Dezember 1970:
Die Nr. 11 des 'Roten Morgens' der KPD/ML-ZK (vgl. Nov. 1970, Jan. 1971) beschäftigt sich außer mit dem Abwasserprozeß in NRW in Kleve und Caltex Raunheim in Hessen vor allem mit der Gruppe Toufan im Iran (vgl. Nov. 1970).
Im Artikel "Zwei Wege des westdeutschen Imperialismus" wird ausgeführt:"
Der ROTE MORGEN beginnt hier mit einer Reihe von Artikeln zu wichtigen Fragen der Strategie und Taktik der revolutionären proletarischen Bewegung in West- und darüber hinaus Gesamtdeutschland. Diese Artikel sollen im Geiste der Plattform des ZK der KPD/ML den bisher herrschenden Subjektivismus der westdeutschen Marxisten-Leninisten überwinden helfen. In dieser Plattform wurde festgestellt, daß dieser Subjektivismus sich in den beiden Formen des Empirismus und des Dogmatismus äußert. … Die KPD/ML hat aufgrund der Plattform Kommissionen eingerichtet, die in enger Verbindung zur gesellschaftlichen Praxis eine konkrete, dialektisch-materialistische Analyse des westdeutschen Imperialismus und seiner Widersprüche in Angriff genommen und vorangetrieben haben. Erste Resultate dieser Arbeit werden in dieser Artikelserie vorgelegt. Es handelt sich dabei um Diskussionsgrundlagen. Die Diskussion muß in der Partei und darüber hinaus in der marxistisch-leninistischen Bewegung möglichst breit und tiefgehend geführt werden. Sie dient der Erstellung einer programmatischen Erklärung der KPD/ML. Der ersteArtikel handelt von den inneren Widersprüchen unseres Hauptfeindes, der westdeutschen Monopolbourgeoisie. Es handelt sich dabei um eine sehr wichtige Frage. … Nach dem 2. Weltkrieg schien ein alter revisionistischer Traum vom 'Superimperialismus' Wirklichkeit geworden zu sein: Es sah so aus, als ob die USA zum absoluten Herrscher des ganzen imperialistischen Lagers geworden wäre. Die direkten imperialistischen Feinde der USA, Japan und Deutschland hatten eine totale Niederlage erlitten. Die beiden anderen Konkurrenten, England und Frankreich, waren durch den Krieg fast genauso geschwächt wie Deutschland und Japan. Aufgrund dieser Schwächung verloren sie in kurzer Zeit ihre Kolonien, von denen die meisten in die Einflußzone der USA hinübergezogen wurden. Noch heute meinen einige Leute, diese Lage habe sich im großen und ganzen nicht geändert. Gestützt auf Zahlen über das Eindringen amerikanischen Kapitals in Westeuropa (etwa 10%), behaupten sie, Länder wie England (Großbritannien, d.Vf.), Frankreich und Westdeutschland ('BRD', d.Vf.) seien Satelliten der USA ohne eigenen Willen. Sie bestreiten, daß es zu harten Konflikten zwischen den westeuropäischen, der amerikanischen Monopolbourgeoisie kommen könnte. Wenn das so wäre, so hätte das natürlich weitreichende Folgen für Strategie und Taktik der proletarischen Revolution."
Nach einem längeren Stalin-Zitat, der davon sprach, daß die Unvermeidlichkeit von Kriegen zwischen den kapitalistischen Ländern bestehen bleibt, heißt es weiter:"
Stalins Einschätzung bezog sich auf eine Lage, in der die SU und die osteuropäischen Länder noch gemeinsam mit China ein geschlossenes sozialistisches Lager bildeten, das dem imperialistischen Block unter Führung der USA unversöhnlich gegenüber stand. Selbst in dieser Situation hielt Stalin einen Kampf der europäischen Imperialismen und Japans gegen die USA für unvermeidlich. Nun hat sich die Situation seitdem jedoch entscheidend verändert: die SU fiel einem konterrevolutionären Putsch zum Opfer und entartete zu einer sozialimperialistischen Macht. Statt mit einem einzigen Superimperialismus haben wir es heute also mit der Doppelherrschaft zweier Superimperialismen zu tun, die sich die Welt in Einflußzonen aufgeteilt haben. Wenn Stalins Analyse richtig ist, dann muß diese neue Situation zu einer Verstärkung der Widersprüche zwischen dem westeuropäischen und japanischen Imperialismus einerseits und dem USA-Imperialismus andererseits geführt haben. Prüfen wir, ob das der Fall ist."
Der Artikel ist weiter gegliedert in die Teile:
- Die US-Herrschaft über Westeuropa,
- Der Widerstand des westeuropäischen Kapitals formiert sich,
- Die besondere Rolle der BRD in Westeuropa,
- Der Weg zur dritten Weltmacht,
- Das Geschäft mit der SU,
- Westeuropäischer und osteuropäischer Weg,
- Welche Folgerungen müssen wir ziehen,
- Unsere Taktik.
Im nächsten Abschnitt, "Die US-Herrschaft über Westeuropa", heißt es:"
Zunächst ist es notwendig, das politökonomische Wesen der US-Herrschaft über Westeuropa zu analysieren. Dazu genügt es nicht, sich auf äußerliche Erscheinungen, wie die militärische und diplomatische Herrschaft der USA zu beschränken, da diese nur Auswirkungen der zugrunde liegenden wirtschaftlichen Widersprüche sind.
Die wirtschaftliche Herrschaft der USA sollte durch hauptsächlich drei Elemente verwirklicht werden: durch Eroberung der westeuropäischen Märkte für den US-Warenexport, durch Kapitalexport nach Westeuropa sowie durch die Einbeziehung Westeuropas in die Währungszone des Dollars. Diese Ziele sollten der Preis für die 'Hilfe' im Rahmen des Marshallplans sein. Um die westeuropäischen Märkte für ihren Waren- und Kapitalexport zu öffnen, erzwangen sie die 'Liberalisierung'. Um die Dollarzone auszudehnen, organisierten sie die 'freie Konvertibilität'. In diesen Zusammenhang gehört auch, daß die Anfänge der 'europäischen Einigung' nicht nur mit Einverständnis, sondern durch direkten Druck der USA zustandekamen: die USA hatten Interesse daran, in Westeuropa eine 'Flurbereinigung' durchzuführen, um es besser wirtschaftlich erobern zu können. Nach dem bisher Gesagten ist zu erwarten, daß die Widersprüche zwischen den USA und den westeuropäischen Imperialisten auf dem Gebiet des Warenexports, des Kapitalexports und der Währung zum Ausdruck kommen müssen. Genau das ist der Fall. Die Liberalisierung des Handels war für die US-Monopole ein Instrument ihrer Beherrschung Westeuropas und Japans. Als solches Instrument funktionierte es jedoch nur solange, wie die USA mehr davon profitierten als ihre Partner. Nun hat sich das Verhältnis seit geraumer Zeit aber umgekehrt: die westeuropäischen und japanischen Exporte in die USA steigen schneller als umgekehrt die Exporte der USA in diese Länder. Damit wird das Instrument für die US-Monopole zum zweischneidigen Schwert und sie suchen es zu entschärfen. Augenblicklich diskutiert der amerikanische Kongreß über die sogenannte 'Mills-Bill', die zunächst die Branchen der Textilien, Schuhe und eines Teils der Chemie entliberalisieren würde. Die 'Mills-Bill' richtet sich vor allem gegen Japan, aber auch gegen Westeuropa".
Im Abschnitt "Der Widerstand des westeuropäischen Kapitals formiert sich", heißt es:"
Auch die amerikanische Kapitaloffensive nach Westeuropa ist schon seit langem auf Widerstand gestoßen. Servan Schreibers Bestseller 'Die amerikanische Herausforderung' war nur der ideologische Ausdruck dieses Widerstands. Am wichtigsten sind in diesem Zusammenhang augenblicklich die Bankkonzentrationen. … Das Finanzkapital ist der konzentrierte Vertreter und Vorreiter des Industriekapitals. Der amerikanische Kapitalexport ging daher Hand in Hand mit dem Ausgreifen der drei großen amerikanischen Banken (Bank of America, First National City, Chase Manhattan) nach Westeuropa. Dagegen formiert sich jetzt der Widerstand des westeuropäischen Finanzkapitals. Nicht nur die Commerzbank, auch die Deutsche Bank suchte sich Unterstützung: sie schloß sich mit der Amsterdam/Rotterdam Bank, der Midland Bank und der belgischen Societe General zusammen. Der so entstandene Komplex würde, wenn es zur Fusion käme, mit 25 Milliarden Dollar der zweitgrößte Komplex der Welt sein. Am deutlichsten zeigt sich der Kampf augenblicklich auf dem Gebiet der Währung. Offen rebelliert z.B. ein Teil der westdeutschen Bourgeoisie gegen die Herrschaft des Dollars. … Diese Tatsachen sprechen eine klare Sprache: es gibt schwerwiegende Widersprüche zwischen den USA und Westeuropa, die durch nichts anderes zu erklären sind als durch das marxistische Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung. Dieses Gesetz gilt nicht nur für die Konkurrenz der einzelnen Monopole untereinander, sondern auch für die Konkurrenz der nationalen Monopolgruppen: wegen der verschieden großen Produktivität der verschieden hohen Ausbeutungsrate (die wieder vom konkreten Stand des Klassenkampfes abhängt) und der verschieden hohen Ankaufspreise für Rohstoffe und Energie kann es niemals eine harmonische, parallele Entwicklung der Imperialismen geben.
Daraus folgen mehrere Feststellungen:
1. die westeuropäischen Monopolgruppen bilden in ihrer Hauptseite nach wie vor wirtschaftlich autonome Entscheidungszentren, die von den US-Monopolen unabhängig sind und in Konkurrenz zu ihnen stehen. (Das bedeutet, daß man den Einfluß des US-Kapitals in Westeuropa nicht überschätzen und als dominierend ansehen darf.)
2. In den 60er Jahren ist das Konkurrenzverhältnis USA-Westeuropa dadurch in eine neue Periode eingetreten, daß die USA von der Hauptseite zur Nebenseite des Widerspruchs zurückfielen, daß sie von der Offensive in die Defensive gedrängt wurden.
3. die westeuropäischen Imperialismen, besonders der westdeutsche Imperialismus, sind also in der jetzigen Periode aufsteigend und aggressiv. Sie streben nach einem 'Platz an der Sonne' und stellen den Status quo massiv infrage."
Im Abschnitt "Die besondere Rolle der BRD in Westeuropa" wird ausgeführt:"
Wir haben bisher undifferenziert Westeuropa den USA gegenübergestellt. Wir müssen nun die besondere Rolle Westdeutschlands in Westeuropa klären. Stalin behandelt in seiner Schrift von 1952 nicht nur Deutschland, sondern auch England und Frankreich: 'Nehmen wir vor allem England und Frankreich. Ohne Zweifel sind dies imperialistische Länder. Ohne Zweifel haben billige Rohstoffe und gesicherte Absatzmärkte für sie erstrangige Bedeutung. Kann man annehmen, daß sie die gegenwärtige Lage endlos dulden werden, da die Amerikaner unter dem Deckmantel der Hilfe auf der Linie des Marshallplans in die Wirtschaft Englands und Frankreichs eindringen und bestrebt sind, sie in ein Anhängsel der Wirtschaft der Vereinigten Staaten von Amerika zu verwandeln, da das amerikanische Kapital die Rohstoffe und Absatzmärkte in den englisch-französischen Kolonien an sich reißt und damit den hohen Profit der englisch-französischen Kapitalisten eine Katastrophe bereitet? Ist es nicht richtiger zu sagen, daß das kapitalistische England, und, ihm folgend, auch das kapitalistische Frankreich schließlich und endlich gezwungen sein werden, sich aus der Umarmung der USA loszureißen und einen Konflikt mit ihnen zu riskieren, um sich eine selbständige Stellung, und, natürlich, hohe Profite zu sichern?'
Sowohl Frankreich wie England haben in der Tat später versucht, sich aus den Armen der USA zu befreien (z. B. das Suez-Abenteuer). Beide waren dabei jedoch in einer ungünstigen Lage. Beide waren unfähig, allein den USA die Stirn zu bieten. Sie brauchten einen starken Bündnispartner.
Ein solcher starker Bündnispartner konnte jedoch nach Lage der Dinge nur ihr Todfeind von gestern, der deutsche Imperialismus sein.
Wenn die europäische Einigung zur Zeit Robert Schuhmanns noch von den USA als Flurbereinigung in ihrem Interesse gedacht war, so bedeutete De Gaulles Beitritt zur EWG bereits ein bewußtes Bündnis des französischen mit dem westdeutschen Imperialismus, das in seiner Tendenz nur gegen die USA gerichtet sein konnte. De Gaulle war nicht Materialist, sondern Idealist. Er glaubte durch ideelle Überlegenheit die materielle Überlegenheit Westdeutschlands ausgleichen zu können.
Das war ein Hirngespinst. Als Folge der EWG erlangte vielmehr der westdeutsche Imperialismus die Vorherrschaft. Das gilt für die Produktion in den wichtigsten Branchen (Montan, Chemie, Elektro, Automobil), das gilt folglich auch für den Warenexport, bei dem Westdeutschland überall an der Spitze steht und häufig allein etwa 50% des gesamten EWG-Exports leistet. Das gilt besonders stark auch in der Währungsfrage, wo die DM zur stabilsten und damit dominierenden Währung der EWG wurde. Die geplante 'Währungsunion' würde die DM zur Grundlage einer 'europäischen' Währung machen und dem Dollar als Leitwährung gleichberechtigt an die Seite stellen. Ähnliches gilt auch (bisher offenbar noch in geringem Maße) für die Kapitalinvestition. Der jetzt einsetzende Prozeß der Bankenkonzentration in Westeuropa wird den Schlußstrich unter diese Entwicklung ziehen; denn natürlich werden die drei deutschen 'Riesen' Deutsche Bank, Dresdner Bank und Commerzbank am Ende das Feld beherrschen.
Die 'westeuropäische Einigung' stellt sich also in ihrem Wesen als Prozeß des unter dem Druck der 'amerikanischen Herausforderung' erfolgenden Aufstiegs des westdeutschen Imperialismus zur Herrschaft über Westeuropa heraus. Dieser Prozeß selbst geht nicht glatt vonstatten, da die Widersprüche zwischen dem westdeutschen Imperialismus einerseits und dem französischen und englischen Imperialismus andererseits natürlich weiter bestehen und sich jederzeit erneut verschärfen können. Die weiteren Schritte (politische Union, Währungsunion, Atomstreitmacht) werden also nicht von selbst erfolgen. Daraus ergeben sich folgende Feststellungen:
1. Es gibt keinen Mechanismus, nach dem die westeuropäischen Staaten angeblich automatisch zusammenwachsen. 'Einigung' unter kapitalistischen Verhältnissen kann nur Sieg des Stärkeren (Westdeutschland) im Konkurrenzkampf bedeuten. Wenn es Westdeutschland nicht gelingt, sich durchzusetzen, wird es keine 'europäische Einigung' geben. 2. Die endgültige 'Einigung' Westeuropas unter Führung des westdeutschen Imperialismus wird nur durch die andauernde Schwäche Frankreichs und Englands zustandekommen. 3. Westdeutschland wird nur als Führer Westeuropas anerkannt werden, wenn es die gemeinsamen Interessen der westeuropäischen Imperialisten klar vertritt, d.h. wenn es der US-SU-Doppelherrschaft offen den Kampf ansagt."
Im Abschnitt "Der Weg zur dritten Weltmacht" heißt es weiter:"
Aus dieser Lage ergibt sich ein fundamentaler Widerspruch für die westdeutschen Monopole: sollen sie die US-SU-Herrschaft über die Welt anerkennen und sich im Einverständnis mit USA und SU möglichst günstig einzurichten suchen? Das würde wahrscheinlich bedeuten, daß sie nicht die Herren von Westeuropa werden können. Oder sollen sie sich dagegen zur Wehr setzen und zur 'unabhängigen dritten Weltmacht' aufstreben? Es handelt sich um die gleiche Frage, die Stalin schon 1952 für Westdeutschland stellte, nur konkret auf die heutige Lage angewandt. Der Weg zur 'dritten Weltmacht' ist mit erheblichen Risiken verbunden. So wie die Errichtung der Hegemonie des Bismarckreiches über Mitteleuropa schließlich den englischen und russischen Imperialismus zu Feinden des 'Neulings' machte, so droht auch jetzt wieder eine US-SU-Koalition gegen ein westdeutsch beherrschtes Westeuropa. Trotzdem hat Franz Josef Strauß in seinem Buch 'Herausforderung und Antwort' diesen Weg vertreten: 'Wir können nur Deutsche bleiben, wenn wir Europäer werden'. Übersetzt in klarer Sprache heißt das: der deutsche Imperialismus kann nur dann ein drittes Mal zur Weltmacht greifen, wenn er sich als 'europäischer' Imperialismus tarnt. Oder noch einmal mit den Worten von Strauß: 'Deutschland braucht das vereinigte Europa schon deshalb mehr als jedes andere Land. Es hat … eine ehrenvolle und seine Umwelt nicht beunruhigende Möglichkeit, seine gewaltigen Energien nutzbringend anzuwenden. Durch den Beitrag zur Bildung einer europäischen Förderation fände Deutschland ein neues Selbst.'… Strauß lehnt durchaus nicht eine Ostpolitik grundsätzlich ab. Er setzt nur die Prioritäten: erst muß Westdeutschland das Gewicht ganz Westeuropas in die Waage werfen können. … Strauß möchte also die Herrschaft über Ostmitteleuropa nicht mit der SU und als ihr Juniorpartner teilen. Er möchte sie ganz. Deshalb will er die Rechtsansprüche nicht aufgeben, sondern durch Europäisierung noch verstärken. Strauß ist der einflußreichste Sprecher für einen möglichen Weg des westdeutschen Imperialismus: er vertritt ideologisch, politisch und organisatorisch den 'westeuropäischen Weg'. Die Frage ist, welche politökonomische Basis dieser Weg besitzt. Eine eigene westeuropäische Großmacht würde eigene Rohstoff- und Energiequellen benötigen. Daran mangel es dem westdeutschen Imperialismus. Schon Hitler sah sich gezwungen, Erdölquellen in Rumänien, der Sowjetunion und Nordafrika zu erobern, woran er schließlich scheiterte. Heute ist die Lage so, daß Westdeutschland und Frankreich ihr Erdöl hauptsächlich aus Algerien, Libyen, dem Irak und dem Iran beziehen. Dabei geht besonders für Westdeutschland ein erheblicher Teil über US-Gesellschaften oder mit US-Monopolen verbundene englische Gesellschaften. Nach dem Verlust der DEA an die USA besitzt Westdeutschland überhaupt nur noch die Gelsenberg, die in Libyen Schürfrechte hat. Ein wichtiges Erdölgebiet wird in naher Zukunft ebenfalls Nigeria sein. Wenn Stalin 1952 schrieb, imperialistische Kriege zwischen den westlichen imperialistischen Mächten würden in Zukunft unvermeidlich sein, so ist diese These durch den Biafra-Krieg bestätigt worden. Nur handelt es sich dabei um einen imperialistischen Stellvertreterkrieg, in dem auf beiden Seiten Schwarze für ihre weißen Herren kämpften. Frankreich (mit ihm sympathisierte Westdeutschland) versuchte, mit Gewalt das Erdölgebiet Ostnigerias (Biafra) dem Einfluß der amerikanischen und angloamerikanischen Erdölkonzerne zu entreißen. De Gaulle hoffte, auf diese Weise mit Algerien und Biafra zwei wichtige Erdölgebiete unter seinen Einfluß zu bekommen und diese Mitgift in die Ehe mit dem westdeutschen Imperialismus einzubringen. Der Versuch schlug fehl, so daß Algerien und Libyen weiterhin die wichtigsten Energiebasen für eine Großmacht Westeuropa bleiben. Beide Gebiete stellen jedoch wankenden Boden dar: einerseits bestehen in beiden Ländern noch die Möglichkeiten einer weiteren revolutionären Entwicklung, andererseits sind die herrschenden Bourgeoisien stark von der SU abhängig (vgl. z.B. Föderation Libyen - Ägypten). Die energetische Basis stellt also zweifellos die große Schwäche der Strauß-Konzeption dar (deshalb die Pläne einer Erschließung der Erdölquellen in der Nordsee, wobei die US-Konzerne jedoch ebenfalls alles an sich zu reißen suchen, sowie die Kohle-Hydrierungspläne). Was die übrigen Rohstoffe angeht, so wären sie in Afrika und Lateinamerika weitgehend zu finden (besonders im Kongo-Kinshasa (Zaire, d.Vf.), den portugiesischen Kolonien und Südafrika (Azania, d.Vf.)). Der größte Teil Afrikas ist heute schon an die EWG assoziiert, d.h. gegenüber der EWG in einem Zustand neokolonialer Abhängigkeit. Westdeutschland hat im übrigen in Portugal und den portugiesischen Kolonien entscheidenden ökonomischen und politischen Einfluß gewonnen. Auch in den ehemaligen französischen Kolonien nimmt Westdeutschlands Einfluß rapide zu: die westdeutsche Entwicklungshilfe an Gabun z.B. hat die französische bereits eingeholt. In diesem Zusammenhang wird die große Bedeutung der Bankkonzentration nochmals klar: der Credit Lyonnais mit dem die Commerzbank 10 Prozent der **Credit Chimique, wobei der größte Teil Aktien der Compagnie Francais des Petroles (CFP), der größten französischen Erdölgesellschafen sind!"
Im Abschnitt "Das Geschäft mit der SU" wird ausgeführt:"
Im Gegensatz zu dem risikoreichen 'westeuropäischen Weg' steht die andere Möglichkeit des westdeutschen Imperialismus: die US-SU-Doppelherrschaft anzuerkennen, sich darin zu verfügen und zu versuchen 'bevorzugter Partner beider Supermächte' zu werden. Auch dieser Weg bietet Aussichten. Was die Rohstoffversorgung angeht, so scheint er sogar sicherer zu sein: denn außer dem US-Erdöl bietet sich dabei auch die SU an. Daß auch die SU ein Interesse daran hat, wird klar, wenn wir die Initiative der SU, die am Anfang der neuen Ostpolitik stand, betrachten. … (vgl. 17.3.1969, d.Vf.) Die Pipeline sollte durch die DDR führen. Nachdem die Verhandlungen einige Zeit lang gelaufen waren, einigte man sich plötzlich auf Erdgas statt auf Erdöl. … Die Erdgasleitung wird statt durch die DDR durch die CSSR laufen. Die SU ging dabei zweifellos auf westdeutsche Forderungen ein: sie verriet einmal mehr die Interessen der DDR und übte Druck auf Ulbrichts Preis für eine künftige Erdölleitung (sie kann natürlich später doch noch kommen) durch die DDR aus. Das Erdgasgeschäft mit der SU lief von westdeutscher Seite über die Ruhrgas AG, die zum größten Teil im Besitz von Esso und Shell ist. Diese Tatsache zeigt, wie US- und SU-Interessen in Europa Hand in Hand gehen. Am Röhrenhandel wurden Thyssen, Mannesmann und Hoesch beteiligt. Strauß ist (unseres Erachtens zu Recht) der Meinung, daß die Ostpolitik der Brandt-Regierung in völligem Widerspruch zu seinen Plänen steht. … In der Tat läßt es sich nicht verheimlichen, daß die Ostpolitik die Widersprüche innerhalb der westeuropäischen Monopolbourgeoisie verschärft. Schon das Röhrengeschäft stieß in Frankreich auf Kritik. Man erklärte die Summe des westdeutschen Kredits (1, 5 Mrd. DM) für zu hoch und den Zinssatz (6, 25%) für zu niedrig. Diese Widersprüche haben sich durch den Moskauer Vertrag weiter zugespitzt".
Im letzten Abschnitt "Westeuropäischer und osteuropäischer Weg" wird gesagt:"
In Deutschland wird die gegen die Ostpolitik gerichtete Linie natürlich von der CDU/CSU vertreten. … Auf der Parlamentarierversammlung der NATO in Den Haag fand sich eine Mehrheit gegen Brandts Ostpolitik. Die Analyse des CDU-Abgeordneten Blumenfeld wurde akzeptiert. Generalsekretär Brosio sprach sich gegen die von der SU vorgeschlagene europäische Sicherheitskonferenz aus. Zwei Konzeptionen stehen sich also gegenüber. Einmal der 'westeuropäische Weg': 1. Der westdeutsche Imperialismus erkennt die Doppelherrschaft von US und SU nicht an. Er versucht, in Westeuropa endgültig die Führung zu erringen und eine 'dritte Weltmacht' zu bilden. 2. Das würde bedeuten, vorrangig die 'politische Union' Westeuropas, die Währungsunion unter Führung der DM und eine 'europäische Atomstreitmacht' zu erreichen. 3. Zur Sicherung der Rohstoff- und Energiebasis müßten Nordafrika, Schwarzafrika und ein Teil Lateinamerikas in neokolonialer Abhängigkeit erhalten werden bzw. darein gebracht werden. 4. Das würde zu harten Zusammenstößen mit den USA in Nordafrika und Ostmitteleuropa führen. 5. Eine 'europäische Sicherheitskonferenz' und damit verbundene Anerkennung der DDR würde abgelehnt. Dagegen der andere 'osteuropäische Weg': 1. Der westdeutsche Imperialismus erkennt die Doppelherrschaft von US und SU an. Er verzichtet darauf, eine unabhängige 'dritte Weltmacht' zu bilden und handelt in Einklang mit US und SU. 2. Das würde bedeuten, vorrangig eine 'europäische Sicherheitskonferenz' und die damit verbundene De-facto-Anerkennung der DDR anzustreben. 3. Zur Sicherung der Rohstoff- und Energiebasis würde man sich auf die USA und auch stark auf die SU verlassen. 4. Das würde zur Verschärfung der Widersprüche zwischen Westdeutschland einerseits und Frankreich und England andererseits führen, da alle drei versuchen müßten, 'Schoßkind' der USA bzw. der SU zu sein. 5. Dementsprechend würde die 'westeuropäische Integration' gehemmt. … Es handelt sich bei diesen Wegen um eine langfristige und umfassende Alternative für den westdeutschen Imperialismus. … Das bedeutet, daß man folgendes vermeiden muß: 1. Es wäre ein Mißverständnis zu glauben, die beiden Wege müßten jederzeit in völliger Klarheit in zwei politischen Kräften, etwa CDU und SPD, gegenübertreten. In Wirklichkeit treten sie in vermischter Gestalt auf, wobei jede der beiden Kräfte versucht, auch die andere Möglichkeit mit einzubeziehen, um ihren Gegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen. … Es wäre ebenfalls ein Mißverständnis zu meinen, man müßte die beiden Fraktionen der Monopole in bestimmten Banken und Konzernen genau namhaft machen können. Auch die Banken und Konzerne haben gemischte Interessen, wobei einige mehr für den 'westeuropäischen', andere mehr für den 'osteuropäischen' Weg sprechen. … Auch hier entscheidet also die Hauptseite, d.h. die jeweils überwiegenden Interessen. … Der augenblickliche Stand der Auseinandersetzung zwischen den zwei Wegen ist durch mehrere Schritte in Richtung 'osteuropäischer Weg' gekennzeichnet:
1. Der Atomwaffensperrvertrag … . 2. Der Moskauer-Vertrag … . 3. Die de-facto-Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze im Polen-Vertrag. Diese Schritte bedeuten bisher nur quantitative Veränderungen. Eine neue Qualität träte erst durch die 'europäische Sicherheitskonferenz' ein. Dennoch haben diese Schritte die Widersprüche zwischen den zwei Fraktionen mehr und mehr verschärft. … Die 'westeuropäische' Fraktion, die zum dritten mal innerhalb von 100 Jahren den Traum von der Weltmacht träumt, muß in der Tat fürchten, ihr Zug könnte endgültig abfahren. Sie wird deshalb mit allen Mitteln versuchen, die Brandt-Regierung noch vor dem Zustandekommen eines 'europäischen Sicherheitssystems' zu stürzen. Als letzte Frage bleibt noch folgende: welche Folgerungen müssen aus der vorstehenden Analyse für Strategie und Taktik der revolutionären Partei des Proletariats gezogen werden? Zunächst, was die Strategie angeht: beide Wege sind Wege des westdeutschen Imperialismus, der westdeutschen Monopole. Keiner der beiden Wege kann deshalb der Weg der westdeutschen Arbeiterklasse sein. … Umgekehrt ist und bleibt auch die andere, 'osteuropäische' Fraktion derTodfeind des Proletariats. … Ob also 'osteuropäischer' oder 'westeuropäischer' Weg: sowohl die Feinde wie die Reserven der proletarischen Revolution bleiben die gleichen. Unterschiede würden sich nur in der Taktik ergeben. Der 'osteuropäische Weg' würde bedeuten, daß der westdeutsche Imperialismus zur wichtigsten Stütze der US-SU-Doppelherrschaft in Europa würde. … Daraus würde folgende taktische Linie für die KPD/ML folgen: 1. Hauptschlag gegen die SPD. … 2. Wichtigster zweiter Schlag gegen die CDU/CSU. … 3. Kampf dem westdeutschen Imperialismus als Hauptstütze der US-SU-Doppelherrschaft in Europa. … 4. Propagieren der Idee der doppelten, antiimperialistischen (in der BRD) und antirevisionistischen (in der DDR) proletarischen Revolution zur Lösung der sozialen und nationalen Frage in Deutschland. Der 'westeuropäische Weg' würde den erneuten Kampf des deutschen Imperialismus um die Weltmacht mit allen entsprechenden, auch kriegerischen Konsequenzen bedeuten. … Daraus würde folgende taktische Linie für die KPD/ML folgen: 1. Hauptschlag gegen die CDU/CSU. … 2. Wichtigster zweiter Schlag gegen die SPD. … 3. Kampf dem militaristischen westdeutschen Imperialismus. … 4. Propagierung der Idee einer engen Gemeinschaft revolutionärer sozialistischer Republiken Westeuropas; Verteidigung jeder ausbrechenden Revolution in Westeuropa um jeden Preis und Versuch, sie auszudehnen."
Laut C. Cordel vom Frankfurter Kampfbund/ML (FKB/ML - vgl. Okt.1972) beginnt mit diesem Artikel der Zerfall der KPD/ML-ZK:"
So wurde im Dez. 1970 mit dem Artikel 'Zwei Wege des Westdeutschen Imperialismus' und einer Reihe folgender Artikel und Thesen und einer intern diskutierten, gleichlautenden Grundsatzerklärung eine neuerliche Variante der revisionistischen Imperialismustheorie von den 'zwei Fraktionen' des Finanzkapitals aufgelegt. Durch die daraus erfolgenden inneren Auseinandersetzungen und die Kritik von außen (Rote-Fahne-Bochum-Zirkel (KPD/ML-ZB, d.Vf.)) wurde der Zerfall des 'Roten Morgen'-Zirkels eingeleitet, wodurch gleichzeitig eines der größten Bollwerke gegen eine offene, ehrliche und klassenbewußte Polemik um das Kommunistische Programm zerfiel."
Q: Klassenkampf und Programm Nr. 1, Dortmund Dez. 1972, S. 48f; KPD/ML-ZB: Zwei Wege in den Sumpf des Opportunismus I. Die Theorien des Roten Morgen, Berlin 1971, S. 126ff;Roter Morgen Nr. 11, Hamburg Dez. 1970;KPD/ML-ZK-OGL Dortmund: Kritik der OGL Dortmund an der 'Theorie' von den Zwei-Wegen des westdeutschen Imperialismus und ihrer Auswirkungen auf die Praxis der Partei, Dortmund o.J. (1971)