ratten“, „Militante Panther-Tanten“, die „Frauenbefreiungs-Front“, später die „Revolutionären Zellen“, terroristische Ad-hoc Gruppen, Kommandos etc. Publiziert werden konnten die Ideen der Gruppen u. a. in den Zeitschriften wie „Linkeck“ und der wohl bekannteren „Agit 883“.

Die „konsequente Linksentwicklung“ der „2.-Juni-Bewegung“, wie der SDS/ML formulierte, war eine, die konsequent auf den bewaffneten Kampf zusteuerte. Sie war ein Sammlungs- und Bezugspunkt mit Führungsanspruch, scharf autoritär und zentralistisch, vielleicht sogar eine marxistisch-leninistische Kaderorganisation, die einen Gegenpart zu den bestehenden Parteien, etwa der KPD/ML, bilden wollte. Von ihr annehmen zu wollen, dass sie im Sommer 1970 noch in der Kontinuität der Studentenbewegung stand, war mehr oder minder angestrengter Optimismus. Dort, wo sie sich auf die Studentenbewegung berief, dann nur wegen ihrer militanten Aktionen wie etwa der „Schlacht am Tegeler Weg“ (4. November 1968), Brandstiftung, Gegengewalt (Gewalt gegen Sachen). Als politische Taten, die teilweise verklärt worden waren, waren sie ein Stück Verwirklichung des Aufstands gegen den Staat.

Insofern verwunderte es doch sehr, dass der SDS/ML annahm, dass „deren bestimmende Hauptelemente der antiimperialistische, antibürokratische und antirevisionistische Kampf“ seien. Der Weg zur Stadtguerilla war vorbereitet. Die Pseudologik des Artikels kann nur damit erklärt werden, dass der 2. Juni 1967 noch stark im Gedächtnis der Studenten verhaftet war und der anfangs bestehende intellektuelle Schub der Gruppe sich womöglich fortsetzen sollte. Die „vorbereitende kulturrevolutionäre“ Bewertung der „2.-Juni-Bewegung“ durch den SDS/ML stieß auf die Kritik des Uni-Kolls des KJVD, der lapidar feststellte, dass es nun um „die Arbeit im Proletariat“ gehen würde. Der Ableger des Zentralbüros, der sich zwar vehement gegen diese Vereinnahmung wehrte, hatte aber nun selbst keine weitergehenden Positionen anzugeben, sondern beharrte auf den einfältigen Erinnerungen an den Klassenkampf und darauf, dass die Studenten nur „Bündnispartner“ sein könnten.

Roter Morgen, 7/1970
Bild vergrößern Roter Morgen, 7/1970, S. 4 oben

Im August 1970 flankierte das ZK im „Roten Morgen“ Nr. 7/1970 die Positionen des ehemaligen SDS/ML, der nun KSB/ML hieß. Im Artikel „Die 2.-Juni Bewegung“ führte es aus: „Es steht außer Zweifel, dass die große Protestbewegung der Studenten und Schüler, die sich seit Ende 1964 (Tschombe-Besuch) in West-Berlin vorbereitet und entwickelt hatte und die nach dem 2. Juni 1967 (Mord an Benno Ohnesorg) mit Macht die ganze Bundesrepublik ergriff, einen entscheidenden qualitativen Sprung in der politischen Entwicklung der BRD darstellt. Wortführer der Bewegung, wie Rudi Dutschke und Bernd Rabehl, bezeichneten die 2.-Juni-Bewegung als 'kulturrevolutionär'. Darin zeigt sich der Einfluss der großen proletarischen Kulturrevolution in China. Dieses weltbewegende Ereignis wurde von der eben erwachenden Studentenbewegung in allen Teilen der Welt begeistert aufgenommen. Wenn die Studenten in der Regel die Große Proletarische Kulturrevolution auch nicht richtig verstanden, so unterstützen sie doch die Verbreitung der Maotsetungideen. Die 2.-Juni-Bewegung ist mit der Großen Proletarischen Kulturrevolution in China nicht vergleichbar …

Die 2.-Juni-Bewegung in Deutschland war offensichtlich eine Bewegung, die versuchte, im Überbau Machtpositionen zu erringen, indem sie die Universitäts- und Schulbürokratie sowie die bürgerliche Presse bekämpfte. Sie versuchte, wie es hieß, die Manipulation des bürgerlichen Informationswesens zu durchbrechen und eine Gegen-Öffentliche-Meinung zu bilden. All das sind typische Kennzeichen einer kulturrevolutionären Bewegung. Die 2.-Juni-Bewegung ist also eine vorbereitend kulturrevolutionäre Bewegung gewesen, ähnlich wie die Bewegung des 4. Mai 1919 in China …

Die nächste Frage ist die nach der objektiv-historischen Bedeutung der 2.-Juni-Bewegung. Dabei muss zunächst festgestellt werden, dass natürlich auch keine direkte Parallele mit der chinesischen … Bewegung gezogen werden darf.

Betrachten wir das Verhältnis zur Arbeiterbewegung, und das ist die wichtigste Frage einer jeden revolutionären Bewegung, so können wir 3 Etappen der 2.-Juni-Bewegung unterscheiden:

  1. Die Etappe der rein studentischen Protestbewegung, sie dauerte etwa bis zum Attentat auf Rudi Dutschke.
  2. Die Etappe, in der die 2.-Juni-Bewegung das Bündnis mit der Arbeiterbewegung gegen Notstandsgesetze und Bild suchte.
  3. Die Etappe der Auflösung der 2.-Juni-Bewegung und die Verschmelzung des fortschrittlichsten Teils mit dem fortschrittlichsten Teil der Arbeiterbewegung in der KPD/ML.

Die Zwiespältigkeit der ersten Phase zeigt sich darin, dass der tendenziell sozialistische Kern eben nur tendenziell sozialistisch war. Die Bewegung besaß die marxistisch-leninistische Theorie nicht. Die Theorie der SDS-Führer war verworren, aus jedem Topf nahmen sie sich nach Belieben eine Zutat und entwickelten einen Brei statt einer klaren Theorie: Man nehme viel Marx, etwas Lenin und Mao, vor allem aber auch eine Menge kleinbürgerlicher Schreibtischstrategen: Marcuse, Mandel, Habermas, Abendroth, Horkheimer usw. …

In dieser Verwirrung blühte das Bündnis revolutionärer Kleinbürger mit liberalen und reformistischen Kleinbürgern. An der Universität hatten sie tatsächlich auch vorübergehend den gleichen Feind. Die radikal-liberalen und radikal-reformistischen Bündnispartner führten den gemeinsamen antibürokratischen Kampf hauptsächlich gegen die feudalen Überreste und mit dem verschwommenen Ziel, die bürgerliche Staatsbürokratie zu verbessern. Eine solche Verbesserung ihrer Bürokratie kommt der Bourgeoisie natürlich nur gelegen. Das Ziel der tendenziell sozialistischen Linken war es dagegen, den antibürokratischen Kampf eng mit dem antiimperialistischen zu verbinden. Die Linke entfaltete ihre antiimperialistische Propaganda vor allem in der Universität, ihre antiimperialistischen Demonstrationen organisierte sie in der Universität …

Im Anti-Notstandskampf (der zweiten Phase, d. Vf.) sah die Linke die Möglichkeit, Teile der Arbeiterklasse in das Bündnis einzubeziehen. Statt einer revolutionären Einheitsfront entstand jedoch eine Pseudo-Einheitsfront ohne Prinzipien, ohne Perspektiven und ohne Konzept. Man verband sich wahllos mit Revisionisten, Gewerkschaftsbürokraten und sogar FDP-Abgeordneten. Die Quittung für diesen Opportunismus erhielt man beim Sternmarsch auf Bonn, der zu einem ohnmächtigen Spaziergang wurde …

Die dritte Phase musste daher notwendigerweise die Theorie in den Vordergrund rücken; nun schieden sich zunächst diejenigen Studenten, die die Notwendigkeit der Führung der Bewegung durch das Proletariat erkannten, von den übrigen. Innerhalb der am weitesten linken Gruppe wiederum bildeten sich ein marxistisch-leninistischer, ein guevarischer und ein trotzkistischer Flügel heraus. Parallel damit ging in der Praxis das Entstehen von Basisgruppen in denen meistens eine Mehrzahl von Studenten mit einer Minderzahl von Arbeitern zusammenarbeitete. Als Kennzeichen dieser Phase ist jedoch die Unfähigkeit zu sehen, die Ansätze von Betriebspraxis mit den Ansätzen von Theorie wirklich zu verbinden. Der Grund dafür ist der, dass die linken Studenten ihre eigene Rolle und die historische Bedeutung der 2.-Juni-Bewegung nicht begriffen. Es wurde bald, besonders bei Studenten, die sich als marxistisch-leninistisch bezeichneten, geradezu Mode, die sog. antiautoritäre Phase einfach in Bausch und Bogen abzulehnen …

Vier Ereignisse änderten zu dieser Zeit gründlich die Situation in der BRD:

1. Die Große Proletarische Kulturrevolution löste die Probleme des Klassenkampfes unter der Diktatur des Proletariats. ...

2. Auch in der BRD nahm der Klassenkampf durch die 2.-Juni-Bewegung einen neuen Aufschwung. Die deutsche Jugend antwortete dem Appell der Pekinger Roten Garden. Der Sturm auf die Bürokratie des bürgerlichen Staates versetzte die ganze Gesellschaft in einen Zustand allgemeiner Kritik an der Bourgeoisie und ihrem System. Der Marxismus, der Leninismus und die Maotsetungideen fanden in großen Teilen der Jugend offene Ohren.

3. Die Gründung der DKP zeigte die Aussöhnung zwischen westdeutscher Bourgeoisie und deutschem Revisionismus an. Diese Gründung war eine Schutzmaßnahme der Bourgeoisie gegen die 2.-Juni-Bewegung …

4. Die Rezession von 1966/67 hatte endgültig gezeigt, dass der westdeutsche Imperialismus wieder in die normale zyklische Entwicklung übergegangen war. Gleichzeitig spitzten sich die Widersprüche des imperialistischen Systems durch die amerikanische galoppierende Inflation infolge des Vietnamkrieges in großem Maße zu …

Diese vier Ereignisse machten die Gründung einer revolutionären marxistisch-leninistischen Partei als Avantgarde-Organisation des westdeutschen Proletariats möglich. Sie wurde nach im Ganzen mehrjähriger Vorbereitung durch ideologische Auseinandersetzung zur Jahreswende 1968/69 in Hamburg vorgenommen. Das entscheidende Merkmal der KPD/ML bei ihrer Gründung war die Tatsache, dass sich in ihr Marxisten-Leninisten, die einen jahrelangen antirevisionistischen Kampf in der KPD geführt hatten, mit dem fortschrittlichsten Teil der 2.-Juni-Bewegung, der sich bereits damals zum Marxismus-Leninismus entwickelt hatte, verband …

Die 2.-Juni-Bewegung unter Führung des SDS war eine revolutionäre Bewegung, sie kämpfte gegen die bürgerliche Wissenschaft, die Unterdrückung an der Universität und gegen den US-Imperialismus und seine Verbündeten und Handlanger. Diese Bewegung verfügte aber nicht über den dialektischen Materialismus. Deshalb konnte sie nur vorübergehend erfolgreich sein … Die Studenten des KSB/ML werden diese Kämpfe unter Führung der KPD/ML weitertreiben … Vordringlich ist der Kampf an der ideologischen Front, die Aufklärung der Bevölkerung über die Verbrechen des US-Imperialismus, des Sozialimperialismus, des westdeutschen Imperialismus und aller ihrer Handlanger … Das Ziel ist, das mehr und mehr schwindende Vertrauen der Bevölkerung zur Bourgeoisie, ihrem Staat und ihren Verbündeten völlig zu zersetzen. Damit legt der KSB/ML das Fundament für zahlreiche weitere Massenorganisationen der KPD/ML in den verschiedenen kleinbürgerlichen und halbproletarischen Schichten. Damit entwickelt sich der antiimperialistische Kampf in die Breite und in die Tiefe. Die Studenten des KSB/ML erkennen, dass es richtig ist, sich auf die Seite des Proletariats zu stellen und die Bourgeoisie zu bekämpfen.“ (26)

An diesem Artikel fiel auf, dass er auf die Reorganisierung der „revolutionären 2.-Juni-Bewegung“ insistierte und deren Weiterführung unter anderen Vorzeichen (Verbindung der KPD/ML mit dem „fortschrittlichsten Teil der 2.-Juni-Bewegung“) für möglich hielt. Die Weiterführung dieser Bewegung müsse in ein Bündnis „mit dem revolutionären Kampf der Arbeiterklasse unter Führung der Arbeiterklasse“ einmünden. Aus diesem Grunde, so erfährt man aus dem Artikel, sei die Umbenennung in KSB/ML erfolgt. Dass die „2.-Juni-Bewegung“, wie Gerd Koenen richtig schrieb, als „bewaffnete ML-Gruppe“ (27), die sich damit auch von der RAF abhob oder zunächst distanzierte, gelten könne, ist m. E. zwar keine ausreichende Antwort, charakterisiert aber den Stellenwert dieser Gruppe im Spektrum. Es ist nicht bekannt, dass die KPD/ML-ZK sich später von der „2.-Juni-Bewegung“ eindeutig distanzierte oder ihr Verhältnis zu ihr abschwächte, gar kritisch beleuchtete. Es schien eher so, als ob für sie das Zerfallsprodukt „2.-Juni-Bewegung“ und deren Aufgehen in die RAF gar nicht wahrnahm.

Der Artikel im „Roten Morgen“ war aber durch einen anderen Aspekt sehr interessant. Vermied das ZK es doch, die „Bewegung 2. Juni“ als „kleinbürgerliche Bewegung“ darzustellen. Sie war eine „revolutionäre Bewegung“, die mit der Umbenennung der Studentenorganisation(en) in KSB/ML einen anderen Charakter annahm. Hatte der einstige SDS/ML noch an der „Linksentwicklung der 2.-Juni-Bewegung“ (28) festgehalten, so änderte sich das Blatt deutlich mit der Befreiung Baaders (14. Mai 1970). Sie, die RAF, Baader und „andere Anarchisten“ würden „einfach (die) revolutionäre Kraft der Massen in Wirklichkeit verachten“, hieß es. (29) Nun war auch für den „Roten Morgen“ die Schonfrist wohl vorbei. In der gleichen Ausgabe wurden die Widersprüche eklatant sichtbar. Die Befreiung von Andreas Baader war nun eine „kleinbürgerliche Aktion“ und die Fortführung der „antiautoritären Studentenbewegung“ (30).

Die RAF und die Haltung der KPD/ML-ZK zu ihr ist ein eigenes Kapitel. Es macht viel Sinn, sich damit zu beschäftigen. Offenbar gibt es, neben der immer wieder angeführten Kritik, viele Übereinstimmungen („Bomben gegen den Imperialismus“) die später in die Tendenz einmündete, die RAF als zum „Volke gehörend“ (31) zu bezeichnen. Eine tatsächliche Trennung von der „2.-Juni-Bewegung“ und ihrer gewalttätigen Phase dürfte es vermutlich gar nicht gegeben haben. Später, im „Deutschen Herbst“ (September/Oktober 1977), sollte der „Rote Morgen“ an der „Solidarität mit den Gefangenen“ festhalten und die Verfolgung der RAF als Vorstufe der „Verbotsdrohungen gegen die Marxisten-Leninisten“ begreifen. Die „Faschisierung des Staates“ würde nun „unvermindert vorangetrieben“.

Zwar waren diese Töne seit dem RAKT 1972 sattsam bekannt, doch sie sollten sich noch einmal verschärfen. Die „Bewegung 2. Juni“ und die RAF hatten ja mit Mao die Fragen nach der „revolutionären Gewalt“ aufgeworfen, die sowohl in den Artikeln des SDS/ML und des KSB/ML in der „BSZ“, aber auch im „Roten Morgen“, trotz ihrer „konterrevolutionären Taten“, letztlich zu Gunsten des Terrorismus beantwortet worden waren. Ob diese „revolutionäre Bewegung“ den Stand der Klassenkämpfe in der damaligen BRD widerspiegelte? Fast könnte dies angenommen werden. Allerdings sprach die „kleinbürgerlichen Herkunft“ dieser Gruppen dagegen. Doch letztlich dürften die ideologischen Grundlagen (Berufung auf Mao, Lenin und des Marxismus-Leninismus zur Gewalt im Allgemeinen) entscheidend gewesen sein. Die Krise der Studentenbewegung hatte das ZK weder theoretisch noch praktisch beilegen können oder gänzlich beendet. Das belegen die Artikel relativ deutlich. Die Hinwendung zum Proletariat und zur „revolutionären Betriebsarbeit“ war nur ein Schlussbild in diesem großen Reigen aus wirren Theorien.

Das Verbot des SDS Heidelberg am 24. Juni 1970 vermittelte den Eindruck, als sei die KPD/ML selbst davon betroffen. Unter der Generalüberschrift „Der Kommunismus lässt sich nicht verbieten“ meinte die OG München der KPD/ML-ZK und der „Roten Garde“ am 25. Juni 1970: „Der SDS Heidelberg ist verboten worden. Warum? Was hat er gemacht? Er hat zusammen mit Arbeitern und Angestellten den Kampf gegen die kapitalistische Unterdrückung und Ausbeutung aufgenommen:

Durch sein entschlossenes Eintreten für die Interessen der Arbeiter und Angestellten gewann der SDS Heidelberg weit über die Universität hinaus immer mehr die Sympathien und die Unterstützung der werktätigen Bevölkerung. Nichts aber haben die Konzernbosse und Großbankiers mehr zu fürchten als eine Bewegung, in der die Massen der Arbeiter und Angestellten beginnen, unter der Führung einer revolutionären Organisation für ihre Interessen zu kämpfen. In dieser Situation zeigte es sich wieder einmal, dass unser 'demokratischer' Staat nichts anderes ist als das Werkzeug der Kapitalistenklasse zur Unterdrückung der Werktätigen: der SDS Heidelberg wurde von der baden-württembergischen Regierung verboten. Was können wir dagegen tun?

Sollen wir einen Brief an Willy Brandt schreiben, wie es die D'K'P in solchen Fällen macht, um von ihm die Wiederzulassung des SDS Heidelberg zu fordern? Das wird wenig Sinn haben. Das Verbot des SDS ist eine Maßnahme, die den Kampf der Arbeiter gegen das Kapital erschweren soll. Wenn man vom Staat eine Aufhebung des Verbots erbittet, dann glaubt man, das Werkzeug könne etwas anders tun als seinem Meister folgen: Der kapitalistische Staat aber ist ein Staat der Kapitalisten!

Unsere Konsequenzen:

DIE KOMMUNISTISCHE BEWEGUNG LÄSST SICH NICHT VERBIETEN!" (32)

Noch deutlicher war der SDS/ML Bochum, der am 26. Juni zusammen mit der KPD/ML-ZK ein Flugblatt anlässlich des Verbots verteilte und zur „Solidarität mit den Heidelberger Genossen“ aufrief. In der „Solidaritätsadresse“ wurde es als „ein weiteres Zeichen der fortschreitenden Faschisierung in der BRD und allen monopolkapitalistischen Staaten in der ganzen Welt …“ bezeichnet.

„Die marxistisch-leninistischen Studenten müssen sich nun endlich auf nationaler Ebene organisieren. Nieder mit dem westdeutschen Kapitalismus! Nieder mit dem faschistischen Terror! Nieder mit der Diktatur der Bourgeoisie! Es lebe die Diktatur des Proletariats! Hoch der Marxismus-Leninismus und die Mao Tsetungideen.“ (33)

Der SDS Heidelberg, der hier als Vorreiter für den „Kampf gegen die kapitalistische Unterdrückung und Ausbeutung“ auftrat, wird zum Halbproletarier, der organisierte und kämpfte, Betriebsgruppen organisierte und Zeitungen herausgab, gemacht. Der intellektuelle Resonanzboden der Heidelberger Studentenvertretung entsprach wohl eher dem Bemühen, sich mit einer abstrakten Parteinahme für den Marxismus und Kommunismus genügend Spielraum zu schaffen, um Kader zu rekrutieren. Vermutlich dürfte er sich gar nicht sonderlich im Hinblick auf „Kampagnen in den Arbeitervierteln“ und der Organisierung von „Arbeitern und Angestellten in Betriebsgruppen“ hervorgetan haben. Und dass die „Roten Kommentare“ ohne Kritik als „Betriebszeitung“ durchgingen, war wundersam genug.

Die Rekonstruierung der Arbeiterbewegung oder der marxistisch-leninistischen Theorie aus dem studentischen Ambiente heraus, hinterließ im Flugblatt der OG München viel Raum zur Deutung. Halbwegs hatte der SDS Heidelberg ja in seiner Zeit einen „proletarischen Klassenkampf“ und Debatten über die „richtige Linie“ geführt, so könnte aus dem Flugblatt gefolgert werden. Mit Joscha Schmierer (später 1. Sekretär des KBW) hatte er einen der Sprecher in seinen Reihen, der aus der „revolutionären Aktion“ später mit aufschneiderischer Selbstsicherheit seinen „Kommunistischen Bund Westdeutschland“ aus dem Boden stampfte und der, wie die meisten K-Grüppler, immens daran interessiert war, sich irgendwie in der Welt zu verankern. Dass der Gruppe von der KPD/ML eine solche Aufmerksamkeit geschenkt worden war, lag nicht in ihrer fehlerhaften Politik begründet, sondern in einer Reihe von eklatanten theoretischen Schwächen und Fehlern, die solche Deutungen erst möglich machten.

Nicht anders zu gewichten war die „Solidaritätsadresse“ des SDS/ML Bochum, der das Verbot als „ein weiteres Zeichen der fortschreitenden Faschisierung in der BRD und allen monopolkapitalistischen Staaten in der ganzen Welt“ bezeichnet hatte. Das muss genauer gelesen werden. Die „fortschreitende Faschisierung“ wurde von den K-Gruppen dazu benutzt, eine eigene Theorie über den Charakter des westdeutschen Staates zu erarbeiten. Neben den vielen verschütteten Ansätzen und Traditionen der alten Arbeiterbewegung war die „Faschisierung“ immer eine tragikumwitterte politische Position, die von den historischen Gestalten lebte, die sie einst in der Komintern erfunden hatten.

Die „Faschisierung“ war nie ohne das Adjektiv „fortschreitend“ zu haben. Es bezeichnete nämlich einen Weg hin zu einem zeitlich gesetzten Abschluss, der deduktiv geschlossen auf einen gesellschaftlichen Zustand verwies, in dem der Faschismus herrschen würde. Der eigentümliche Standort-Marxismus „Faschisierung“, der die BRD wie kaum etwas anderes durchzog, war wie die „Imperialismus-Theorie“ nur Phrase, die jedoch für die K-Gruppen eine Reihe von praktischen Notwendigkeiten oder Konsequenzen hervorbrachte (z. B. in der Organisationsfrage), die im Stile der „Kritischen Theorie“, vermengt mit polemischem Schwung, unterfüttert war und kühn anzeigte, dass die Theorie grau wie die Maus ist, wenn sie denn nicht über eine reine Spekulationslust hinausgeht.

Über die „BRD hinaus“ beträfe sie „alle monopolkapitalistischen Staaten in der ganzen Welt“, fabulierte der SDS/ML. Das konnte als passende Form zum Flugblatt der OG München bezeichnet werden, die sich später sogar in die Formel flüchtete: „Auch kein SDS-Verbot macht den Kommunismus tot!“ Der „faschistische Gegenschlag“, der in der KPD/ML immer erwartet worden war und der sich zahlreich in den Organen der Gruppe belegen lässt, war selbst hier durch die Formel „Nieder mit dem faschistischen Terror“ präsent. Der „faschistische Terror“ und die „Diktatur der Bourgeoisie“ lassen in der Wortwahl vermuten, dass beides, also Faschismus und Diktatur, schon (bittere) Realität seien. Hinzu kam auch die Rhetorik über den „Sozialfaschismus“ der SPD, der nun den „Herrschenden die Vorarbeiten“ leisten würde, die Massen spaltete und lähmte, „sozialistisch in den Worten, faschistisch in der Tat“ sei („sozialfaschistische Unterdrückungsmaßnahmen“), wie es das Zentralbüro vereinfacht interpretierte.

Der „vorbereitende Schlag gegen die revolutionäre Organisation des Proletariats“, wie das Unikollektiv des KJVD an der RUB am 29. Juni 1970 in einem Flugblatt formulierte, war sicherlich nicht an die Adresse des SDS Heidelberg gerichtet, sondern eher an die eigene. Das ZB war seit seiner Existenz in einer Art Verbotshysterie verstrickt. Und so dürfte „diese Terroraktion“ als ein Schritt auf dem Weg zum (späteren) Verbot der KPD/ML zu werten gewesen sein. Meinte doch das Flugblatt: „ … wo sich in der Bundesrepublik die revolutionäre marxistisch-leninistische Partei herauszubilden beginnt, ist es für die Bourgeoisie überaus notwendig, sich auf den Schlag gegen die kommunistischen Organisationen vorzubereiten …“

Das war mit den ZK-Auffassungen natürlich kompatibel. Nur war diese Eschatologie jeweils unterschiedlich interpretiert worden. Das ZK warf erst jenseits 1973 die Frage nach einem möglichen Verbot ernsthaft auf. Und dort, wo Konspiration angesagt war, definierte sie die zunächst in strikter Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen. Nur die „Sektion DDR der KPD/ML“, deren Gründung wohl auf den 7. Februar 1976 zurückging, dürfte auf total verdecktes und geheimdienstlerisches Gehabe zurückzuführen gewesen sein, die sich, bis sie vom MfS Anfang der 1980er Jahre zerschlagen worden war, in der totalen Abschottung übte. (34)

Der Affront gegen die „2.-Juni-Bewegung“ bzw. der „illusionär (gewordenen) kleinbürgerlichen Studentenbewegung“, die nun „in sich zusammenfällt“, bedeutete, dass das Thema „Klassenkampf des Proletariats“ nun auch an der Uni auf die Tagesordnung gesetzt worden war. Dass das Verbot des SDS Heidelberg „ … wie jeder Schlag gegen eine fortschrittliche Organisation - gegen die Arbeiterklasse gerichtet … ist, gehörte zu jenen Einschätzungen, die mehr als unrealistisch waren, doch zu den erstem Signalbegriffen eines Verbots der KPD/ML überhaupt gehörten. (35)

Es ging nicht um einfache eingemottete Begriffe, sondern um zentrale Thesen, die seit der Jugend- und Studentenbewegung in der KPD/ML herumgeisterten. In abgewandelter Form beinhalten die Begriffe oder Begriffspaare („Sozialdemokratie und Faschismus sind Zwillingsbrüder“- Sinowjew, Bucharin, Stalin, Thälmann) in zeitgemäßer Form eine tradierte Linie des bereits existierenden Faschismus auf deutschem Boden. Die bürgerlichen Parteien betrieben diese Fortsetzung. Das war möglicherweise das gesamte politische Geheimnis der K-Gruppen. Die gesamte Theorie und Praxis, Parteiaufbau, Organisation und Betriebsarbeit, schien sich unter diesen Prämissen fassen zu lassen.

Von einer solchen Orientierung waren vermutlich auch alle Bündnisgespräche, Aktionseinheiten, Zusammenschlüsse, Abwanderungen bzw. Spaltungen bestimmt. Anfang Juni 1970 wurden die ersten Besprechungen des LSEK der KPD/ML NRW und der Roten Garde bzw. KJVD mit Vertretern des KAB/ML durchgeführt. (36) Ziel der Gespräche war es u. a., die Frage der „politischen Linie“ zu klären, eine „Bestandsaufnahme“ durchzuführen und die „Möglichkeiten der Zusammenarbeit bzw. der Verschmelzung“ zu debattieren. Resultat sei, so der „Revolutionäre Weg“, eine „Einstimmung in der politischen Linie“ gewesen. (37) Offenbar reichte die allgemeine Hinwendung zu den Erbhütern des Marxismus aus, um innerhalb von einigen Wochen eine „politische Linie“ als rechtens zu erklären. Ohne Weiteres ging hier der blindwütige Prozess der nützlichen Fahnenstange einfach durch. Das betraf alle Beteiligten und alle Seiten, die an dieser Auseinandersetzung beteiligt waren. Dass kurze Zeit später der „Revolutionäre Weg“ 4/1970 schon in seiner Titelüberschrift „Der Kampf um die proletarische Linie“ seine Verächtlichmachung dieser Linie zum Ausdruck brachte, um dann mit seiner „proletarischen Linie“ einen Gegensatz zu proklamieren, war nicht nur verwirrend, sondern ein notdürftiges Zusammenklauben aller hierzu passenden Klassikerzitate. (38)

Mit der Konstituierung des Landesverbandes Wasserkante der KPD/ML-ZB (vermutlich am 27. Juni 1970), deren Mitglieder teils aus der KPD/ML-ZK, teils aus verschiedenen anderen Zirkeln gekommen waren, setzte das ZB der Aust-Partei dort heftig zu. Galt doch gerade Wasserkante u. a. als Vorzeigelandesverband des Vorsitzenden persönlich. (39) Auffallend war, dass am 28. Juni in Bochum eine außerordentliche Landesleitungssitzung (LL) der KPD/ML NRW stattfand, auf der u. a. „Thesen zum KAB/ML“ vorgelegt wurden, die den Delegierten als Beschlussfassung dienen sollten. Der wichtigste Beschluss der LL lautete: „Das nationale Büro soll sofort seine Arbeit aufnehmen.“ (40)

Damit hatte das Zentralbüro nun die Oberhoheit in NRW übernommen. Alles in allem bewegte es sich hier auf seine beste Zeit zu. Und als proletarische Einsteigerpartei zielte es darauf ab, eine breite Politisierung, Organisierung und Mobilisierung zu erreichen. Und es gelang ihm, Gruppen von innen aufzumischen und sie als Linkszirkel sogar zu prägen und über viele Verstrickungen, die nicht selten in Verfeindung endeten, zu fraktionieren. Bei diesen schwierig zu durchschauenden Prozessen wurde immer wieder deutlich, dass ihnen mitnichten sog. „Überzeugungsarbeit“ vorausging. Es sollte reine Abenteuerlust sein, mit denen sich die doktrinären Grüppler schmücken sollten. Über jede Bedenkenlosigkeit hinweg sollten sich diese negativen Erbschaften bis heute halten - und selbst nicht die Erinnerung liquidieren können.

Um langfristige Dominanz sichern zu können, machten sich gleich verschiedene KPD/ML-Gruppen daran, Sympathisanten zu rekrutieren. So in Bayern, in Schweinfurt und in Hessen in Walldorf/Mörfelden. Hier stritten sich der KAB/ML mit der KPD/ML-ZB/KJVD, das ZK mit der kommenden KPD/ML-RW, die Mellenthin/Strähle-Gruppe mit der RJ/ML. Zwischen dem 20. Juni und dem 25. Juni soll dort fraktioniert und integriert worden sein. Und über all dem lag das kränkelnde Misstrauen, das seinerzeit in einem mysteriösen Selbstmord einmündete. (41) All das zeigt, wie weit die Irritationen verbreitet waren und das Solidarität nur ein abgehalftertes Codewort war.

Die LL NRW der KPD/ML, die am 30. Juni ihren „Plan zur Vereinigung“ vorgelegt hatte, dem das LseK unter der Federführung von Dickhut als Vorsitzendem zustimmte, legte fest:

„I. Vorbereitung und Durchführung der Vereinigung der vier Organisationen KPD/ML mit KAB/ML und KJVD mit RJ/ML auf regionaler und nationaler Ebene.

  1. Schaffung eines vorbereitenden Zentral-Büros (Vorschlag Bochum, Bongardstraße).
  2. Vorläufiges zentrales Mitteilungsblatt (Übergang bis Schaffung des Zentralorgans).
  3. Durchführung gemeinsamer Landes-Delegierten-Konferenzen aller obigen Organisationen.

II. Vorbereitung für die zentralen Organe.

  1. Vorschläge für die Redaktionskollektive.
    1. des Zentralorgans der Partei.
    2. des Zentralorgans für die Jugendorganisation.
    3. des theoretischen Organs Revolutionärer Weg.
    4. der zentralen Studentenzeitung Roter Pfeil.
  2. Vorbereitung der Artikel für die erste Nummer des Zentralorgans der Partei.
  3. Vorbereitung des Textes für das Vereinigungskommunique.
  4. Technische Vorbereitung: Format, Druck und Versand.

III. Durchführung der Bundesdelegiertenkonferenz (Termin).

  1. Referat über die politische Lage in Westdeutschland und die Notwendigkeit der Vereinigung der Marxisten-Leninisten auf der Grundlage der proletarischen Linie.
  2. Diskussion und Schlusswort.
  3. Beschluss über die Vereinigung der KPD/ML mit KAB/ML. Parteibezeichnung (Vorschlag): KPD/ML oder VKPD/ML (V gleich Vereinigte...).
  4. Beschluss über die Vereinigung des KJVD und RJ/ML. Bezeichnung: (Vorschlag): KJVD.
  5. Beschluss über die Herausgabe eines einheitlichen Zentralorgans. Titel (Vorschlag): Rote Fahne.
  6. Beschluss über die Herausgabe eines einheitlichen Jugendorgans. Titel (Vorschlag): Der Kampf der Arbeiterjugend.
  7. Beschluss über die Herausgabe eines zentralen Studentenorgans. Titel (Vorschlag): Roter Pfeil.
  8. Beschluss über die Zuständigkeit des Zentral-Büros auf nationaler Ebene (Koordinierung der Aufgaben der Landesverbände auf Bundesebene - zentraler Schulungsplan, zentrale Agitation).
  9. Wahl des Redaktionskollektivs des Zentralorgans der Partei.
  10. Wahl des Redaktionskollektivs Revolutionärer Weg.
  11. Wahl des Redaktionskollektivs Roter Pfeil.
  12. Beschluss über das Vereinigungs-Kommunique.“ (42)

Niemand hatte an diesem „Plan“ wirkliches Interesse. Das ZB schon deswegen nicht, weil der KAB/ML, der kurze Zeit später als „rechte Truppe“ bezeichnet werden sollte, mit der es „keine Einheit“ geben könne, dem Machtstreben des ZB im Wege stand, die Dickhut-Gruppe nicht, weil dieser „Plan“ von den Erzfeinden Weinfurth und Genger stammte und sie die Gefahr sah, sich hier gar nicht mehr vertreten zu sehen, der KAB/ML nicht, weil er das ZB zu bürokratisch, zentralistisch und zu rücksichtslos fand. Nichtsdestotrotz ging das Gerangel um das ZB weiter. Vom KJ-Inform herausgegeben, erschien im Juli 1970 ein „Aufruf“ aus dem hervorging, dass die Leitung des KJVD bedingungslos hinter der Partei stehe, die die Aufgabe habe: „ … die Partei auf nationaler Ebene aufzubauen, die ideologische, politische und organisatorische Anleitung der KPD/ML zu gewährleisten …“ Und: „Auf nationaler Ebene führt es auch die ideologische und politische Anleitung des Jugendverbandes durch. Ein wichtiges Mittel zur Propagierung der politischen Linie der Partei aber ist das Zentralorgan. Die Unterstützung der Partei von Seiten des KJVD ist gerade in der Zeit des Aufbaus der KPD/ML besonders wichtig. In der gegenwärtigen Situation ist unsere vordringlichste Aufgabe der Vertrieb des neuen Zentralorgans der KPD/ML …“ (43)

Hatte das ZK in seinen Statements zum Jugendverband deren organisatorische Eigenständigkeit vage umschrieben und eine Erneuerung bzw. Modernisierung z. Zt. abgelehnt, ihn aber unter seine politische Anleitung gestellt, so war die Frontstellung des KJ-Inform gegen das ZK mit obigen Sätzen eigentlich aufgehoben. Es war eine grandiose Täuschung der Mitglieder, die mit dieser Botschaft wenig anfangen konnten; denn es ging nur um die „Rebellion“, die als reine Abgrenzung ohne Inhalte verstanden worden war.

Im „Aufruf“ wurde das KJ-Inform noch deutlicher: „Einer der entscheidenden Vorteile des KJVD gegenüber seinem Vorläufer, den Roten Garden, sollte doch sein: Endlich mit der lokalen Handwerkelei Schluss zu machen und eine starke und einheitliche Kampforganisation zu schaffen, dadurch, dass man sie von oben, von einem starken Zentrum aus aufbaut. Diese Vorhaben wurden erst sehr mangelhaft in die Tat umgesetzt; es wurden viele Fehler gemacht, gerade auch vom KJ-Inform aus. Doch die Ansätze sind da, wir haben die Möglichkeit, diese Fehler zu korrigieren.“ (44)

Dass der KJVD aus der „Handwerkelei“ herauskommen sollte, sollte nur eine Stimmung von vielen werden. Sein lokaler Gang in die Verirrungen war mit denen der „Roten Garde“ gleichzusetzen. Sich von ihr nur aus diesem Grunde abgegrenzt zu haben, musste wiederum die KJVD-Gründung in Frage stellen. „Sie von oben aufzubauen“, hatte einst auch der Rote-Garde-Bevollmächtigte des ZK gefordert. Der KJVD stand unter dem Klientel seines Zentrums, dem Inform und des ZB. Beide waren in Personalunion miteinander verknüpft. Eine Besonderheit gegenüber der Roten-Garde-Leitung und dem ZK der KPD/ML dürfte somit absolut nicht feststellbar gewesen sein.

Wie sich diese allseits kritisierte „Handwerkelei“ und der Populismus hoch schaukelten, sollte ein Flugblatt der OG Frankfurt der KPD/ML-ZK, das am 30. Juni vermutlich vor „Adler“ verteilt worden war, zeigen. Lapidar wurde darin festgestellt: „Nieder mit dem Lohnsystem … Kurz gesagt: Das ganze Lohnsystem ist von vorn bis hinten ungerecht! DAS KAPITALISTISCHE LOHNSYSTEM KANN NIEMALS GERECHT SEIN … Der Kampf der Arbeiterklasse gegen das kapitalistische Lohnsystem besteht seit Geburt des Kapitalismus und endet erst mit der Zerschlagung des Kapitalismus … NUR DIE KOMMUNISTISCHE PARTEI KANN DEN KAMPF DER ARBEITERKLASSE ERFOLGREICH FÜHREN! ... Heute ist der erste Schritt der Aufbau der neuen Partei der Arbeiterklasse, einer Partei ohne bezahlte Funktionäre, der KPD/ML … Das ist das Ziel der KPD/ML. KLASSENBEWUSSTE ARBEITER ORGANISIERT EUCH IN DER KPD/ML.“ (45)

Warf das ZK dem ZB „Ökonomismus in Lohnfragen“ vor, so konnte es hier locker mithalten und den Populismus auf die Spitze treiben. Die Unerschütterlichkeit, aus dem „Lohnkampf“ den Aufbau der KPD/ML abzuleiten, wurde immer verschwommener und gehörte zu den Albernheiten der Propaganda jener Tage. In Hunderten von Flugblättern und Betriebszeitungen wurde dieses Revolutionspanorama zur Standarderklärung und bedenkenlos als marxistisches Vokabular ausgegeben. Eine generelle Unterscheidung der Propaganda der K-Gruppen hatte hier keine Grundlage, und bei dem Versuch, eine eigenständige und legitime Position zu erarbeiten, fiel man immer wieder auf die flankierenden Theorien von KPD und Komintern zurück.

Einen Sieg konnte der SDS/ML am 30. Juni an der RUB bei den Wahlen zum 4. Studentenparlament vermelden. Laut „BSZ“ erzielte er 2 Sitze. Die „BSZ“ schrieb zum Ausgang der Wahlen in „Der neue AStA und sein Programm. Bericht und Analyse der Wahl zum vierten Studentenparlament“: „Die niedrige Wahlbeteiligung zeigt klar die entpolitisierende Wirkung der illusionistischen Politik des SDS/ML. Während nämlich die zweite maoistische Gruppe, der KJVD (der KPD/ML-ZB, d. Vf.), sich ganz von der Hochschulpolitik zurückzog und an der proletarischen Basis arbeitete, verstrickte sich der SDS/ML immer mehr in Widersprüche: hier verzweifelter Kampf um den Sieg bei Studentenwahlen, da Anspruch auf die proletarische Massenorganisation. So bauten sie auch mit Hilfe der BSZ und des AStA ihre Politik auf.“

Während „Spartakus“ die „Ablösung der Sektierer des SDS/ML“ feierte, dem „ultralinken Geschwafel“ eine Absage erteilte, sprach die DKP ganz wertfrei von einem „linken AStA“, der sich wieder durchsetzen konnte. In der Einschätzung hieß es: „Zu den interessantesten Wahlergebnissen zählt das an der noch jungen Ruhr-Universität Bochum. Hier hatten als 'KPD/ML' firmierende Maoisten die Verteidigung studentischer Interessen völlig vernachlässigt. Ihr Erfolg im Jahre 1969, der ihnen die Kontrolle über den AStA brachte, war wesentlich auf die starke Zersplitterung der Kräfte zurückzuführen, die sich als Linke verstanden. So wurden bei studentischen Wahlen bis zu sieben Listen der Linken vorgelegt … Die Maoisten meinten, den AStA in eine Zentrale für die Verbreitung ihrer Auffassungen unter den Ruhrarbeitern verwandeln zu können, wobei sie sich einen Führungsanspruch gegenüber den Arbeiterorganisationen anmaßten. Das Ergebnis war Isolierung gegenüber der Arbeiterklasse und Verwirrung und wachsendes Desinteresse unter den Studierenden … So kam es zur Wahlniederlage der Maoisten und (mit knapper Mehrheit) zur Wahl eines linken AStA durch das Studentenparlament. Er versteht sich als ein Aktionsbündnis für die Amtszeit des AStA. (46)

Trotz aller Kritik verstand es der SDS/ML zu polarisieren. Das mag an seiner strikten Erfolgsrezeptur gelegen haben, überall seine politischen Spuren zu hinterlassen, die gleichzeitig auf das „Proletarische“ verwiesen und seiner Auffassung nach die Perspektiven an der RUB verdeutlichten. Der SDS/ML unterschied sich hier nicht vom Unikoll des KJVD. Das machte schon seine Zusammenarbeit mit der „Zündkerze“ bei Opel Bochum deutlich, was die Frage aufwirft: Warum hatte das Unikoll seine Arbeit dort eigentlich aufgegeben? Eine mögliche Antwort könnte die sein: Im politischen Bereich hatte es dort eigentlich wenig zu melden. Als Unterstützungsgruppe des örtlichen Bochumer KJVD mit der direkten Einbindung in die Betriebsarbeit kam man dem Rezept der Bekenntniskampagnen für das Proletariat doch entschieden näher.

Im Juli 1970 gab der KAB/ML erstmals sein Zentralorgan „Rote Fahne“ heraus, nachdem zuvor bereits der „Rebell“ diese Rolle gemeinsam für RJ/ML und KAB/ML übernommen hatte. (47) Der Leitartikel, der dem Sinn nach aus der „Roten Fahne“ des Zentralbüros „Steuervorauszahlung: SPD verschärft Lohnraub“ entlehnt worden war, ließ erkennen, dass dem ZB der Rang abgelaufen werden sollte. Dass hier insgesamt bereits die Handschrift Dickhuts zu erkennen war, wurde daran deutlich, dass sie sich in der Bekämpfung anderer Gruppen der gleichen Strategie bediente, die aus den „Revolutionären Wegen“ bekannt war. Die „Rote Fahne“ meinte: „In der jüngsten Zeit brachen die bis dahin im Zaume gehaltenen linksopportunistischen Tendenzen bei der Strähle-Mellenthin-Clique offen aus ... einerseits werden radikale Phrasen gedroschen, andererseits wird in der Praxis eine Kapitulantenpolitik verfolgt. So z. B. bei der Durchführung von Demonstrationen, bei denen sie sich teilweise … der Aust-Clique (KPD/ML-ZK, d. Vf.) ideologisch unterwarfen …“ (48)

Dass die „Geschichte der MLPD“, dem Wortlaut nach, diese „Strähle-Clique“ geißelte, und es ihr übel nahm, dass sie einen „Spalter-Rebell“ herausgaben, passt nur allzugut in die Wendungen des KABD. Die Behauptung der „linksopportunistischen Tendenzen“, die der KAB/ML anführte, um seinen Kampf gegen den „Aust-Opportunismus“ zu führen, sollte im Artikel „Vorwärts mit der Roten Fahne für die Einheit der kommunistischen Bewegung in Westdeutschland“ noch an Schärfe gewinnen und die „proletarische Linie“ nun offiziell abgesegnet werden.

„Nachdem die Abweichungen der Aust-Opportunisten, der Ezra-Gerhard-Leute und der Strähle-Mellenthin-Clique der marxistisch-leninistischen Bewegung immer schwereren Schaden zufügten, war es für die Kommunisten in der BRD selbstverständlich, dass sie den Kampf gegen den Subjektivismus, Idealismus, Liquidierung der Praxis und kriminelle Neigung verschärfen und die Abweichler aus der Bewegung hinaus säuberten. Beim Ringen um die Durchsetzung der proletarischen Linie schälten sich zwei Stützpunkte heraus, von denen aus die Abweichler unter heftigen Beschuss genommen wurden: In der KPD/ML selbst formierten sich um den 'Revolutionären Weg' die der proletarischen Linie folgenden Genossen; außerhalb der Partei sammelten sich im Kommunistischen Arbeiterbund die Genossen, die ebenfalls gegen den Opportunismus und für die Reinheit des Marxismus-Leninismus eintraten.

Diese beiden marxistisch-leninistischen Stützpunkte führten den Kampf auf verschiedene Weise; es zeigte sich aber inhaltlich, dass sich im antiopportunistischen Kampf die Standpunkte der KPD/ML und des KAB/ML immer mehr annäherten und eine gemeinsame proletarische Linie geschaffen wurde. Wichtig ist, dass jetzt nicht mehr nur der Kampf gegen den revisionistischen Hauptfeind geführt wird, sondern dass auch gegenüber den linkssektiererischen Elementen ein klarer Trennungsstrich gezogen werden muss. Ohne diesen politisch-ideologischen Zweifrontenkrieg würde die kommunistische Bewegung in Westdeutschland letztlich sich selbst dem Opportunismus und damit dem Klassenfeind ausliefern. Genauso wie wir Marxisten-Leninisten den Kampf gegen den US-Imperialismus nicht vom Kampf gegen den Sozialimperialismus trennen können, genauso sind wir gezwungen, in der Bewegung selbst die ultralinken Kinderkrankheiten auszumerzen, ebenso wie die revisionistischen Alterserscheinungen …

Der Kampf für eine proletarische Linie muss ein Kampf um die Einheit der Massen gegen den Imperialismus, der Einheit der Vorkämpfer des Proletariats gegen alle Abweichungen sein. Aus diesem Grunde ist das Eintreten für den Marxismus, den Leninismus und die Mao-Tse-tungideen einerseits identisch mit dem Kampf für die Herstellung der Einheit aller wirklichen Kommunisten und revolutionären Volksmassen, andererseits bedeutet es aber das Hinaussäubern und Ausmerzen all derjenigen Elemente, die rechts- und linksopportunistische Spaltertätigkeit in das kommunistische Lager tragen.

Gerade die am lautesten in der Vergangenheit nach Einheit geschrien haben, waren in Wirklichkeit durch ihre opportunistische Haltung die größten Spalter … Durch die beständige ideologisch-politische Diskussion in den Publikationen der den proletarischen Weg gehenden Kommunisten zeichnete sich deutlich die Übereinstimmung in den wichtigsten Fragen ab. Nachdem man nun nach der Methode von Einheit-Kritik-Einheit zu einem Knotenpunkt gelangt ist, der die beiden Stützpunkte der proletarischen Linie vereinigt hat, ist es die nächste Aufgabe, auch zur organisatorischen Einheit zu schreiten und die marxistisch-leninistische Partei aufzubauen.

Bevor diese organisatorische Einheit abgeschlossen werden kann, wird es notwendig sein, die KPD/ML und den KAB/ML nicht nur in der ideologischen Diskussion, sondern auch im praktischen Kampf zu vereinen. Gerade der praktische Kampf wird das feste und unzerstörbare Band zwischen den beiden marxistisch-leninistischen Organisationen bilden, die marxistisch-leninistische Bewegung vereinheitlichen und in kurzer Zeit zur Einheit in der kommunistischen Partei führen. Nachdem die objektiven Voraussetzungen für die Partei schon lange gegeben sind, haben sich auch die subjektiven Voraussetzungen so entwickelt, dass der Aufbau der kommunistischen Partei zur zentralen Aufgabe der Marxisten-Leninisten in der BRD geworden ist …“ (49)

Dieses Konzept, das Dickhut über die „Rote Fahne“ offiziell vorstellte, ließ erkennen, dass die Reformierbarkeit der KPD/ML sich spätestens hier erledigt hatte. Die robuste Methode, sich gleich vom ZK und ZB abzusetzen, brachte immer neue Blüten hervor: „Beim Ringen um die Durchsetzung der proletarischen Linie schälten sich zwei Stützpunkte heraus, von denen aus die Abweichler unter heftigen Beschuss genommen wurden: In der KPD/ML selbst formierten sich um den 'Revolutionären Weg' die der proletarischen Linie folgenden Genossen; außerhalb der Partei sammelten sich im Kommunistischen Arbeiterbund die Genossen, die ebenfalls gegen den Opportunismus und für die Reinheit des Marxismus-Leninismus eintraten …“ (50)

Der neu entstehende Bund, der hier schon feste Formen annahm, hatte viel Exzentrisches. Die Verurteilung der Abweichungen in der KPD/ML hievte die emotionale Bindung an die „proletarische Linie“ empor, die jetzt als das entscheidende Bollwerk, das gegen alle Gruppen der Linken aufgefahren wurde, gelten sollte. Der manifestierte Verfolgungswahn aus Spitzeln und Provokateuren mit „krimineller Neigung“ war nun gar nicht das Gegenteil der Aust- oder der Genger-Partei. Der KAB/ML mit der alten Konkurrenz-Mentalität war auf das Hinaussäubern und Ausmerzen all derjenigen Elemente, die „rechts- und linksopportunistische Spaltertätigkeit in das kommunistische Lager tragen“ genauso fixiert, wie alle anderen maoistischen Gruppen. Damit zeigte er auch deutlich seine Unterwerfungsbereitschaft an, die nur von lokalhistorischen Interessen geprägt waren. Die ängstliche Abschottung gegenüber KPD/ML-ZK und KPD/ML-ZB war schon beinahe ein tragisches Dokument der Klaustrophobie.

„Der KAB ist politisch bedeutungslos und steht wahrscheinlich kurz vor dem Zerfall“, meinte das LSeK der KPD/ML-NRW bzw. KPD/ML-ZB Anfang Juli in seinen zusätzlichen „Thesen zur Frage der Vereinigung mit dem KAB/ML.“ In den „Thesen“ hieß es u. a.: „Im KAB kann man starke Abweichungen in der Frage des Aufbaus der Partei feststellen … Eine Vereinigung mit dem KAB wäre im Augenblick für die Partei im höchsten Maße schädlich. Wir müssen zuerst den Kampf mit den Ezristen auf nationaler Ebene zu Ende führen. Dann erst kann eine Vereinigung mit anderen Organisationen durch einen Parteitag beschlossen werden.

6. Der Gedanke, der diesen Vereinigungsbestrebungen zugrunde liegt, ist falsch. Die Partei ist vom Typ her auch jetzt eine nationale Partei, und wir können sie nicht auf NRW beschränken, sondern müssen sie mit Hilfe eines zentralen Büros national aufbauen … Wir wollen die Einheit der marxistisch-leninistischen Bewegung. Aber solange nicht eine führende Kraft, ein nationales Büro mit großer Autorität innerhalb und außerhalb der Partei geschaffen ist, ist es sinnlos, eine Vereinigung durchzuführen, die die Partei von vornherein spalten würde, die Einheit des Willens und des Handelns verhindern würde … Aus diesen Gründen sollten wir keinen Vereinigungsparteitag mit dem KAB anstreben, sondern wir sollten versuchen, durch Gespräche und Überzeugungsarbeit die ideologischen Differenzen zu beseitigen.“ (51)

Das war natürlich eine ausgrenzende Klassifikation, die, mit journalistischer Begriffsprägung gepaart, sich im linken Milieu festsetzen sollte. Diese „Thesen“ waren sehr provokant, und sie waren gegen Bundprogrammatiken gerichtet, wie sie vom KAB/ML vertreten worden waren. Ob das allerdings „rechte Abweichungen“ waren, war doch eher in Frage zu stellen. Weil die bundesweiten Sammlungsbewegungen auf einen Gesamtverbund hinausliefen und weil somit jeder seine eigenen Vorstellungen entwarf, waren jeweils die anderen, konsequenterweise, „linke“ oder „rechte Abweichungen“. Die Züge, die eine proletarische Partei tragen sollte, sollten alle gordischen Knoten zerschlagen, damit sich die eine, die einer proletarischen Massenpartei entsprach, auch durchsetzt. Als exklusive Elite der Linken war die KPD/ML jenes Projekt, das aus den „Widersprüchen im Volke“ die Widersprüche zwischen ihr und dem Rest der Linken machte.

Nicht zufällig wurde der Schlag gegen die „Ezristen“ (KPD/ML-ZK) als eine Aufgabe betrachtet, die auf „nationaler Ebene“ zu lösen sei. Das erinnerte an die stalinistischen „Säuberungen“ und an den blindwütigen Hass unter den maoistischen Gruppen. Wenn diese auch nur „Platzwunden“ hervorbrachten, so zeigten sich hier doch die düsteren Amalgame, die diese Auseinandersetzungen prägten. Bei „ideologischen Unklarheiten“ rückten sofort die LKK oder andere „Ermittlungsorgane“ aus, um die „Sicherheitsrisiken“ gleich vor Ort zu beseitigen und die „Abweichler“ zur „Kritik-Selbstkritik“ (KSK) zu zwingen. Nur so konnte das System in der KPD/ML aufrecht erhalten werden. Um alle Zweifel zu beseitigen, musste dann noch zusätzlich ein schriftliches Protokoll über die eigenen „Untaten“ angefertigt werden, woraus bei Bedarf zitiert werden konnte. Das Rückgrat der KPD/ML war derart schroff, dass nur hartgesottene Kader diese Mischung aus Verfeindungen und bizarren Verrenkungen, aus (politischen) Schwankungen und kulturrevolutionärem Enthusiasmus aushalten konnten.

Die starren Schemata, die sich in den „Thesen“ niederschlugen, waren künstlich und ausgedacht. Eine „Einheit“ der Bewegung, war nicht beabsichtigt, höchstens unter dem eigenen Diktum, und auch die „Überzeugungsarbeit“, die „die ideologischen Differenzen zu beseitigen“ hätten, war nur ein Schuss in den Ofen. Als Faustformel angewandt, erreichte sie nur Distanz, Abschottung, eine gewisse Prinzipienfestigkeit und Durchhaltevermögen. Vielleicht fühlte sich der KAB/ML auch einfach nur stiefmütterlich behandelt? Um im großen Reigen mitzuspielen, musste er einfach aus seiner schwäbischen Versenkung herauskommen. Da kam ihm natürlich Dickhut sehr entgegen. Denn nun konnte er, zumindest beizeiten, ins Ruhrgebiet, dem Auge des Proletariats, wo sich alle „Klassenkämpfe“ abspielen würden, übersiedeln.

Die Monate Juli und August könnten als Showdown der KPD/ML bezeichnet werden. Der Schulterschluss der KPD/ML-RW mit dem KAB/ML war perfekt, das ZB steuerte auf die erste Ausgabe seiner „Roten Fahne“ (August) zu, und der „Rote Morgen“ Nr. 7/1970 (August) nahm sich nun alle zur Brust.

Rief die OG München der KPD/ML-ZK im Juli noch dazu auf: „BAUEN WIR STARKE BETRIEBS- UND STADTTEILGRUPPEN DER KPD/ML AUF!“ (52), so wollte die OG Köln der KPD/ML-ZB im Juli gleich alle „antirevisionistischen Gruppen Kölns“ zu einer Besprechung über mögliche Aktionseinheiten einladen. Die Gruppe um Rolf Stolz, die nach einem kurzen Intermezzo bei der KPD/ML-ZK landete, um sich dann der KPD/ML-NE anzubiedern, fand alle nicht besonders berauschend und gründete alsbald einen eigenen Klüngel, die „Kommunistische Initiative Köln“ (KIK), die die „Einheit“ und den „Klassenkampf“ herausgab. (53)

„Bündnisverhandlungen“ waren ein altes Ritual der maoistischen Gruppen. Hier standen stets selbstfabrizierte Ideen zur Debatte, etwa „Einheit der Aktion - Freiheit in den Losungen“. Selbstredend war jede Gruppe davon überzeugt, alleine eine Demonstration etc. angeführt zu haben. Meistens war in den Berichten nach einer solchen Aktion in den Organen zu lesen, dass es „unter der Führung der …“ gelang, die Massen zu einen. Nach einer Demonstration der „Roten Garde“ der KPD/ML-ZK in Moers am 4. Juli 1970 gegen den „US-Imperialismus und den Sozialimperialismus“ meinte das interne „Rote Garde Info“ Nr. 1/1970: „Die Demonstration steht unter der Führung der KPD/ML-ZK und ihrer Roten Garde (RG), denen es in Bündnisverhandlungen gelingt, die örtliche Schülerbasisgruppe und die Ortsgruppe der Internationale der Kriegsdienstgegner (IdK) ebenfalls für die Teilnahme an der Demonstration zu gewinnen ...“ (54)

Gezielte Desinformationen der Mitglieder trugen stets dazu bei, ein Organisationsgerippe zu zeichnen, das überall seine Fäden spinnt und anerkannt ist. Anders lässt sich wohl kaum erklären, dass das Organisationsnetz für den Außenstehenden durchaus als „beeindruckend“ erschien und die KPD/ML-ZK, wie hier, als große Organisation mit weitreichendem Einfluss erschien.

Der „Rote Morgen“ hatte nach seinem Artikel „Bauen wir eine starke bolschewistische Partei auf“ und „Plattform des ZK“ (Januar und April 1970) lange gewartet, bis er zum Gegenschlag gegen alle Fraktionen ausholte. Zuvor hatte am 11. Juli 1970 noch eine Konferenz über die „Vereinigung des KAB/ML mit der KPD/ML“ zur VKPD/ML stattgefunden, die wegen Differenzen „zum Parteiaufbau“ jedoch vorzeitig abgebrochen worden war. (55) Die LKK NRW unter ihrem Vorsitzenden Willi Dickhut ließ in einer „Stellungnahme der LKK zu bestimmten Vorgängen in der Partei“ einige Tage später verlauten, dass sie nun die Positionen des KAB/ML begrüße. Meinte sie doch: „Der KAB/ML bzw. die frühere Rebell-Gruppe entstand im prinzipiellen Kampf gegen die Ezra/Gerhardt/Aust-Gruppe, die sich auf dem Gründungsparteitag durchgesetzt hatte. Die Rebell-Genossen vertraten die Auffassung, dass es nicht möglich sei, die aus der Taufe gehobene KPD/ML von innen her umzugestalten und eine proletarische Linie durchzusetzen. Deshalb bildeten sie eigene Gruppen, um so die Voraussetzung für eine marxistisch-leninistische Partei zu schaffen. Man kann sich darüber streiten, ob das richtig war oder nicht ... Es kann nicht bestritten werden, dass sich im Laufe des vergangenen Jahres die Zeitung Rebell immer mehr auf die proletarische Linie hin entwickelte und der KAB/ML ideologisch-politisch sich dem Standpunkt der KPD/ML von NRW näherte.“ (56)

All das konnte getrost als Makulatur bezeichnet werden. Meinte das ZB nun endgültig im Schreiben vom 16. Juli 1970: „Unsere gegenwärtige Lage“, dass es nun darauf ankommt, den Kampf gegen die „rechte Clique“ in der Partei aufzunehmen. Bei dieser handelte es sich um die Dickhut/Flatow-Gruppe, die spätere KPD/ML-Revolutionärer Weg (RW). (57) Diese Überlegungen der Krise in der KPD/ML, die der Kernideologie, dem „kleinbürgerlichen Intellektualismus“, wie Dickhut meinte, entsprach, sollte der KND mit einem Bericht über die „Sozialistische Deutsche Arbeiterpartei“, einem Ableger der KPD/ML-ZK in West-Berlin noch anheizen.

Am 15. Juli verlautete in einem Artikel: „In Berlin versammeln sich, laut KPD/ML-ZB, die Arbeiter der KPD/ML-ZK, wobei 25-30 Genossen zusammengekommen seien (hierbei dürfte es sich im wesentlichen um die in der 'Bethanienkampagne' aufgebaute Arbeitergruppe Kreuzberg gehandelt haben, die auch unter der Bezeichnung 'Stadtteilgruppe der KPD/ML' auftaucht, d. Vf.). Der Kandidat der KPD/ML-ZK H. habe ein Papier vorgelegt: ‚Die Intellektuellen haben uns für dumm verkauft, die Partei hat sich gespalten, in eine Richtung, die den losen Bund mit anderen ML-Organisationen anstrebt, auf der anderen Seite das ZK. Wir sind über die Diskussion in der Partei nicht informiert worden, sondern wurden wieder vor vollendete Tatsachen gestellt. Wir Arbeiter werden nur als Aushängeschild benutzt, seit der Gründung der Partei sitzen Leute in ihr, die schon zum Zeitpunkt der Gründung die Partei für ein totgeborenes Kind hielten. ... Wir werden nicht mehr in einer Partei mitmachen, in der die Intellektuellen die Führung innehaben.‘ Der Antrag auf eine Neugründung ohne Intellektuelle, die später nur individuell mitmachen könnten, habe 18 Stimmen bekommen, während zwei dagegen gewesen seien und der Rest sich enthalten habe. Geplant sei die Herausgabe einer Stadtteilzeitung für Kreuzberg (was auch in Form der 'Berliner Arbeiterzeitung' (BAZ) verwirklicht wurde, d. Vf.) und die Aufnahme der Betriebsarbeit ebendort sofort und in anderen Teilen Berlins in zirka zwei bis drei Jahren.“

Die KPD/ML-ZB berichtet darüber auch unter der Schlagzeile: „Die schwarze Linie liquidiert sich selbst!“. Danach hat sich die KPD/ML-ZK in drei Teile gespalten, und zwar das ZK und Ezra Gerhard einerseits, die Volkstümler um J. K. (Reto) andererseits und eine neue Partei, deren Name mit 'Sozialistischer Arbeiterbund Deutschlands' angegeben wird, die aber tatsächlich unter dem Namen 'Sozialistische Deutsche Arbeiterpartei' (SDA) in Berlin (besonders in Kreuzberg) eine gewisse Popularität erlangte. Das ZB führt zu dieser Spaltung aus, dass der 'Unione-Agent Reto' (bezieht sich auf die 'Unione dei Comunisti Italiani/marxisti-leninisti in Italien, d. Vf.) letzte Woche in Berlin auf einer Untersuchungsgruppensitzung Ezra Gerhard gegenüber u. a. gesagt habe: ‚Die Partei ist zur Zeit nur eine Ansammlung von Leuten, die sich für den Marxismus-Leninismus interessieren und der demokratische Zentralismus ist von daher nicht das richtige Organisationsprinzip. Von daher ist es notwendig, den Kontakt zu den anderen ML-Organisationen zu intensivieren, besonders mit der KPD/AO.‘ Im Zusammenhang mit diesen Ereignissen kam das ZB zu dem Schluss: ‚Damit ist es den Trotzkisten erneut gelungen, die Arbeiterklasse zu spalten …’“ (58)

Ohne weiter auszuführen, um welche Trotzkisten genau es sich dabei handeln sollte und wieso es sich bei der KPD/ML-ZK, die man in der Vergangenheit ja nicht gerade mit Lobreden bedachte, um die Arbeiterklasse handele, besonders wo doch die Arbeiter der KPD/ML-ZK sich zusammengeschlossen und sich lediglich von einigen Personen getrennt haben, die das ZB selbst als „Agenten“ bezeichnete, sollte die „proletarische Linie“ nun hier einen eindeutigen Knacks erhalten.

Eine „Neugründung ohne Intellektuelle“ wollte ja auch Dickhut. Über die SDA erfährt man jedoch in der „Geschichte der MLPD“ rein gar nichts. Das konnte auch nur bedeuten, dass diese Gruppe für den KAB/ML und Dickhut unwichtig war. Erst sehr spät sollte man davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie wegen ihres „kleinbürgerlichen Radikalismus und Opportunismus“ und der standhaften Weigerung, den KAB/ML zu akzeptieren, fallen gelassen worden war. Der Bericht des KND, dass sich die KPD/ML nun in (weitere) „drei Teile“ gespalten haben soll, war wohl stimmig. Nicht bekannt ist z. Zt., was aus diesen Fraktionen wurde und mit wem sie sich letztlich arrangierten. Da im Artikel die KPD/AO erwähnt worden war, könnte angenommen werden, dass sich ein Teil dieser Gruppe(n) ihr angeschlossen hatte.

Roter Morgen, 7/1970
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Im „Roten Morgen“ Nr. 7/1970 vom August, lautete der Leitartikel: „Der Kampf um die proletarische Linie!“ Er behandelte die Spaltung der KPD/ML. U. a. wurde dort ausgeführt:

„Die KPD/ML ist eine junge Partei, eine Partei in der Phase der Gewinnung des bewußtesten Teils der Arbeiterklasse für den Kommunismus. Wichtige Fragen der proletarischen Revolution in Deutschland sind gegenwärtig noch ungelöst … Die Plattform des ZK ist die systematische Zusammenfassung der in der Praxis gewonnenen bisherigen Erfahrungen der gesamten Partei, ihre Verallgemeinerung mit dem Ziel, die dadurch gewonnenen Erkenntnisse in die Praxis zurückzuführen. Dieser Prozess ist eben die Entwicklung und Konkretisierung der Marxistisch-leninistischen Linie der Partei. Insofern stellt die Plattform des ZK einen äußerst wichtigen Schritt in der Entwicklung der KPD/ML zur bolschewistischen Partei dar.

Gerade das hat eine Handvoll Opportunisten, die sich nachdem sie aus der Partei ausgetreten sind, als KJVD zusammengetan hat, nicht begriffen. Diese Gruppe führte dauernd die 'Theorie-Praxis-Dialektik' im Mund und zeterte hier, das ZK würde die Praxis liquidieren (Fraktionisten in NRW), dort, das ZK würde die Theorie liquidieren (Fraktionisten in Hamburg). Ihre Ansichten zur Theorie und Praxis hatten zwar nichts als einen bedenklichen Grad von Verworrenheit gemein, ihr unmittelbares Ziel jedoch war überall das gleiche: nämlich das ZK und damit die Partei zu liquidieren. Es ist äußerst wichtig festzuhalten, dass die Plattform gerade auch in der Auseinandersetzung mit diesen Opportunisten, im Kampf zweier Linien, entstanden ist. Der nachfolgende Bericht kennzeichnet die Entwicklung der opportunistischen Linie in der Partei, einer Linie, auf der sich alle denkbaren rechten und linken Abweichungen vom Marxismus-Leninismus zusammengefunden haben, die durch nichts als ihre gemeinsame Parteifeindlichkeit zusammengehalten werden. Und er benennt die bestimmten Tendenzen der opportunistischen Linie, nämlich den Revisionismus. Wie Stalin sagt, werden Festungen am leichtesten von innen genommen. Dieser Erkenntnis haben sich die Revisionisten nie verschlossen. So bestand auch ihre hauptsächliche Taktik im Kampf gegen die KPD/ML in dem Versuch, innerhalb der Partei ein bürgerliches Hauptquartier aufzubauen und sie von dorther zu zersetzen. Der Kopf der Revisionisten in den Reihen der KPD/ML, Willi Dickhut, ehemaliger 1. Sekretär des LV NRW, führte diesen Kampf gegen die sich entwickelnde marxistisch-leninistische Linie im Wesentlichen mit zwei Mitteln:

1. Er setzte bei den ungelösten Fragen an (Gewerkschaften, 2.-Juni-Bewegung etc.), versuchte ihre korrekte Analyse zu verhindern und statt dessen die Partei immer mehr auf revisionistische Positionen festzulegen, die dann formal festgehalten und für verbindlich erklärt werden sollten (Ein wahres Meisterstück revisionistischer Taktik ist der weiter unten angeführte Änderungsvorschlag zum Statut der KPD/ML.).

2. Er gab die Parole aus: 'Wenn wir diese organisatorischen Dinge nicht bald meistern, wird unsere Partei Schiffbruch erleiden. Das kenne ich von früher her'. Das ist wahrhaft die Politik, die Ideologie, die Taktik 'von früher', d. h. der KPD. Statt Bolschewisierung Bürokratisierung der Partei! Der Prozess der Entwicklung und Konkretisierung der korrekten marxistisch-leninistischen Linie sollte verhindert, der demokratische Zentralismus liquidiert werden durch den Aufbau eines bürokratischen Wasserkopfes, dessen Hirn natürlich das bürgerliche Hauptquartier unter Dickhut und Co. sein sollte. Der Prozess der Fraktionierung setzte in dem Augenblick ein, als die Versuche der Revisionisten, die Partei von innen zu erobern, am Widerstand der ZK-Genossen und LV NRW scheiterten. Erst jetzt gingen die Dickhut-Leute auf Spalterkurs und sammelten alle diejenigen kleinbürgerlichen Elemente innerhalb und außerhalb der Partei, deren Linie sich hauptsächlich in der Ablehnung des demokratischen Zentralismus überhaupt oder in einem (oft stark persönlich gefärbten) Hass gegen das ZK erschöpfte. Dieser willkürlich zusammengeschusterte April-Block namens KJVD, der im wesentlichen aus anarcho-maoistischen Grüppchen, kleinbürgerlichen Individualisten wie der Hamburger Schüttt-Debus-Clique, ehemaligen SDS-Häuptlingen trotzkistischer Couleur (B1 Bochum) und wahrscheinlich bald einer Abspaltung des KAB/ML besteht, durchläuft immerhin einen Prozess ideologischer Vereinheitlichung: er nähert sich, wie das theoretische Organ des Blocks 'Bolschewik' und seine ökonomistische Praxis beweist, immer mehr den Positionen seiner revisionistischen Anführer an.

Deren politische Linie ist allerdings im Gegensatz zu der ihrer Verbündeten klar und nicht im Geringsten schwankend. Sie versuchten die KPD/ML zu zersetzen und scheiterten, sie versuchten die Partei zu spalten und scheiterten abermals. Konsequent tarnen sie jetzt ihr bürgerliches Hauptquartier, indem sie den Namen KPD/ML okkupieren. Ihre objektive Funktion ist die gleiche geblieben: als Agenten des Revisionismus und damit als Handlanger der Bourgeoisie Unruhe und Verwirrung zu stiften in der marxistisch-leninistischen Bewegung Deutschlands. Die KPD/ML, die im Kampf gegen den Revisionismus in ihren Reihen, im Kampf gegen die Opportunisten aller Schattierungen, d.h. im Kampf um die proletarische Linie, einen entscheidenden Sieg errungen hat, muss in Zukunft die Wachsamkeit erhöhen, um parteischädliche Elemente sofort ausfindig und unschädlich zu machen. Wir Marxisten-Leninisten tragen eine große Verantwortung gegenüber der deutschen Arbeiterklasse. Wir dürfen nicht zulassen, dass die deutsche Arbeiterklasse noch einmal solche Niederlagen wie 1918 und 1933 erleidet. Jeder Fehler, der heute gemacht, aber nicht sofort korrigiert wird, kann sich eines Tages mit solch einer Härte rächen, dass es große Opfer kosten wird, die Angriffe des Feindes abzuwehren. Wir sind keine Revisionisten, die unsere Sache bedingungslos dem Klassenfeind ausliefern, wir sind keine Anarcho-Maoisten, die in abenteuerlicher Weise den Kampf der deutschen Arbeiterklasse gefährden. Wir sind Marxisten-Leninisten, und wir werden jedem Angriff, von welcher Seite er auch kommen mag, mit schonungsloser Härte begegnen …

Die Einhaltung der proletarischen Linie in der Partei ist durch die September-Beschlüsse 'Aufnahmesperre für Studenten, Schüler und Lehrkräfte' nicht zu gewährleisten. Sie berücksichtigen nicht, dass beim Aufbau einer bolschewistischen Partei die Klassenherkunft der Revolutionäre zeitweise in den Hintergrund tritt. Dass das entscheidende Kriterium für den Eintritt eines Genossen in unsere Partei seine proletarische Ideologie und sein proletarischer Klassenstandpunkt ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Klassenherkunft eines Genossen unbedeutend ist und ein Freibrief für den Eintritt von Studenten und Intellektuellen in die Partei. Die Erfahrungen der Vergangenheit (Revolution 1905 in Russland) haben bewiesen, dass die Partei nur dann die Führung der Klassenkämpfe haben kann, wenn ihre Kader in den Massen verankert sind, Proletarier sind. So ist schon jetzt das Hauptaugenmerk der Partei auf die Heranbildung fortschrittlicher Arbeiter zu Kadern zu richten …“ (59)

Mit langen Texttiraden versuchte das ZK hier, seine Position zu festigen. Aus dem gefüllten Faltblatt ist eine abstruse Weltverschwörungstheorie zu entnehmen, die einerseits „alle denkbaren rechten und linken Abweichungen vom Marxismus-Leninismus“ vereine und die „durch nichts als ihre gemeinsame Parteifeindlichkeit zusammengehalten“ werde. Die „bestimmten Tendenzen“ dieser, wie das ZK meinte, „opportunistischen Linie“ würden in den „Revisionismus“ einmünden. Im Kampf um die „proletarische Linie“ hätte das ZK „einen entscheidenden Sieg errungen“. Nun ginge es darum, „die Wachsamkeit (zu) erhöhen, um parteischädliche Elemente sofort ausfindig und unschädlich zu machen“ und andererseits ein neues „bürgerliches Hauptquartier“ beschwor, das sich in der KPD/ML breit gemacht habe. Diese würde die „proletarische Linie“ der Partei liquidieren wollen.

Bei diesem Artikel fiel weiter auf, dass das ZK eigentlich das gleiche Vokabular in den Auseinandersetzungen benutzte wie das ZB und der RW. Der Artikel war seltsam zynisch abgefasst. Und goss vagen marxistischen Sermon aus. In dem Bemühen, sich gleich von allen Seiten abgrenzen zu müssen, verwies er stets auf die Loyalität dieser diffusen Gesinnungsgemeinschaft, der das „Erstgeburtsrecht“ genau so wichtig war wie anderen Vater oder Mutter. Der Schlüssel zur Erkenntnis dieses Artikels bestand darin, dass das Programm der „proletarischen Linie“ in seiner ganzen Originalität aus Belehrungen bestand, die man anzunehmen habe oder ablehnen müsse. Dass die „Spalter“ „Agenten des Revisionismus“ seien, könnte als brennende Lunte bezeichnet werden, die nicht mehr auszutreten ist. Die „Handlanger der Bourgeoisie“, deren „objektive Funktion“ es sei, „Unruhe und Verwirrung in der marxistisch-leninistischen Bewegung Deutschlands“ zu stiften, waren somit vom ZK für alle Zeiten gebrandmarkt. Wie wundersam das alles war, sollte sich gute 2 1/2 Jahre später zeigen. Mit der Auflösung des ZB sollte sich die harte Hand des ZK als Weichspüler entpuppen. Unter dem großen Fächer der KPD/ML fanden hier alle eine Heimat. Das ZK nahm die Genossen im wahrsten Sinne des Wortes an ihren Busen.

Dass das ZK an seiner eigenen „proletarische Ideologie“ und seinem „proletarischer Klassenstandpunkt“ festhielt, wirft die Frage auf: Worin unterschied sie/er sich eigentlich von Dickhut, den es als „Kopf der Revisionisten“ bezeichnet hatte? Nur die Beimischung, dass das ZK mit diesem „Roten Morgen“ endgültig die „Septemberbeschlüsse 1969“ aufhob, ließ erkennen, dass seine Deutung der „proletarischen Linie“ eine war, die als lebender Gegenpol nur auf neue Einflusspositionen und Gebiete insistierte. Sie, die nichts anderes war als eine abgespeckte „proletarische Linie“, sollte bei den Mitgliedern und Sympathisanten assoziieren, dass auch das ZK quasi auf dem Sprung war, sich als Avantgarde an die „fortschrittlichen Arbeiter“ zu richten, die sie „zu Kadern heranbilden“ müsse.

In dieser Rolle des habituellen Kulturrevolutionärs gefiel sich das ZK natürlich. Dieses „große Zentrum“, das in der „Zukunft die Wachsamkeit erhöhen“ wolle, „um parteischädliche Elemente sofort ausfindig und unschädlich zu machen“, war Showbusiness erster Qualität. Das diebische Vergnügen des ZK als „Mutter aller Parteien“ daherzukommen, liest sich in jedem Satz. Und überall sollte nun Misstrauen vorherrschen. Man wollte sofort reagieren, exemplarische Aktionen durchführen, als avantgardistische Leitgruppe die Übersicht behalten und die autoritäre Ausrichtung favorisieren. Eine seltsame Selbstverklärung brach sich hier Bahn. Die „Spalter“ hatten den Namen „KPD/ML okkupiert“. Die Kluft war nie so groß. Dieser Halbsatz machte den kleinen Unterschied aus. Damit waren auch die Differenzen letztlich unüberbrückbar.

Aus: Roter Morgen 8/1970
Aus: Roter Morgen 8/1970

Der „Kampf gegen die Steuervorauszahlung“ 1970 kann als klassisches oder strategisch wichtiges Ziel vieler maoistischen Gruppenbezeichnet werden. „Dem Klassengegner die Faust ins Gesicht“ und „Lohnfragen sind Machtfragen“, hieß dementsprechend der Aufreißer in der September-Ausgabe des „Roten Morgen“. (60) Der „Kampf gegen Lohnraub“ wurde an zwei Fronten geführt. Zum einen wurde er dazu benutzt, um zu erklären, dass „der angeblich demokratische bürgerliche Staat und seine Parteien Lakaien des Kapitals“ seien, die niemals die Interessen der Arbeiterklasse vertreten“ könnten und die Arbeiterklasse (deshalb) diesen Staat stürzen und an seine Stelle den Staat der Arbeiter, den sozialistischen Staat errichten“ müsse, und zum anderen, um klarzumachen, dass die „die Arbeiterklasse eine starke kommunistische Partei“ benötige, „die KPD/ML“, die fähig ist, die Lohn- und Arbeitskämpfe der Arbeiterklasse anzuführen und zu leiten. Die „roten Betriebsgruppen der KPD/ML“ sind ein erster Schritt auf diesem Weg, meinte die OG München der KPD/ML-ZK am 20. Juli. Auch andere Ortsgruppen übernahmen fast den gleichen Wortlaut. (61)

Diese programmatischen Aussagen waren auch eine Standortbestimmung der KPD/ML-ZK. Anstelle der Massen zu handeln, wurde hier mit Leben gefüllt; denn man sei ja kein Abenteurer, sondern eine Kommunistische Partei. Das Interesse der KPD/ML, an die „Tagesinteressen der Arbeiterklasse“ anzuknüpfen, ging schon hier in die Wiederbelebung der RGO auf, die sich ebenfalls an das klassische Industrieproletariat wandte. Der „Lohnkampf“ könnte somit sogar als Vorstufe dieser RGO-Politik, die auch der Theorie des ZB von der „Eroberung der Gewerkschaften“ diametral entgegengesetzt war, bezeichnet werden. Klasse gegen Klasse, als Mittel des Kämpfertums, sollte die Masse näher an die KPD/ML heranführen. Die spätere RGO war, so betrachtet, auch ein Bindeglied, das alle anderen Projekte (Arbeit im öffentlichen Dienst, Stadtteilarbeit etc.) begleitete. Auch im „Parteiarbeiter“ der KPD/ML-ZB, dem innerorganisatorischen Organ Nr. 1/1970, wurde der „Lohnraubpolitik“ ein längerer Abschnitt gewidmet. Hier sollten die „betrieblichen Forderungen ergänzt durch allgemeine Parolen gegen den Lohnraub“ werden. (62) Mit der Parole gegen den „Lohnraub“ wagte sich das ZB, im Gegensatz zu allen anderen Gruppen, erstmalig daran, sie als „sozialfaschistische Verwaltung“ (63) zu bezeichnen.

Der „Parteiarbeiter“ aus dem August richtete erneute Angriffe gegen das Aust-ZK. In einem längeren Artikel beschäftigte sich das ZB mit den „linken Abweichungen“, die „die Grundlagen unserer Partei anzugreifen“ gedachten. Interessant war, dass nun auch das ZB darauf verwies, dass sie (die Liquidatoren) aus „unsere Partei … (keinen) bewussten und organisierten Vortrupp der Arbeiterklasse machen“ wollten, sondern zu „einer Organisation von kleinbürgerlichen Intellektuellen, die ihre Vorstellungen von theoretischer Arbeit in ihr verwirklichen“ wollten. Das ZK betreibe einen „liquidatorischen“ Kurs. Der „Linksopportunismus“ würde durch „rechte Abweichungen“ unterstützt.

Der Artikel „Gegen die Liquidatoren der Partei - Das Zentralbüro der KPD/ML unterstützen“ war ein Fauxpas sondergleichen. Die Rivalität zwischen allen Gruppen spitzte sich erneut zu. Die Beschleunigung der Ereignisse zu diesem Zeitpunkt war tatsächlich enorm. Die politischen Machthaber aller Seiten erklärten durch verzweigte Positionierungen, dass im Zweifelsfalle die Brüllhierarchie entscheidet. An dieser Front war dem ZB sein rigoroser Intellektualismus anzumerken, hinter dem der „Rote Morgen“, wenn der Vergleich zum August-Artikel gezogen wird, doch weit zurückfiel. Das Generationsschicksal, KPD/ML, sollte durch die Authentizität des geschriebenen Wortes ein für alle Mal den Protagonisten zufallen, die am ehesten das Gefühl verbreiten konnten, sie seien die korrekte KPD/ML. (64)

Dass das ZB gleich in einem Aufwasch „die rechten und linken Abweichungen in der Partei politisch“ schlagen wollte, sollte es berühmt machen. Denn es kompensierte seine Denunziationen durch die Eigentümlichkeit, die typische Sprache dieser Zeit, gleich zum Fanal zu erklären und rigoros im Nah- und Distanzkampf die universale Richtigkeit seiner Positionen herauszukristallisieren. Neu war indes der politische Schlag gegen die „linken und rechten Abweichungen“, also kein ideologisches Gehacke mehr, was aus dem Frühjahr noch bekannt geworden war, sondern eine Gangart, die sich ins Politische verlagern sollte. Fortan sollten die Differenzen ausgelagert werden. Ausgetragen wurden sie dann u. a. in der Betriebspresse, in den Zentralorganen und auf Veranstaltungen und Konferenzen.

Der KSB/ML Freiburg der KPD/ML-ZK sollte sich, wie das ZK, im August zur Spaltung der KPD/ML äußern. In einer Broschüre mit dem Titel „Zur Einheit aller Revolutionäre, besonders der Marxisten-Leninisten - Stellungnahme des Zentralkomitees der Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei Belgiens (PCMLB)“ wurde zur Situation in der BRD ausgeführt: „Die westdeutsche revolutionäre Bewegung ist heute gespalten und zersplittert. Spaltung und Zersplitterung aber dienen nicht dem Proletariat. Sie stärken die Bourgeoisie und schwächen das Proletariat. Deshalb gewinnt gegenwärtig auch ein Problem immer mehr an Bedeutung: DIE FRAGE DER EINHEIT ALLER REVOLUTIUONÄRE UND INSBESONDERE DER MARXISTEN-LENINISTEN. Die Einheit herstellen aber heißt, alle revolutionären Kräfte, die jetzt neuen Aufschwung nehmen, auf den richtigen Weg zur Revolution in Westdeutschland führen: Kurs und Methoden zur Überwindung der Widersprüche anzugeben und anzuwenden … Die treibende Kraft bei der Lösung dieser Aufgabe MUSS die revolutionäre Partei des westdeutschen Proletariats, die KPD/ML, sein …“ (65)

Auch hier wurde deutlich, dass die Selbsterklärungen ein probates Mittel des Wiedererkennungswertes des ZK waren. Das ZK der KPD/ML als „treibende Kraft der Bewegung“ sollte bis zur Vereinigung mit der GIM am 4./5. Oktober 1986 sozusagen magische Bedeutung haben. Aus der Distanz betrachtet, fungierte das ZK als symbolische Gegenmacht zu allen anderen maoistischen Gruppen, die sich zwar wie diese aus politisch-fraktionellen Gruppen zusammensetzte, aber im Gegensatz zu ihnen als eine der wenigen, heute noch existierenden Splittergruppen mit wechselnden Namen, ihr politisches Scheitern einfach verdrängte. Die Neubelebung in KPD/ML (Roter Stern) lässt erkennen, dass der Traditionalismus, mit dem sie einst bekannt wurde, scheinbar immer noch kräftige Blüten treibt.

Das interne „Rote Garde - Info Nr. 1“ der RG der KPD/ML-ZK vom August 1970, das vom Jugendbeauftragten der LL NRW herausgegeben worden war, war wie der „Parteiarbeiter“ oder „Der Junge Bolschewik“ der KPD/M-ZB bzw. des KJ-Inform als internes Organ konzipiert worden. Das „Info“ selbst rief dazu auf, den „Kampf gegen den Subjektivismus durch verstärkte ideologische Erziehung“ aufzunehmen, um damit die „falsche Linie des KJVD „ zu entlarven. Zur Spaltung der KPD/ML meinte es: „Der Einfluss der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideen auf die Rotgardisten ist daher noch groß. Bei der politischen Arbeit verlassen wir uns oft mehr auf unseren Enthusiasmus als auf marxistisch-leninistische Untersuchungen. Zudem haben wir noch keine genaue Untersuchung der Klassen der deutschen Gesellschaft; die Strategie und Taktik der Partei und der Roten Garde sind noch nicht festgelegt. Deshalb ist die Gefahr des Subjektivismus noch groß. Wenn die subjektivistische Haltung in der Roten Garde NRW auch nicht mehr wie vor der Abspaltung der Fraktion die Hauptströmung darstellt, so kann sie dennoch bei unserer Arbeit gewaltigen Schaden anrichten - wenn wir nicht ständig den Kampf gegen den Subjektivismus führen … Es ist klar: Subjektivismus führt zu Abweichungen von der korrekten proletarischen Linie und bringt uns in der politischen Arbeit nicht voran, sondern wirft uns zurück. Der Subjektivismus ist seinem Wesen nach dem Marxismus-Leninismus entgegengesetzt. Er hilft objektiv dem Feind, der Feind begrüßt den Subjektivismus in unseren Reihen. Deshalb darf es in der Roten Garde keinen Platz mehr für ihn geben.“ (66)

Der Kampf gegen „bürgerliche und kleinbürgerliche Ideen“ war auch für das „Info“ bestimmendes Segment. Die „falsche Linie“ des KJVD, die sich hier aus einem „Subjektivismus“ speisen würde, müsse durch die „ideologische Erziehung“ bekämpft werden. Dass dieser Meinungskampf hier eine philosophische Dimension annahm, sollte nicht verwundern; denn überall wurde mit diesen und ähnlichen Kategorien argumentiert. Sollte doch der Nachweis erbracht werden, dass die „Abweichungen vom Marxismus-Leninismus“ gleich in einer ganzen Palette von ideologischen Referenzen einmünden, die, bei Missachtung, eine „falsche Linie“ hervorbringen würden.

Wie vieles andere war das an den Haaren herbeigezogen. Eine „ideologische Erziehung“, wie das „Info“ forderte, beantwortete nicht die Frage danach, wie sie denn auszusehen hätte, um sich künftighin vor Abspaltungen abzusichern. Die „wahre Erkenntnis“, die er ableugnen würde, prägte nur diesen populistischen Maoismus, der in seiner Konstellation als Ideologiemix nur fabulierte.

Nicht anders erging es dem „Jungen Bolschewik“, der in seiner ersten Ausgabe am 1. August 1970 erschien. Das Organ, das sich im Untertitel „Organ für Theorie und Praxis des KJVD“ nannte, löste den „Bolschewik - Theoretisches Organ der Roten Garde NRW“ ab. In der Ausgabe hieß es u. a.: „Der Bolschewik war in Wirklichkeit nicht nur das Theoretische Organ der Roten Garde/KJVD, sondern lieferte in mindestens ebenso großem Ausmaße auch die theoretischen Grundlagen für die Auseinandersetzung mit der kleinbürgerlichen Linie innerhalb der KPD/ML. Das ist darauf zurückzuführen, dass sich die Notwendigkeit des Kampfes gegen diese Opportunisten zum ersten mal zu dem Zeitpunkt offen ergab, als sie sich daran machten, die Jugendorganisation der Partei, die Rote Garde, zu liquidieren. Deshalb wurde der Kampf folgerichtig auch zuerst von den unmittelbar Betroffenen, den Rotgardisten, aufgenommen, die sich dann als eines ihrer Kampfinstrumente den 'Bolschewik' schufen. In diesem historischen Zusammenhang müssen wir die Funktion und den Charakter des 'Bolschewik' sehen … Mittlerweile haben wir jedoch eine völlig andere Situation: Die kleinbürgerliche Ezra-Aust-Clique hat sich abgespalten und sich auch untereinander noch einmal gespalten, es gibt ein zentrales Büro sowohl des Jugendverbandes (der umbenannt wurde in KJVD) als auch der KPD/ML, und der Aufbau der Partei und der Jugendorganisation geht mit viel Schwung und Optimismus erfolgreich voran. D. h., es herrschen wieder, wenn man so sagen will, normale Verhältnisse …“ (67)

Der „JB“ hatte es in kürzester Zeit geschafft, auf „normale Verhältnisse“ zu insistieren. Das Unschuldsbild, in das er sich ergoss, war eine leere, endlos repetierte Formel, die nur zum Ausdruck brachte, dass es für alles einen Schuldigen geben muss, wenn es mal nicht läuft. Dieser fand sich auch sehr schnell, oder immer dann, wenn der Wurmfortsatz der Spaltung sein Unwesen trieb. Die „kleinbürgerliche Linie innerhalb der KPD/ML“, die auch alle Tendenzen zum „Opportunismus“ zeigen würde, sollte zu einem der vielen namenlosen Grundmotivationen werden, mit denen man sich selbst seine eigene marxistisch-leninistische Denkweise zusammenbastelte.

Die zweite Sondernummer der „Roten Fahne“ des ZK des KAB/ML vom 10. August 1970 rief dazu auf, „Die Spalter der kommunistischen Bewegung (zu) bekämpfen, die Einheit (zu) fördern. Stellungnahme des ZK des Kommunistischen Arbeiterbundes Westdeutschlands zur Spaltertätigkeit der Weinfurthgruppe.“ (68) Die Ausgabe, die sich erneut mit der Situation in Mannheim beschäftigte, spielte die Rolle des Beleidigten. Immer dann, wenn der KAB/ML (später KABD, dann MLPD) seine Pfründe in Gefahr sah, zog er in der Öffentlichkeit das blanke Messer. Beschimpfungen, Beleidigungen und Ehrenabschneidungen waren allseits an der Tagesordnung und gehörten mit zum Rückgrat der Gruppe. In der Welt der selbsternannten kommunistischen Führerkulte sollten sie zwielichtiges und denkwürdiges miteinander vermengen können. Diese Manifeste speisten sich aus jenen theoretisch-programmatischen Selbsterklärungen, die ganz der Argumentationsweise der unverständlichen „politischen Linie“ entsprachen. Sie wurden internationalisiert und sind sicherlich ein Hinweis darauf, dass die bundesdeutsche K-Gruppen-Bewegung vom historischen Rückfall lebte und den übermächtigen Marxismus-Leninismus faktisch als Unterwerfung verstand.

Womöglich ging ein Beschluss der Berliner „Roten Garde“ im ZB und im KJVD unter. Meinte diese doch auf einer Kaderkonferenz vom 11. August 1970, „sich als organisatorisch, ideologisch und politisch unabhängig von ihrer bisherigen Mutterorganisation KPD/ML-ZK anzusehen“. (69) Das entsprach jener „Selbständigkeit“ eines KJV, der immer wieder eingefordert worden war. Auch wenn sie faktisch nie realisiert worden war, so charakterisierte dieser Streit doch, wie haltlos die Angriffe waren und dass sie nur die Kränkungen des eigenen Selbstbildes repräsentierten.

Der am 18. August erschienene Landesleitungsbericht der KPD/ML-ZB NRW stellte „die Gefahr einer ökonomistischen Abweichung in der Partei“ heraus, die sie in den Zusammenhang mit den allgegenwärtigen Spannungen stellte. Die Formulierung, dass „das Zentralbüro nur ein Zirkel unter vielen ist“, musste verwundern. (70) Der Landesleitungsbericht präsentierte dem Parteivolk, wohl eher ungewollt, seine eigenen Bedenken zu einer zentralen Leitung. Der allgemeine Zirkelzustand sollte sich auch nicht durch „die Kraft der Autorität der Ideen“, mit denen das ZB wirken wollte, beheben lassen. Die formale Konstituierung des ZB wurde in einem „Resolutionsentwurf“ am 16. August 1970 bekannt gegeben. Mit einigen Sätzen wurde in der Sache so entschieden: „Das ZB der KPD/ML ist das proletarische Zentrum der Partei. Es arbeitet auf der Grundlage der Lehren von Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao Tsetung. Das ZB kann jetzt unmöglich gewählt werden. Es wirkt deshalb vor allem durch Überzeugung … Wer das Zentralbüro an der Durchführung dieser Arbeit hindert, will nicht den einheitlichen Aufbau der Partei, der hat die Partei aufgegeben …“ (71)

Nach allen Regeln der Kunst politisierte das ZB sich selbst. Indem es auf die unverrückbaren Grundlagen verwies, konnte es gleichzeitig die typischen Drohgebärden annehmen: „Wer das Zentralbüro … hindert“, hieße in etwa, dass all diejenigen, die an seiner Programmatik zweifelten, mit der Ausweisung zu rechnen hätten. Von der Terminologie her unterschied das sich nicht vom ZK.

Der Landesverband Südwest (Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Baden-Württemberg) der KPD/ML-ZK führte im September, nach eigenen Angaben, eine Delegiertenversammlung in Frankfurt/M. durch. U. a. wurde auch eine Entschließung angenommen, in der auf die „jetzige Etappe der Revolution“ verwiesen wurde. In dieser sei „die Hauptaufgabe … der Partei die Schmiedung der Avantgarde des Proletariats durch den Marxismus, den Leninismus und die Mao Tsetungideen“. Weiter hieß es: „Die Klassenkämpfe der Gesellschaft spiegeln sich in der marxistisch-leninistischen Partei wider. Deshalb ist der Grundwiderspruch in der marxistisch-leninistischen Partei auch der zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Der Widerspruch äußert sich in einem ständigen Kampf zwischen bürgerlicher und proletarischer Linie in der marxistisch-leninistischen Partei. Die Partei kann den Widerspruch nur lösen durch die Verbindung von wissenschaftlichem Sozialismus und Arbeiterbewegung. Deshalb ist die grundlegende Aufgabe der Partei die Verbindung von wissenschaftlichem Sozialismus und Arbeiterbewegung …“ (72)

Das war vereinfacht auf die Prämisse zugespitzt, die alle strategischen Wendungen für die kommende Zeit enthalten sollte: Die „Widerspruchstheorie“. Sie war nichts anderes als kompensierte Korrektur des Misserfolgs. „Wenn die Linie erst einmal festgelegt ist, entscheiden die Kader alles.“ Diese Zuspitzung erfährt man zwar nicht aus diesen Sätzen, sie war aber die schöpferische Fortschreibung und Präzisierung des Terminus „Verbindung von wissenschaftlichem Sozialismus und Arbeiterbewegung“. Er trug auch dazu bei, den dicht geknüpften Kokon weiter auszubauen und sich in diesem zu verpuppen.

Die Ausgabe Nr. 8 des „Roten Morgen“ aus dem September enthielt neben dem Wendeartikel „Lohnfragen sind Machtfragen“ und „Über die Aufgaben des Roten Morgen. Dem Klassengegner die Faust ins Gesicht“ auch eine Kritik der Freiburger Ortsgruppe der KPD/ML-ZK. Die Kritik formulierte u. a.: „Die Entfaltung des ideologischen Kampfes ist die Vorbedingung für das organisatorische und politische Wachstum der Partei; ohne ideologische Klarheit und Einheit wird die KPD/ML ihre historische Aufgabe nie erfüllen können … Der RM als zentrales Organ der Partei, ist unser wichtigstes Instrument im ideologischen Kampf um die Plattform dieses Kampfes, was die innerparteiliche Auseinandersetzung und Vereinheitlichung betrifft … Die Art, wie der RM z.B. den 'Gründungsopportunismus' an Hand der KPD/AO zu bekämpfen versucht, widerspricht vor allem dem Prinzip 'Der ideologische Kampf muss den Gegner schwächen und die eigenen Kräfte stärken'. Der Gründungsopportunismus ist der ideologische Ausdruck einer objektiven Entwicklung … Ebenso wenig wie der Gründungsopportunismus als Produkt der kleinbürgerlichen Kräfte der Studentenbewegung in der Verschärfung des Grundwiderspruchs und in der Auseinandersetzung mit der proletarischen Partei entlarvt wird, ebenso wenig wird diesem Opportunismus ... eine positive Orientierung in den Fragen der Partei und des Parteiaufbaus entgegengestellt …“ (73)

Nun war der „ideologische Kampf“ ja nichts anderes als eine der vielen Umerziehungsstrategien, oder sollte ein solcher sein. Zurückweichen war nicht erlaubt, und immer wieder wurde auf die klassenmäßigen Wurzeln verwiesen, die die „proletarische Partei“ gegenüber allen anderen auszeichnen würde. Die Geißelung des „Gründungsopportunismus“ der KPD/AO war dann auch so zu verstehen. Deren „schädliche Ideologie“ sei ein Produkt der „kleinbürgerlichen Kräfte der Studentenbewegung“. Die Organisation solle nun durch den „Roten Morgen“ in die proletarischen Hände genommen werden, denn man „muss den Gegner schwächen und die eigenen Kräfte stärken“. So meinte der „Rote Morgen“ jedes „rechte und linke Hauptquartier“ zerschlagen zu können.

Aus: Roter Morgen 8/1970
Aus: Roter Morgen 8/1970

Der Artikel „Über die Aufgaben des Roten Morgen. Dem Klassengegner die Faust ins Gesicht“ kam da wie gerufen.

„Sicherlich ist die ideologische Auseinandersetzung mit anderen marxistisch-leninistischen Gruppen eine wichtige Sache, doch wichtiger ist: dem Klassengegner die Faust ins Gesicht! Wäre diese Kritik von jener Gruppe gekommen, die sich im April von der Partei trennte (KPD/ML-ZB, d .Vf.), die es als ihre Hauptaufgabe ansieht, eine wilde 'Praxis' zu entfalten, indem sie ohne die konkrete Lage im Betrieb zu untersuchen, zu Streiks aufruft, in der vagen Hoffnung, irgendwann wird es schon klappen; die die politische Aktivität von Marxisten-Leninisten daran misst, wie viel Kilo gedruckten Papiers sie produzieren, ohne den Nutzen des Inhalts für die Entfaltung des Klassenkampfes zu prüfen; die den Ökonomismus predigen und jede ernsthafte Arbeit an der Erstellung einer Klassenanalyse und Ausarbeitung eines marxistisch-leninistischen Programms für unnützen Zeitvertreib halten, wir hätten kein Wort darüber verloren.

Die Kritik kam jedoch von Arbeitergenossen unserer Partei, die auf dem Boden der Plattform des Zentralkomitees stehen. Die der Meinung sind, dass im Widerspruch zwischen Theorie und Praxis die Theorie derzeitig die Hauptseite ist, dass die unbedingte Notwendigkeit der Ausarbeitung einer programmatischen Erklärung der KPD/ML besteht. Die sich aber - und das mit vollem Recht - dagegen wehren, den ROTEN MORGEN in ein Blatt nur für Intellektuelle umzuwandeln. Wie muss in der jetzigen Phase des Parteiaufbaus der ROTE MORGEN, das Zentralorgan unserer Partei aussehen? Sicher ist, dass in ihm die Programmdiskussion in Artikeln und Beiträgen der Kommissionen einen gebührenden Platz einnehmen, dass in ihm die politische Linie der Partei ihren konkreten Ausdruck finden soll. Doch ist das alles? Erinnern wir uns, welche Forderungen Lenin an das Zentralorgan einer bolschewistischen Partei stellte: Die Zeitung soll kollektiver Propagandist, Agitator und Organisator sein …

Für uns ist entsprechend der Hauptaufgabe der Partei gegenwärtig die Propaganda die hauptsächliche Seite ... Kollektiver Propagandist? Das heißt, die Zeitung muss in ideologischen Artikeln: 1. den schonungslosen Kampf gegen den Imperialismus und Sozialimperialismus besonders gegen die westdeutsche Monopolbourgeoisie führen, 2. den Revisionismus in all seinen Erscheinungsformen ständig entlarven, 3. der Arbeiterklasse die Notwendigkeit der marxistisch-leninistischen Partei erklären, 4. das Wesen des Kapitalismus in all seinen Erscheinungsformen erklären und enthüllen, 5. in sachlicher Diskussion und Polemik mit anderen marxistisch-leninistischen Gruppen die korrekte Linie des Aufbaus und der Polemik der marxistisch-leninistischen Partei bestimmen, 6. die Erfahrungen und Erfolge der marxistisch-leninistischen Bruderparteien aufzeigen und auswerten. Kollektiver Agitator? Das heißt, die Zeitung muss 1. zu konkreten Aufgaben der Arbeiterklasse, zum Beispiel Streiks, Kampf gegen Preissteigerungen usw. anleitend Stellung nehme, 2. an konkreten Beispielen die Bourgeoisie demaskieren und die Taktik der Revisionisten entlarven, 3. zu aktuellen politischen Fragen vom Klassenstandpunkt aus Stellung nehmen, 4. Erfahrungen über verschiedene Aktionen des Klassenkampfs vermitteln, 5. Diskussionen über die konkreten Formen des Kampfes mit anderen marxistisch-leninistischen Gruppen führen.

Kollektiver Organisator? Das heißt, die Zeitung muss 1. sich ein enges Netz von Korrespondenten aus möglichst vielen Orten schaffen, um in der Lage zu sein, direkt von der Basis aus zu berichten, 2. über Abonnenten und Leser den Kreis der Sympathisanten an die Partei heranführen, 3. politische Kampagnen organisierend vorantreiben, 4. über Erfahrungen der Organisation der Partei berichten. Das alles sind vielfältige, umfangreiche Aufgaben, die vom Zentralorgan unserer Partei, dem ROTEN MORGEN, wahrgenommen werden müssen... Die Gefahr, dass sich der ROTE MORGEN in eine theoretisierende Zeitschrift für Intellektuelle verwandeln könnte, ist spätestens ab dieser Ausgabe gebannt ...

An welchen Leserkreis soll sich der ROTE MORGEN wenden? Er wendet sich in der Hauptsache an die fortschrittlichen, klassenbewussten Arbeiter, aus deren Reihen sich die Avantgarde des Proletariats rekrutiert. Er wendet sich weiter an die revolutionäre Intelligenz, deren Aufgabe es ist, sich unter Führung der Arbeiterklasse mit dieser sich eng im Kampf zum Sturz der herrschenden Klasse zu verbünden. Er wendet sich an alle, die erkannt haben, dass dieser Kampf nur unter Führung einer korrekten, marxistisch-leninistischen, einer bolschewistischen Partei zu gewinnen ist.“ (74)

Brachte der Artikel den Triumpf der KPD/ML-ZK über das ZB? Auf den ersten Blick erschien es so. Auf den zweiten Blick allerdings hielt diese Euphorie nicht lange stand. Der abgedruckte Pflichtgeist, der für die Marxisten-Leninisten nun Gültigkeit habe, war nichts anderes als eine Wiederholung des bekannten Aufgusses aus dem Frühjahr. Dass im „Widerspruch zwischen Theorie und Praxis die Theorie derzeitig die Hauptseite ist“, war zwar bekannt, wurde aber hier noch einmal explizit genannt. Das Lavieren der KPD/ML-ZK in dieser Frage konnte als blinder Gang der Dinge bezeichnet werden.

Seit der Gründung war an einer „programmatischen Erklärung“ (auch: Klassenanalyse) gefeilt worden. Zustande kam nie eine solche. Allerdings ist es heute müßig, nach den Ursachen zu forschen und die Frage nach dem Warum nicht zu stellen. Die Verfehlungen der KPD/ML allein nur in einer Herabminderung der Theorie zu suchen, wie Heiner Karuscheit in seiner „Geschichte der westdeutschen ML-Bewegung“ (75) meint, greift vollkommen zu kurz; denn der Zerfall der KPD/ML könnte m. E. auch aus ihrer ewigen, hysterisch überlagerten, Konfrontation mit der „proletarisch-kleinbürgerlichen Denkweise“ begriffen werden. Die Theorie als solche, die ja die Voraussetzungen für programmatische Schritte schaffen sollte, hatte in der ML-Bewegung womöglich gar nicht eine solche überragende Rolle gespielt, wie sie von verschiedenen Theorie-Gruppen jenseits der 1980er Jahre immer wieder debattiert worden war. Der Bezugspunkt aller Linken ist bis heute die Fokussierung auf das Proletariat oder jene Gruppen, die sich in der Sozialgeschichte als noch vorwärtstreibend herauskristallisieren könnten.

Doch lieferte der „Rote Morgen“ eigentlich selbst die Antwort für sein vorprogrammiertes Scheitern, das in der Bindungslosigkeit der Partei und speziell des RM zu den „fortschrittlichen, klassenbewussten Arbeitern“ bestand. Daher sollte sich die Zeitschrift nun radikal umgestalten. Der RM müsse nun praktisch das Wesen der Arbeiterklasse begreifen. Und deshalb sei die Gefahr gebannt, dass sich „der ROTE MORGEN in eine theoretisierende Zeitschrift für Intellektuelle verwandeln könnte“. Und auch ein Termin dafür wurde gesetzt, denn sie sei „spätestens ab dieser Ausgabe gebannt“.

Der Artikel könnte als linksradikales Zeitungskonzept bezeichnet werden, denn er setzte an den rasch wechselnden Moden des Parteiaufbaus und der Rolle der Zeitung an. Große Unterschiede, z. B. zum ZB, konnten hier nicht festgestellt werden. Die Zeitung als „kollektiver Propagandist, Agitator und Organisator“ war seit Lenins Zeiten und der „Iskra“ bekannt. Und auch ihre ständig wechselnden Aufgaben in den verschiedenen Etappen des Parteiaufbaus konnten nicht als Neuerung durchgehen. Es hatte hier eher den Anschein, als ob das ZK den imaginären Geist der russischen Sozialdemokraten von 1905 noch einmal ausschütten wollte. Kurzum, das Bild des „Roten Morgen“, das hier entstand, war das einer stets schwankenden Organisation, die sich mal progressiv gab, mal elitär, mal proletarisch, doch eher immer volkstümelnd.

Dass in der KPD/ML-ZK nun (endlich!) der „Kampf organisiert werden“ sollte, daran dachte die OG Frankfurt/M. des ZK, die den Artikel am 17. August fast wörtlich nahm. Bei Adler verteilte sie ein Flugblatt zu einem Streik und brachte sich als „organisierte Führung“ ins Gespräch. (76) Am 24. August verteilte sie dort ein fast gleichlautendes Flugblatt, wo nun ihre „Rote Betriebsgruppe“ als Streikführer vorgestellt wurde. (77) Das dürfte ganz im Sinne des ZK gewesen sein. Denn eine ihrer Vorzeigeortsgruppen setzte nun flugs die Idee der „Organisierung von politischen Kampagnen“ um. Die exklusive Geheimsprache der Ortsgruppe war ein Beispiel für den ideologischen Schein, der mehr und mehr der Realität wich. Die Elemente der Unzufriedenheit wollten sich nicht einstellen, und die Enttäuschung über die misslungenen Streikaktionen hinterließen aller Orts Ernüchterung. Die Posse um die Entlassung Beckers bei Adler endete mit einem Prozess am 31. August vor dem (Landes-) Arbeitsgericht in Frankfurt. So verwandelten sich schnell Siege in Niederlagen. (78)

Die verdrängte oder verleugnete Erinnerung an die traumatischen Niederlagen, in die die KPD/ML immer wieder hineinstolpern sollte, war ebenso prägend wie der regelmäßige Gang in die ausgedachten Siege, auf die in der Regel der Abstieg folgte. Keine Gruppe im Umfeld der KPD/ML war davon auszunehmen. Sie schufen auch die emotionalen Voraussetzungen für alle Abgrenzungen. Die Geschichte der KPD/ML zeigt deutlich, dass die vorgeschobenen Konflikte einer Selbstermächtigung gleich kamen. Inmitten aller Widersprüche nahm die Klaustrophobie mehr und mehr Überhand. Die panische Angst, die alle ereilte, war eine mit (unheimlichen!) Konsequenzen. Niemand war bereit, dem Gedankengut der Makulatur abzuschwören. Stattdessen häuften sich die Ergüsse von Papieren, die den Riss manifestierten. Am 18. August wurde das Untersuchungsverfahren der LKK NRW gegen das LSek NRW (nunmehr ZB, d. Vf.) aufgenommen (79), am 19. August erschien der „Offene Brief der Landesleitung NRW an die Mitglieder der Partei: Die weiße Verschwörung zerschlagen“, in dem der „Kampf gegen die rechte Dickhut-Flatow-Clique“ eröffnet wurde, der im Kern Dickhut und seine Mannen beschuldigte, „Agenten der Bourgeoisie in der Partei zu sein“ und die „Beschlüsse der LKK nicht anzuerkennen“ (80), und die ZB-„Richtlinien für den September 1970“, die am 20. August verabschiedet worden waren, sollten auch dazu beitragen, „erneut die massenfeindliche, desorganisierende Politik der 'schwarzen Linie' (KPD/ML-ZK, d. Vf.) und die rechten Abweichungen als Agentur der Sozialdemokratie in der Partei zu entlarven“. (81)

Im September 1970 begann die Ortsgruppe Freiburg der KPD/ML-ZK damit, eine Regionalzeitung für Südbaden mit dem Namen „Roter Oktober“ herauszugeben, um sich dadurch auch deutlich vom ZB abzugrenzen. (82) Etwa zur gleichen Zeit erschien das Dokument des Westberliner KJVD (Neue Einheit) „Die linkssektiererische Linie in der KPD/ML“, die seinerzeit für Aufsehen sorgte, weil es u. a. die Unione-Konzeption auf das ZK und das ZB übertrug. (83) Das Gesamtbild, das sich hier zu entfalten begann, lief darauf hinaus, über die Figur der „Parteifeinde“ zu reflektieren. Der „Kleinbürger“ war in diesen Schriften stets der andere. Mit jener ideologischen Selbstfindung machte sich z. B., hochpolitisiert, die Rote Garde Moers im September daran, über die „Feinde der Arbeiterjugend“ zu reflektieren. Deren Rhetorik und der Standpunkt, „dass man jetzt unter der Führung der Partei der Arbeiterklasse, der Kommunistischen Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten, geschlossen handeln“ müsse, experimentierte mit der bürgerlichen Sprache der Parteien und war nichts anderes als deren Werbesprache, die letztlich auch das Wort „Kapitalismus“ als deren Weltbild vereinnahmte. (84)

Dass die Weltfremdheit das ZK beherrschte, machte auch eine Indonesiendemonstration am 4. September 1970 in Frankfurt/M. deutlich. Unter der Parole „Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker vereinigt euch!“ war das Experimentierfeld Arbeiterklasse nichts anderes als der bornierte Versuch, Zugang zur proletarischen Weltrevolution zu erlangen. (85) Unter einer ähnlichen Parole demonstrierte die OG Köln der KPD/ML-ZK am 5. September gegen den indochinesischen Staatspräsidenten Suharto. (86) Die Alternativunternehmungen des ZK ließen indes nichts aus. Am 7. September meinte die OG München, dass die „Wirtschaftskrise droht“. Und sie fügte hinzu, dass die KPD/ML „den Kampf für die endgültige Beseitigung der kapitalistischen Ausbeutergesellschaft“ führen werde. (87) Erneut war es die OG Frankfurt des ZK, die sich bei Adler in einem Flugblatt am 7. September an die „klassenbewussten Arbeiter“ wandte. Dieses Spezifikum hatte schon etwas; denn die Theorie von den „Fortgeschrittensten“, die zur Partei stoßen sollten, wurde von der OG direkt umgesetzt. (88)

Mit der Konstituierung der Ortsgruppe Würzburg der KPD/ML-ZK (Organ: „Rotfront“), die der Landesverband Westberlin in seinem erstmals erschienenen „Info“ am 14. September bekannt gab (89), sollte das Gehäuse und die Ausarbeitung der „proletarischen Linie“ insgesamt gefestigt werden. Auch hier sollte die Verbindung mit dem proletarischen Klassenkampf für Zulauf und Zuwachs sorgen. Während der „Parteiarbeiter 2“ des ZB vom September/Oktober die politische Linie der Partei für unverrückbar erklärte, die durch den Terminus der „Überzeugung“ nur kaschiert worden war (90), und der JB Nr. 3 des KJVD am 15. September den Kampf gegen die „rechte Fraktion“ des LV NRW zum Anlass nahm, nun auch auf „rechte Tendenzen“ in den Leitungen des JV zu verweisen (91), wo „Ökonomismus, Empirismus und Demokratismus“ vorherrschen würden, machten die RBGs Front gegen Kapitalisten, Gewerkschaftsbosse und die SPD-Regierung.

Zündkerze 1970
Betriebszeitung bei Opel Bochum

Eine „Extra-Ausgabe“ der „Zündkerze“ für Opel Bochum vom 19. September machte in „Solidarität mit den Kollegen von GM“ und propagierte eine der alten ML-Forderungen („1 Mark mehr für alle“) (92), aus der kurze Zeit später in Anbetracht der von der ML-Bewegung breit propagierten 15%-Forderung zu diversen Metall- und Stahltarifverhandlungen „15% gleich 1 DM“ werden sollte. (93) Der Forderungenwust dürfte zu einem gewissen Tohuwabohu geführt haben, der die breite Verunsicherung überhaupt zum Ausdruck brachte. Für wen sollte man was fordern?

Deutlich brachte das ein „Extrablatt“ der „Zündkerze“ vom 23. September zum Ausdruck. Neben dem „Kampf der Knochenmühle Opel“ verstieg sich die Opel-Betriebsgruppe (RBG) zu: „EINE MARK MEHR FÜR ALLE! 180 MARK MTL. MEHR FÜR ALLE ANGESTELLTEN! ERHÖHUNG DER NACHTSCHICHTZULAGE UM 50%! 20 MARK MEHR FÜR JEDE PRODUKTIONSSCHICHT AM WOCHENENDE!“ (94) Am 24. September ging es angesichts der Krise in einem „Extra“ um ein „Volles 13. Monatsgehalt“, das im Streik durchgesetzt werden sollte. Auch deshalb sollte ein „Streikrat“ gewählt werden. (95)

Der selbstausgedachte „Ökonomismus“ sollte dafür sorgen, dass im ZK womöglich gar keine Klarheit darüber herrschte, was einzelne Ortsgruppen eigentlich fabrizierten. Die OG München gab zur Tarifrunde am 28. September ein Flugblatt heraus, das die Unternehmer lapidar als „Lohnräuber“ bezeichnete. (96) Daraus folgernd, sprach sie einen Tag später davon, dass nun die „Protest- und Warnstreiks“ zunehmen müssten. Einen konkreten Aufhänger gab es dafür nicht. Die Forderung wurde sozusagen aus dem Bauch heraus aufgestellt. (97)

Tarifverhandlungen, die jedes Jahr die besondere Kostümierung der maoistischen Gruppen einläuteten, waren ein Gebot der Stunde. Die Forderungen, die sie hier stellten, basierten in der Regel nicht etwa auf eigenen Analysen, sondern waren durch die jeweilige Gewerkschaft, Betriebsräte und Vertrauensleute vorgegeben, an die man sich (mit Abstrichen) einfach anhing. So geisterten seit 1969 „spürbare Lohnerhöhungen“, die spätestens bis 1970 in eine ca. 15%-Forderung einmünden sollten, durchs Land, die durch die sog. „Lohnleitlinien“ und der verhaltenen Lohnpolitik der Gewerkschaften in sich schon gemaßregelt waren. In vielen Betrieben wurde dazu aufgerufen, in den Streik für die berechtigten Forderungen einzutreten. Das Prinzip lautete: „ohne und gegen die Gewerkschaftsführung“, was der eigentliche zentrale Punkt der Streikvorgaben war - und nicht etwa das Patt in der sog. Friedenspflicht, was Peter Birke in „Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark“ (98) als das entscheidende Kriterium für sog. „wilde Streiks“ benennt.

Die KPD/ML, die als besonderer Vorreiter bei der 15%-Forderung bezeichnet werden kann, hatte jeweils schon früh im Jahr die Tarifrunden eingeläutet. In den Zentralorganen, Betriebszeitungen und Flugblättern sollte auch vor dem „eigentlichen Verrat der SPD-Regierung und der Gewerkschaftsführung“ gewarnt werden. In der Nr. 3/1970 der „Kölner Arbeiter-Zeitung - Überbetriebliche Arbeiterzeitung der KPD/ML-ZK und der Roten Garden“ vom 1. Oktober 1970 hieß das so: „Lasst euch von den Gewerkschaftsbonzen nicht verschaukeln“. Gegen eine durchgängige 10%-Forderung und -Abschlüssen wurde hier geschossen. Das ZK rief zu Kampfmaßnahmen auf und meinte: „Ihr müsst euch organisieren. Die KPD/ML hat den Weg der Organisierung der Arbeiter gegen die verräterische Gewerkschaftsbürokratie und gegen die Konzerne gezeigt. Sie hat aufgerufen, sich in Betriebsgruppen, in Roten Betriebsgruppen der KPD/ML, zu organisieren.“ (99) Dem „schmutzigen Geschäft der DGB-Gewerkschaften“ müsse Einhalt geboten werden. Das meinte auch der KND der KPD/ML-ZB, der sich am 3. Oktober für „die vollen 15%“ zur nächsten Metalltarifrunde aussprach und „gegen die Kapitalisten und die Gewerkschaftsbonzen“ zu Felde zog. (100)

In einer ähnlichen Sprache meinte die OG Mannheim der KPD/ML-ZK am 26. Oktober in einem Flugblatt zur MTR „GEWERKSCHAFTSFÜHRUNG: LAKAI DES KAPITALS! Die 11% in Nordrhein-Westfalen zeigen uns wieder einmal: Die Gewerkschaftsführung verrät die materiellen Interessen der Arbeiterklasse! Die Kampfbereitschaft der Kollegen in Nordrhein-Westfalen ist besonders groß: In Bochum ging die Opel-Belegschaft für die 15% auf die Straße … In vielen Betrieben legten die Kollegen zeitweise die Arbeit nieder …“

Und um diese realitätsfremden Konstruktionen weiter mit Leben zu füllen, führte das Flugblatt aus: „Um diesen Kampf siegreich führen zu können, brauchen wir eine Organisation, die die vordersten Kämpfer in ganz Westdeutschland für dieses Ziel in sich vereint, die auf der Grundlage des Marxismus, des Leninismus und der Mao-Tse-tung-Ideen die richtigen Methoden für jeden Schritt auf diesem Weg entwickeln kann … Diese Organisation ist die KPD/ML. Ihren Aufbau muss jeder klassenbewusste Arbeiter, der für den Sturz der Kapitalistenklasse kämpfen will, unterstützen. ORGANISIERT EUCH DESHALB IN DEN ROTEN BETRIEBSGRUPPEN DER KPD/ML!“ (101)

Auch „Die Presse“ der KPD/ML-ZB für Opel Bochum war am 27. Oktober ganz und gar nicht von dem 11%-Angebot begeistert. Sie meinte: „11%-ANGEBOT - GEMEINER VERRAT DER SPD-REGIERUNG UND DER GEWERKSCHAFTSBONZEN …“ (102)

Streik bei Opel 1970
Streik bei Opel 1970

Ein „Extrablatt der „Zündkerze - Betriebszeitung der Roten Opel-Betriebsgruppe (RBG) der KPD/ML-ZK“ vom 29. Oktober konstatierte: „Doch wenn wir jetzt kämpfen - unter anderem durch Streiks - dann ist das der beste Schutz …“ (103)

Zur Urabstimmung am 30. Oktober meinte die RBG der KPD/ML-ZK in der „Zündkerze“: „IM WERK DA SIND DIE RÄUBER … Die Lohn- und Tarifrunde brachte uns in NRW eine 11%-ige Lohnerhöhung. Viele Kollegen sind sauer über die Gewerkschaft; denn spätere Tarifverträge schlossen oft sehr viel höher ab. Daher haben die meisten Kollegen bei der Urabstimmung entsprechend reagiert und für 'Streik' gestimmt …“ (104)

Das Ritual der Ablehnung von Tarifabschlüssen kann als stets gleich bezeichnet werden. Es waren die Mechanismen, gegen alles zu Felde zu ziehen, was nach Verrat und Kapitalistengemeinschaft aussah, die hier zu greifen begannen. Die „Zündkerze“ erklärte in einem „Extrablatt“ am 30. Oktober, was sie von diesen, fast schon geheimbündlerischen, Abschlüssen hielt: „Wieder einmal haben uns zwei angebliche Gegner das Schauspiel 'Tarifverhandlungen' vorgeführt. Wie bei jedem Schauspiel kannten auch hier die Akteure das Ergebnis, jedoch gibt es hierbei kein Publikum, sondern nur Leidtragende. Denn immer dann, wenn sich die sogenannten Arbeitervertreter mit den Bossen des Arbeitgeberverbandes zusammensetzten, war und ist der Arbeiter der Verratene …

KOLLEGINNEN UND KOLLEGEN!

ERWARTEN WIR NICHTS VON 'UNSEREN FÜHRERN', SIE WERDEN UNS WIEDER VERSCHAUKELN! NEHMEN WIR UNSERE ANGELEGENHEITEN IN DIE EIGENEN HÄNDE! BEREITEN WIR UNS GRÜNDLICH AUF DIE AUSEINANDERSETZUNG VOR, SONST WERDEN WIR WIEDER EINMAL EINE NIEDERLAGE EINSTECKEN!“ (105)

Dass die RBG der KPD/ML-ZK sich nun nach diesem „Verrat“ auf den politischen Schachzug in den Betrieben vorbereiten wollte, um dort nun (endgültig!) den Kampf hineinzutragen, sollte ihre „1. Zentrale Arbeiterkonferenz“ vom November verdeutlichen. Das Ergebnis dieser Konferenz gipfelte u. a. in dem Willen, „den Aufbau revolutionärer Gewerkschaften voranzutreiben“. Die KPD/ML-ZK propagiere dort „Rote Betriebsgruppen der KPD/ML“ als „Keimform der revolutionären Gewerkschaften“. Diese RBG sollten „Massenorganisationen“ sein. Die Aufgaben der Roten Betriebsgruppen sollten sein: Der Kampf gegen den Dreibund: 1. Die Kapitalisten, 2. den kapitalistischen Staat und 3. gegen die reaktionären sozialfaschistischen und reformistischen Gewerkschaften …

Betriebszeitung der KPD/ML bei KHD Köln 1970
Betriebszeitung der KPD/ML bei KHD Köln 1970

Das Besondere war hier schon, dass die RGB als Form einer zukünftigen RGO betrachtet worden waren. Sie sollte noch mehr sein: „Die Roten Betriebsgruppen sind eine Unterorganisation der KPD/ML. Für sie gilt das gleiche, wie für Rote Garde und KSB/ML. Sie sollen unter Anleitung der entsprechenden Grundorganisationen der Partei stehen. Das soll nach Möglichkeit eine Betriebszelle sein …“ Hier sollte dann letztlich die „Schmiedung der Avantgarde“ stattfinden.

Auch die Einschätzung der Gewerkschaften passt hier hinein. Sie seien „eine Agentur der Bourgeoisie, die die Aufgabe hat, die Arbeiter vom Kampf für ihre Klasseninteressen abzuhalten.“ Daher solle auch „Fraktionsarbeit“ geleistet werden. (106) Die sich teilweise widersprechenden Auffassungen lagen nicht nur in der Klassenkonflikttheorie begründet, sie waren eigentlich symptomatisch für diesen Zirkelschluss. Und typische Kunstfiguren, die sich das ZK bastelte, um am Puls der Zeit horchen zu können. Sicher wurde auch aus diesem Grunde des Konflikteschürens noch im November eine „Kommissionsleiterkonferenz der KPD/ML-ZK“ bereitgestellt, die die Aufgabe hatte, die „Hauptaufgaben der Partei“ (u. a. für die Betriebe, d. Vf.) festzulegen“. (107)

Der „Rote Morgen“ Nr. 10 vom November 1970 mit der Titelüberschrift „Krisenbarometer auf Sturm“ sah in der anstürmenden Rezession der bundesdeutschen Wirtschaft, eine besondere Aufgabe der KPD/ML heranwachsen: „Die kommende Rezession stellt der KPD/ML eine äußerst wichtige Aufgabe. Sie muss aktiv und bewusst in die Krise der westdeutschen Bourgeoisie eingreifen. Sie muss der Arbeiterklasse erklären, warum der Kapitalismus immer erneut zu Krisen führt, warum unter dieser Krise immer die Arbeiter, Angestellten und ihre Frauen und Kinder zu leiden haben, dass diese Krisen nicht unvermeidlich in der Natur jeder beliebigen Wirtschaft liegen, sondern nur in der Natur der kapitalistischen Wirtschaft …“ (108)

„Aktiv und bewusst eingreifen“ war eine Zauberformel unter vielen. Suggerierte sie nämlich, dass es der KPD/ML gelingen könnte, zum Aktivposten in dieser Krise zu werden. Aus einer ähnlichen Überlegung heraus sollte die erstmals erscheinende Betriebszeitung des ZK für Hoechst in Frankfurt/M., „Rotfront“, im November in versteckter Form das ausgeklügelte Modell der RGO propagieren. (109)

In Frankfurt/M. sollte der KSB/ML angesichts der sich verschärfenden Krisensituation im November erkannt haben, dass „das Proletariat aufgrund seiner ökonomischen Existenzbedingungen im schärfsten Widerspruch zur Bourgeoisie und ihrem Staat stehe, und hat deshalb das konsequenteste Interesse, die Bourgeoisie durch die proletarische Revolution zu stürzen. Sie erkannten, dass auch hier in Deutschland die Partei des Proletariats aufgebaut werden musste, um den Imperialismus zu besiegen …“ (110)

Der Wandel des KSB/ML gehörte mit zu jenen Kuriositäten der KPD/ML-ZK. Aus einem glühenden Verehrer der „2.-Juni-Bewegung“ sollte er sein Herz für das Proletariat entdecken. Dass die Reisekader des KSB/ML nichts anderes waren als die UG der KPD/ML-ZB, wird daran deutlich, dass deren Kader u. a. von der Partei in die Betriebe geschickt wurden, um das Mäntelchen des Proletariats überzustreifen. Mangels Masse musste die KPD/ML immer wieder auf diese Bereicherung zurückgreifen, um sich einen engeren Unterstützungskreis aufzubauen.

Ein solcher dürfte bei Mannesmann in Duisburg bestanden haben. Dort gab die Mannesmann-Betriebsgruppe (RBG) der KPD/ML im November die Nr. 1 ihrer Betriebszeitung „Der Röhrenkieker“ zu den zurückliegenden Tarifabschlüssen heraus. Die BG teilte den Arbeitern auch mit, warum für die die Betriebszeitung wichtig wäre: „Der 'Röhrenkieker' soll dazu dienen, dass sich die Arbeiter bei Mannesmann organisieren und gemeinsam handeln. Deshalb, Kollegen unterstützt uns! Schreibt uns was faul ist bei Mannesmann. Hier in der Zeitung werden wir es bringen … Der Röhrenkieker wird von der Roten Betriebsgruppe der KPD/ML herausgegeben … Die Roten Betriebsgruppen der KPD/ML haben die Aufgabe, die Machenschaften der Bosse genau zu beobachten und diese den Kollegen zu erklären. Die Kollegen, die in der RBG organisiert sind, müssen den schwankenden Kollegen den Rücken stärken und sie überzeugen, um die Arbeiter im Betrieb zu vereinigen. In der Roten Betriebsgruppe werden wir Kampfmaßnahmen beraten …“ (111)

Diese hilflosen Tiraden waren für sich genommen ein getreues Abbild dieses gesamten Spektrums. Die Betriebsagitation spielte sich draußen vor den Toren ab. Und sie musste der „Klassenanalyse“ entsprechen, die fern ab in den Parteibüros, in den Kommissionen und auf den Sitzungen beraten worden war. Anders kann ein Flugblatt der OG Worms der KPD/ML-ZK aus dem November nicht gedeutet werden. Die OG stellte zur MTR fest: „GEWERKSCHAFTEN VERRATEN HINTERLISTIG DIE INTERESSEN DER ARBEITERKLASSE … DIE GEWERKSCHAFTEN BETREIBEN MIT IHREM HINTERLISTIGEN VERRAT DAS SCHMUTZIGE GESCHÄFT DER IMPERIALISTEN …“ (112)

Dass die Gewerkschaften nun auch das „schmutzige Geschäft de Imperialisten betreiben würden“, war ganz im Sinne der kommenden RGO. Doch hieran wird eher die Weltfremdheit deutlich, das Verleugnen der Realität und die Flucht in eine Kamikaze-Theorie, die sich bis zum (erbrechenden) Komplott steigern sollte: „Sie sind sogar selber Imperialisten. Sie besitzen die viertgrößte Bank in Deutschland (BfG, d. Vf.), ihnen gehört der Stinnes-Konzern, sie sind an mehreren großen, imperialistischen Konzernen beteiligt …“ (113)

Die „Dreibund-Theorie“ der KPD/ML-ZK war aus Unkenntnis geboren. Und insbesondere kam sie einer Verschwörungstheorie mit ungeheuren Ausmaßen („sie sind sogar selbst Imperialisten“) gleich. Bestand erst einmal eine solche, konnte alles, was dem entsprach, hinzugefügt werden. Ähnlich wie beim ZB waren auch die „Sozialfaschisten“ der SPD am Werk, die als Gefahr für die Arbeiterklasse und das deutsche Volk hier ihre Visitenkarte hinterließen. (114)

Hinter den Kulissen rumorte es weiter kräftig. ZK und ZB standen sich weiter unversöhnlich gegenüber. Im November wurde ein Papier der KPD/ML-ZK bekannt, das sich an „die Mitglieder der KPD/ML-ZB“ richtete und unter dem Titel „Zur Information“ verbreitet worden war. U. a. hieß es dort: „ZUR INFORMATION. Die KPD/ML und ihre Spaltung im April 1970, die 'Ezristen' und die 'schwarze Linie'

Zum Jahreswechsel 1968/69 wurde die KPD/ML gegründet. Die bei der Gründung anwesenden Genossen waren zum größeren Teil Arbeiter, die seit längerer Zeit in Zirkeln den Revisionismus bekämpft hatten. Diesen Arbeiterzirkeln schloss sich ein Teil der Avantgarde der 2.-Juni-Bewegung an, vor allem die 'Rote Garde' (RG, d. Vf.) West-Berlin. ALLE, schlechthin ALLE damals bestehenden Zirkel, die sich zum Marxismus-Leninismus und den Mao Tsetung-Ideen bekannten, waren in der Zeit vor der Gründung von dem führenden Zirkel 'Roter Morgen' (Hamburg) kontaktiert und aufgefordert worden, sich an der vorbereitenden ideologischen Auseinandersetzung zu beteiligen. Das gilt insbesondere auch für den Zirkel 'Rebell', später KAB/ML, der durch einen heute führenden Genossen auf dem Gründungsparteitag vertreten war. der Zirkel 'Rebell' schloss sich dann doch nicht an.

ALLE übrigen Zirkel, die seither 'Parteien' gründeten bzw. 'aufbauen' befanden sich damals noch auf eklektizistischen, antiautoritären bzw. trotzkistischen Positionen. Diese Zirkel mussten daher, sobald sie sich zum Marxismus-Leninismus weiterentwickelten, zunächst ernsthaft prüfen, ob die KPD/ML revisionistisch entartet war. NUR DANN war es gerechtfertigt, neue Organisationen zu gründen. Andernfalls bedeutete die leichtfertige Gründung einer neuen Konkurrenz'partei' die Spaltung.

Im Herbst 1969 kam es in der KPD/ML zu ideologischen Auseinandersetzungen. Eine rechtsopportunistische Linie zeigte sich, die den bolschewistischen Parteiaufbau von oben nach unten, angeleitet vom ZK, nicht anerkannte und bekämpfte. Diese Linie wurde von W. D. (Dickhut, d. Vf.) und einem Teil des Landesverbandes NRW vertreten. Da das ZK einen von W. D. eingebrachten Kandidatenstop für Schüler und Studenten aufhob, trat W. D. aus dem ZK zurück und bekämpfte von nun an das ZK vom Landesverband NRW aus.

Die studentische Bochumer 'Betriebsgruppe 1', die noch im Frühjahr 1969 das trotzkistische Konzept der 'Arbeiterkontrolle' propagiert hatte, war inzwischen auf eine 'Proletarische Linie' (so hieß ihr damaliges Organ) eingeschwenkt. Sie wollte eine eigene Partei aufbauen. Die KPD/ML kritisierte dieses spalterische Konzept. Daraufhin kam es zu Gesprächen zwischen 'B1' und KPD/ML. Bevor diese Gespräche wirklich ernsthaft zu Ende geführt worden waren, wurden die führenden Mitglieder der 'B1' von der Leitung der Roten Garde NRW eigenmächtig in die Rote Garde aufgenommen. Gleichzeitig brachte die Rote Garde NRW (Führer P. W. (Weinfurth, d. Vf.)) ein Pamphlet gegen das ZK der KPD/ML heraus. In diesem Pamphlet wurde das ZK beschuldigt, eine 'schwarze Linie' zu vertreten und 'ezristisch' zu sein.

Genosse Ezra G. hatte die Berliner Rote Garde zur KPD/ML gebracht. Er genoss eine gewisse Autorität bei der Roten Garde. Warum die Rote Garde NRW unter P. W. die 'schwarze Linie' als 'Ezrismus' bezeichnete und noch heute bezeichnet, wird sie vielleicht selber wissen.

Was war die 'schwarze Linie' und wie wurde die Partei gespalten?

In ihrem Pamphlet beschuldigte die Rote Garde NRW das ZK, es wolle 'nur noch im stillen Kämmerlein studieren' und 'die Praxis liquidieren'. Was war geschehen? Im Leitartikel der Januarnummer 1970 des 'Roten Morgen' waren die Bedingungen des Parteiaufbaus dargestellt worden. Stalin sagte 1921 über die erste Phase der Entwicklung einer bolschewistischen Partei: 'a) DIE VORHUT DES PROLETARAITS FÜR DEN KOMMUNISMUS GEWINNEN (d. h. Kader bilden, eine KP schaffen, Programm und Grundlagen der Taktik ausarbeiten). Propaganda als Grundform der Arbeit.' (Über die politische Strategie und Taktik der russischen Kommunisten').

Diese selbstverständliche Lehre über den Parteiaufbau wurde in dem 'Roter Morgen' Artikel vertreten. In diesem Artikel gab es allerdings einige missverständliche Formulierungen, die ohne weiteres INNERHALB der Partei kritisiert und richtiggestellt werden konnten. Die Rote Garde NRW unter P. W. schrie jedoch sofort von 'Konterrevolution' und 'schwarzer Verschwörung' und forderte zum Kampf gegen das ZK auf. Bei ihrem VÖLLIG KARRIERISTISCHEN UND PRINZIPIENLOSEN KAMPF brauchte sie Bündnispartner.

Zwei wichtige Gruppen gewann sie als Bündnispartner für sich:

1) die rechtsopportunistische W. D. Gruppe und die Landesleitung NRW,

2) die 'Betriebsgruppe 1'.

Alle drei Gruppen schlossen sich zusammen, um die Partei zu spalten. Die 'B1' wurde wie folgt 'aufgenommen', sie musste erklären, ob sie mit dem Pamphlet gegen das ZK einverstanden war. Das war die einzige Bedingung.

Das ZK und mit ihm die Mehrheit der KPD/ML (alle Landesverbände außer NRW) versuchten mit allen Mitteln, die Einheit zu erhalten. Sie versuchten, eine gründliche Diskussion über die Widersprüche nach der Methode 'Einheit-Kritik-Einheit' in Gang zu bringen. Es zeigte sich jedoch sehr bald, dass die Spalter jede Diskussion ablehnten. Eine dicke Dokumentation des ZK über die Widersprüche, die im Roten Morgen veröffentlichte Plattform sowie viele Diskussionen auf örtlicher und Landesebene wurde einfach ignoriert. Die Spalter wiederholten nur hysterisch wie tibetanische Gebetsmühlen immer wieder: 'ihr wollt im stillen Kämmerlein studieren', 'ihr wollt nur die Praxis liquidieren'. Damit meinten sie, dass das ZK und die Mehrheit der Partei die Erarbeitung eines Programms (mit Strategie und Taktik) für absolut notwendig erklärte (wie Lenin und Stalin) und dass es in der jetzigen Phase vor allem die fortgeschrittenen Arbeiter ansprechen wollte und nicht in erster Linie die 'Millionenmassen' (auch das hätte man bei Stalin nachlesen können, wenn die Spalter dazu willens gewesen wären).

So kam es im April 1970 auf einer Vollversammlung des Landesverbandes NRW zur Spaltung (es ergab sich eine knappe Mehrheit für die Spalter). Das ZK versuchte auch hier bis zum letzten, die Diskussion über die Widersprüche weiterzuführen. Die Spalter stellten jedoch den Antrag, die Diskussion zu beenden und sich zu 'dem Genossen W. D.' zu bekennen. Also: das Bekenntnis zu W. D. war der eigentliche Akt der Spaltung.

Die wichtigen Widersprüche

Die diskutierten Widersprüche waren folgende:

1) das Verhältnis Theorie/Praxis in der jetzigen Phase des Parteiaufbaus. Dabei vertrat das ZK die These von der 'Hauptseite Theorie'. Diese Ausdrucksweise geht auf Mao Tse-tungs Schrift über den Widerspruch zurück und ist völlig korrekt. Sie bedeutet, dass die Erarbeitung des Programms Vorrang hat (neben der Kaderschmiedung und der Zentralisierung der Partei, siehe Stalin). Die Spalter wollten sich die Sache aber gar nicht erklären lassen, sondern behaupteten immer nur stur und steif, dies bedeute 'die Liquidierung der Praxis'. Das bedeutet das natürlich gar nicht, wovon sich jeder überzeugen kann.

2) Verhältnis Partei/Massenorganisationen, besonders Rote Garde. Hier vertrat das ZK die korrekte Ansicht, die Rote Garde müsse der Partei unterstehen, die Spalter vertraten die spontaneistische Ansicht der 'Unabhängigkeit der Jugend'.

3) Gewerkschaftsfrage. Hier übernahmen die Spalter kritiklos die Linie 'Macht die Gewerkschaften wieder zu Kampforganisationen', die in der Phase der relativen Stabilisierung des Kapitalismus Mitte der 20er Jahre gültig war. Sie ignorierten einfach die spätere Linie Stalins, Thälmanns und der Komintern aus den Jahren nach 1928.

4) Studentenbewegung. Die Spalter um P. W. verstiegen sich zu der Ansicht, die 2.-Juni-Bewegung sei 'reaktionär und tendenziell faschistisch' gewesen und sie solle 'zur Hölle fahren', während die Partei und das ZK die Haupttendenz dieser Bewegung für revolutionär hielten.

Erste peinliche Tatsache für die Spalter: Radio Tirana ist 'ezristisch' und die Peking Rundschau vertritt eine 'schwarze Linie'.

Die 'reaktionäre' Studentenbewegung wurde in der Peking Rundschau immer als 'revolutionär' bezeichnet. Diese Tatsache erklärte P. W. wie folgt: 'Das hat eben nicht alles Mao geschrieben'. Schlimmer wurde es, als Radio Tirana mehrmals den 'ezristischen' Leitartikel aus dem Roten Morgen ausstrahlte. Die Spalter dazu: 'Die Albaner blicken da nicht durch'. Die Spalter versprachen den Chinesen und Albanern ihre Pamphlete einzusenden, dann würde man ja sehen. Allerdings veröffentlichte vor kurzem die Peking Rundschau wieder das Glückwunschtelegramm der 'schwarzen Linie' und nicht das der 'proletarischen Linie' ... Das lag vielleicht doch daran, dass die 'proletarische Linie' die Namensänderung von Rote Garde in 'KJVD' folgendermaßen erklärte: 1) 'Rot ist jeder', 2) 'Garde erinnert an Karnevalsgarde und Fronleichnamsprozession', 3) 'Die Roten Garden in China waren Studenten- und Schülerorganisationen und das wollen wir ja nicht'. Diese üble Verleumdung der Roten Garde dürften die chinesischen Genossen 'dankbar' vermerkt haben ...

Zweite peinliche Tatsache für die Spalter: sie gerieten in den Agenten-Sumpf.

Die KPD/ML lehnt es ab, Genossen (auch wenn sie eine falsche Linie vertreten) gleich als 'Agenten' und 'Konterrevolutionäre' zu 'entlarven'. Sie lehnt auch die namentliche Denunziation ab. Wenn wir trotzdem auf diesen Punkt eingehen, dann nur, weil der KJVD selbst diese schmutzige Wäsche verbreitet hat. So schrieb P. W. in einem 'Offenen Brief', dass der Vorsitzende des Landesverbandes NRW der Spalter ein Geheimagent gewesen sei. Bitte, er muss es wissen. In diesem 'Offenen Brief', in der Erwiderung der 'Landeskontrollkommission' der Spalter sowie im 'Rebell' beschuldigten sich die Spalter gegenseitig aller nur denkbaren Verbrechen. Wir wissen nicht, was daran stimmt. Eines aber wissen wir: Objektiv sind solche Entlarvungspapiere mit ihren namentlichen Denunziationen und Verrat von Interna einer Organisation WIE AGENTENPAPIERE. Niemand kann in einer solchen Organisation sicher sein, dass er nicht bespitzelt, verraten und als Agent 'entlarvt' wird. Die einfachsten Regeln der Solidarität werden von den Spaltern mit Füßen getreten.

Dritte peinliche Tatsache für die Spalter, sie bekämpfen die, die sie gestern angebetet haben.

Die Spaltung erfolgte durch ein hysterisches 'Treuebekenntnis' zu W. D., den das ZK und die Partei korrekt als Rechtsopportunisten bekämpft hatte. Es dauerte kein halbes Jahr, da warf die Spalter'partei' ihr proletarisches Idol heraus - wegen Rechtsopportunismus. Also: erst schrie sie 'Hosianna!' gegenüber W. D., dann plötzlich 'Kreuzige ihn'! Besonders interessant war nun, dass in der erklärenden Begründung des 'Zentralbüros' der Spalter lauter 'ezristische' Argumente verwendet wurden!! W. D. und seine Gruppe sei gegen den Aufbau der Partei von oben nach unten gewesen!! Aber gerade deshalb war er doch schon vom ZK bekämpft worden!! Also: Die Spaltergruppe, die opportunistisch aus drei Flügeln (einem rechtsopportunistischen um W. D., einem zentristischen um die B1, einem ehemals anarcho-spontaneistischen um P. W.) zusammengezimmert worden war, löste sich jetzt wieder auf, genauso wie die Partei es vorausgesagt hatte!

Vierte peinliche Tatsache für die Spalter: auch der P.-W.-Flügel läuft davon!

Es dauerte nicht lange, da bekamen die Genossen von der Spalter'partei' und vom KJVD einen Brief ins Haus, der angeblich von der KPD/AO geschrieben war.

Dieser Brief war höchst seltsam, er forderte die KJVD-Genossen zum Beitritt in die AO auf, da mehrere 'führende Genossen' diesen Schritt bereits vollzogen hätten. Viele Genossen hielten den Wisch für eine Provokation des Verfassungsschutzes (was übrigens möglich ist). Es stellte sich aber die Tatsache heraus, dass P. W. und mehrere andere Spalter in der Tat die Spalter'partei' verlassen hatten und angeblich zur AO gegangen sind. Wieder erwies sich die Einschätzung der KPD/ML als richtig, dass es auf die Dauer zum Bruch zwischen dem zentristischen B1-Flügel und dem O. W.-Flügel kommen würde. Nach einem halben Jahr ist der Spalter-Block zerfallen!

Fünfte peinliche Tatsache für die Spalter: ihre eigene Praxis beweist die Richtigkeit der ZK-Linie.

Nicht nur, dass die Spalter'aprtei' und der KJVD bei ihren inneren Auseinandersetzungen in vielen Punkten die ZK-Linie übernahmen (Parteiaufbau von oben nach unten, Führung des Jugendverbandes durch die Partei), sie führten auch ihre übrige 'Linie' ad absurdum. So besteht ihre Organisation zu einem großen Teil aus Schülern und Studenten (Proletarier, die gewonnen wurden, sprangen in letzter Zeit zunehmend wieder ab), obwohl sie die Studenten und Schüler als 'reaktionär' bezeichnet hatten. So zeigte ihre 'massenhafte Praxis', dass man ohne Konzept keine bleibenden Erfolge erzielen kann. So zeigte ihre 'SPD-Kampagne', dass man ohne Strategie und Taktik, d. h. ohne Programm, keine erfolgreichen politischen Kampagnen durchführen kann. So zeigte ihr Rechtsopportunismus gegenüber dem Revisionismus (gemeinsames Flugblatt mit 'Spartakus' (AMS der DKP, d. Vf.) und 'Junger Garde' (JG der IAK, d. Vf.) an der Universität Bochum), dass das dogmatische Abschreiben der Volks- und Einheitsfrontdokumente der 30er Jahre eine revolutionäre Theorie unserer konkreten Situation nicht ersetzt.

Spalter, was nun?

Immer mehr Genossen vom KJVD und der Spalter'partei' fragen sich, was eigentlich in ihrer Organisation los ist. Sie fragen, wie all die Agenten hereinkommen. Sie fragen, wie ein 'hervorragender proletarischer' Genosse plötzlich ein 'weißer Verschwörer' werden konnte. Sie fragen jetzt auch, was damals eigentlich mit den 'Ezristen' war und wie es zur Spaltung kam … (115)

„Zur Information“ enthielt alles, was von Seiten des ZK als Stand der Dinge bezeichnet werden konnte. Die angeführten Informationen ließen erkennen, dass ihm nichts entgangen war. Neben dem Gründungsmythos ging es hier noch einmal darum, sämtliche Mittel der Manipulationen des ZB zu benennen. Neben der üblichen Demagogie und der in sich verfälschen Darstellungen fiel auf, dass das ZK seine Platzherrschaft mit dem Manifest der Verführbarkeit der Genossen durch das ZB begründete. Die Widersprüchlichkeit, in die sich das ZB selbst verstrickte, war ein guter Anlass gewesen, zu erklären, dass die Spaltung der Partei von „rechten Elementen“ ausging, die sich mit „linken Opportunisten“ zusammentaten. Das Papier war geschickt aufbereitet und schlug das ZB mit seinen eigenen Waffen. Der Umsturzversuch des Landesverbandes NRW der KPD/ML war natürlich ein Machtkampf, der nichts ausließ. So war z. B. die „Agententheorie“ vom ZK nur vorgeschoben. Das ZK selbst war es (vgl. die Affäre um Hugo Lanz), das stets mit dieser humorartigen Seite der Bewegung hausieren ging, um zu beweisen, dass der Klassenfeind mit allen Mitteln arbeitet. Die Konsequenzen der Agentenbildung sind u. a. in diesem Papier nachzulesen.

Die „Rote Garde“, die höchst unglücklich dieser Entwicklung gegenüberstand, wollte den Boden durch die Bildung eines Bundessekretariats wett machen. In ihrer ersten „Organisationsmitteilung“ aus dem November musste auch sie sich notgedrungen mit jenen Fragen auseinandersetzen, die den Kern der KPD/ML berührten, die Gründung und der Parteiaufbau. Dass sie nicht mehr als das ZK zu bieten hatte, sollte nicht verwundern, denn ihre Existenz bestand in der Zwischenzeit aus den Formelkompromissen des ZK (siehe „Zur Information“). Überdies bildete die „Rote Garde“ neben dem KJVD und anderen Jugendgruppen eine der radikalsten Jugendbewegungen der damaligen BRD und sollte sich auch deshalb an die chinesischen „Roten Garden“ anlehnen. (116)

Mit politischen Attraktivitäten konnte das ZK bis Ende 1970 kaum aufwarten. Es sei denn; man würde die „Zwei Wege des westdeutschen Imperialismus“, die erstmals im „Roten Morgen“ Nr. 11/1970 aus dem Dezember veröffentlicht worden waren, dazu zählen. (117) Die sog. „Zwei-Wege-Theorie“ war zumindest ein Versuch der „Klassenanalyse“. Der „osteuropäische und der westdeutsche Weg des Imperialismus“ war eine Projektgruppenarbeit von Studenten, die der KPD/ML-ZK nahe standen. Die Crux bestand darin, mögliche politökonomische Wege zu beschreiben, die letztlich deshalb haltlos waren, weil sie nicht der Realität stand hielten und sich in Vermutungen, Unbeweglichkeiten und statischem Denken äußerte. Dass ein Teil der Partei über Untersuchungskommissionen hier eingebunden werden konnte, zeigte jene angestrengten Bemühungen des ZK, endlich einen vorwärtstreibenden Beitrag abzuliefern, der in Organisationserfolge einmünden sollte.

Die am 14. November 1970 stattfindende zweitätige Bundesjugendkonferenz der „Roten Garden“ der KPD/ML-ZK bestätigte das ZK in seinen Analysen und stellte fest: „Hauptaufgabe der Partei in der jetzigen Periode ihrer Entwicklung ist die Heranbildung der Avantgarde des Proletariats. Das ist auch die Hauptaufgabe für die RG … Die RG unterstützt den Aufbau der Partei durch direkte Unterstützung der Parteiarbeit … Zugleich muss die RG als Massenorganisation aufgebaut werden.“ (118)

Das sollte als patentierteste Lösung für die RG durchgehen. Die Formulierungen erinnerten stark an den einstigen Aufruf des Landesverbandes NRW der KPD/ML aus dem Frühjahr 1970 „Die Rote Garde aufbauen“ und an das „Statut der Roten Garde“. (119). Man könnte es auch so formulieren: Unterschiede zum Verhältnis des KJVD zum ZB waren nicht festzustellen. Sie verschwammen im nebligen Dunst der verhakelten Formulierungen um die „Avantgarde“ und der „direkten Unterstützung“ der RG beim Parteiaufbau.

Nun kann das alles unter Orientierungslosigkeit gefasst werden. Sie dürfte nicht nur in der KPD/ML verbreitet gewesen sein, sondern sie sollte überall künstlich aufrechterhalten werden, damit der Eindruck bei den Massen über die jeweilige ML-Gruppe nicht verwässert würde. Besonders auffällig war hierbei, dass die Vereinnahmung von marxistisch-politischen Themen und Fragestellungen (wie hier der Parteiaufbau, die Schmiedung der Avantgarde des Proletariats, Rolle der RG etc.) kaum noch zu überblicken war. Dass dabei die weltpolitischen Ereignisse immer in einem besonderen Interesse der maoistischen Gruppen standen, war nichts Außergewöhnliches. Außergewöhnlich dagegen war der jeweilige Hintergrund, von dem aus Politik gemacht worden war. Die Bezugsquelle von Informationen war teilweise derart fragwürdig, dass mit Recht die Frage danach gestellt werden darf: Wem wurde hier eigentlich gehuldigt, etwa in der Palästina-Frage, wo der „israelisch-zionistische Räuber“ von vornherein verurteilt worden war.

Vor diesem Hintergrund fanden in Frankfurt/M. bereits am 21. und am 25. September Palästina-Demonstrationen der KPD/ML-ZK statt, die das dortige „verbrecherische Komplott der amerikanischen und sowjetischen Imperialisten gegen die Völker“ anprangerten und dazu aufriefen: „Klassenbewusste Arbeiter organisiert euch in der KPD/ML“. (120) Ähnliches war vom KSB/ML-Hamburg zu vermelden, der am 12. Oktober eine China-Woche veranstaltete und bei dieser den proletarischen Stahl beschwor und den Kampf gegen alle weltweiten Kosmopoliten auf die Tagesordnung setzte. (121) Ein Flugblatt des KSB/ML-Hamburg vom 20. November sollte die DKP mit den Worten anprangern „Sozialismus in Worten, Opportunismus in der Tat“. Dieser legendäre Satz des Marxismus-Leninismus, der vor allem von der KP Chinas benutzt wurde, um den „Revisionismus der II. Internationale“ zu brandmarken, sollte die Fraktionskämpfe der Maoisten um ein erhebliches Niveau steigern können. Ließ er doch verlauten, dass mit dieser leninistischen Terminologie alles kritisiert werden kann, was als politisch repressiv empfunden wird. (122)

Lebender Beweis für diese Theorie dürfte auch die Auseinandersetzung zwischen dem ZAK der MLHO-Kiel mit dem ZAK der wohl unabhängigen Roten Garde Kiel gewesen sein. Ein Teil von ihr tendierte wohl eher zu der Auffassung, zunächst alle „möglichen Differenzen“ zwischen der RG und der KPD/ML auszuräumen, damit eine „ideologische Vereinheitlichung“ erreicht wird. Die Auseinandersetzungen begannen wohl um den 14. November und wurden bis zum Anfang des Jahres 1971 fortgesetzt. (123)

Die innere Verfassung vieler Gruppen über die angestauten Probleme, die die KPD/ML hinterlassen hatte, sollten nicht abreißen. Am 18. November fand vermutlich in Mannheim eine Diskussion einer Mannheimer Gruppe mit Mitgliedern des ZK der RJ/ML über die Situation in Mannheim und bundesweit statt. Die Themen, „Proletarische Linie“, der „Kampf gegen Rechts- und Linksopportunismus“, „Sozialfaschismus“, „Strähle-Gruppe“, „KPD/ML-ZB und KPD/ML-ZK“, dürften mit zu den Schlüsselbegriffen der Jahre 1970 bis 1973 gehört haben. In den Vorstellungen der Organisationen konnte man sich an diesen nur reiben und neue „proletarische Hauptquartiere“ schmieden, die hiermit gar nichts mehr zu tun haben wollten. (124)

Hier hinein fiel „Der Rotgardist“, das zentrale Propagandaorgan der RG. Die Herausgabe der Zeitschrift hatte die 4. Bundeskonferenz der Parteibeauftragten des ZK für die „Rote Garde“ am 22. November beschlossen. Es sollte auch den „ideologischen Kampf“ gegen alle Gruppen jenseits der KPD/ML verschärfen helfen. (125) Erreichen wollte das auch der KSB/ML Frankfurt in „ideologischen Erziehungsfragen“. Im Dezember 1970 gab er eine Broschüre mit dem Titel „Bürgerliche oder proletarische Linie im Erziehungswesen. Schulsystem in der VR Albanien und in der SU“ heraus. (126) Sie knüpfte an die Massenkampagnen der Rotgardisten in der VR China an, die auf „Schritt und Tritt die Parteirenegaten entlarvten“ (Originalton Radio Tirana). Hier sollte erwähnt werden, dass gerade an den Universitäten, wo der KSB/ML aktiv war, das Schulungssystem ständig ausgebaut worden war. „Das Schulungssystem verbessern“, lautete der Aufruf des KSB/ML Bochum im Dezember. Ein erstes Thema sollte sein: „Der Kampf der albanischen Marxisten-Leninisten.“ (127)

Arbeiterstreiks in Polen im Dezember 1970
Arbeiterstreiks in Polen im Dezember 1970

Der sog. „Arbeiteraufstand in Polen“ (14.-22. Dezember 1970), beim dem Lech Walesa Mitglied des illegalen Streikkomitees auf der Danziger Werft war, war für die bundesdeutschen Maoisten Grund genug, den Ausstand zu begrüßen und ihn in ihrer Propaganda breit zu unterstützen. Die dortigen Aktionen wurden pauschal auf die BRD-Verhältnisse übertragen. Meinte doch die KPD/ML-ZK im Dezember in einem Marburger Flugblatt, dass man einfach den „polnischen Werftarbeitern folgen“ solle. Mit einer ähnlichen Aufforderung sollten auch die KPD/ML-ZK und die „Rote Garde“ in Bayern am 18. Dezember vorstellig werden. (128) Das war so etwas wie eine Grundstimmung. Überall dort, wo es jenseits der maoistischen Gruppen zu Aktionen der Belegschaften kam, wurde dieser oder ein anderer Parolismus angewandt, der das Weltfremde schlechthin einmal mehr verdeutlichte.

Noch einmal sollte sich im Dezember 1970 eine der vielen „proletarischen Linien“ Gehör verschaffen. Am 5. Dezember begannen wohl in Wuppertal zweitätige Verhandlungen der KPD/ML-RW um Dickhut mit dem KAB/ML sowie Vertretern des KJVD Westberlin (KPD/ML-NE). Unter anderen soll auch der damalige Parteiaktivist Uwe Pohlmann vom LV Niedersachsen der KPD/ML-ZK daran teilgenommen haben. Bereits am ersten Tag soll es zu grundlegenden Differenzen zwischen der KPD/ML-RW und dem Landesverband Niedersachsen der KPD/ML-ZK bezüglich der Einschätzung der Aust-KPD/ML gekommen sein.

Vor allem der Vertreter des Landesverbandes Niedersachsen der KPD/ML-ZK, Uwe Pohlmann, vertat die Auffassung, „dass es außerhalb der KPD/ML keine Alternative gäbe“. Daher gäbe es auch Differenzen zum KAB/ML, „der außerhalb der KPD/ML versuche, eine marxistisch-leninistische Partei aufzubauen“. Die niedersächsischen Vertreter reisten nach dem ersten Tag der Konferenz ab. Bei den verbliebenen Organisationen soll, nach der „Geschichte der MLPD“, „Einigkeit in den wesentlichsten Fragen bestanden haben“. Sie beschlossen, ein einheitliches Organ für das ganze Bundesgebiet mit einem Redaktionskollektiv unter Beteiligung aller Gruppierungen der Marxisten-Leninisten zu schaffen. Dieses Organ sollte die „Rote Fahne“ des KAB/ML sein.

Insgesamt bestätigte der Verlauf der Tagung, dass die Gründung der KPD/ML oberste Leitmaxime für die kühne Behauptung der Unterordnung aller Gruppen unter das ZK war und dass die „proletarische Linie“ der Gruppen um den RW die Kernideologie aller zukünftigen Bemühungen sein sollte, die Partei nach dem Schema einer voluntaristischen Theorie aufzubauen. Die „Kleinbürgerlichkeit“ sollte außen vor bleiben, damit das Industrieproletariat den kommenden KABD als geschlossenen proletarischen Kampfverband akzeptierte. (129)

Zum Jahresende 1970 kam es im ganzen Bundesgebiet zu Spanien-Aktivitäten der maoistischen Gruppen. Besonders der „Burgos-Prozess“, der weltweite Aufmerksamkeit nach sich zog, sollte verschiedene Gruppen in einer sog. Aktionseinheit einbinden können. (130) In Bochum führte der LV NRW der KPD/ML-ZK, gemeinsam mit der RG, dem KSB/ML und den Roten Betriebsgruppen am 19. Dezember eine Demonstration in Bochum durch, an der sich einige der örtlichen Gruppen (u. a. auch die KPD/ML-ZB mit ihrem KJVD beteiligten). Dazu wurde eine breite Propaganda entfaltet, die u. a. auch über Betriebszeitungen („Zündkerze“, „Die Presse“ etc.) und viele Flugblätter geführt worden war. Das ZK rief in einem „Extra“ dazu auf, Franco zu stürzen („Nieder mit Franco“). Aber auch die „revolutionären Unruhen in Polen“ waren Gegenstand dieser Kampagnen. Seinerzeit lautete eine Hauptparole aller Gruppen: „NIEDER MIT FRANCO, GOMULKA UND BRANDT, ALLE MACHT IN ARBEITERHAND!“

Die eilends zusammen gezimmerten Floskeln, die sich irgendwie auch reimten, brachten aber meistens nur Unverständnis hervor. Besonders bei Opel Bochum, wo die SPD-Betriebsgruppe alle entscheidenden Ausschüsse besetzt hatte (Betriebsrat, Vertrauensleutekörper) und wo die DKP mit ihrer nicht zu unterschätzenden Betriebsgruppe um den „Roten Kadett“ stets in den Betriebsrat einzog, sollten die altbekannten Formeln doch eher überheblich wirken. Der beträchtliche Grad an Realitätsverlust und die verwirrende Agitationssprache waren schon symptomatisch für die zynischen Tiraden des Kulturrevolutionärs, der ausgezogen war, um dem Proletariat das marxistische Credo zu bringen.

Mit den ersten Aktivitäten des Vorbereitenden Komitees Dortmunder Hochschulen „Kampf dem Ausländergesetz und der politischen Unterdrückung“ zum Jahresende, in das sich auch 1971 KPD/ML-ZB und KPD/ML-ZK intensiv einhängten, endete für das ZK ein ereignisreiches Jahr. (131) Das sollte aber noch getoppt werden. Das nicht minder ereignisreiche Jahr 1971 sollte zur Fast-Auflösung der Organisation im Dezember des Jahres führen. Die Wiedergänger des ZK standen schon in den Startlöchern. Und alle warteten auf den Startschuss, der sie erneut in die Phalanx der Exklusivität der eigenen eingeschlossenen Gruppe führen sollte.

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Letzte Änderungen: Januar 2016

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